Kühler Wind weht über den Marktplatz von Bad Dürrenberg in Sachsen-Anhalt. Typisch kleinstädtisch wirkt der menschenleere Platz mit Asia-Imbiss, Nagelstudio und Pflegedienst im Hintergrund. Doch für Max änderte sich hier im April 2025 so gut wie alles. "Als ich vor kurzem hier saß, hat mich jemand aus dem Auto heraus eine gefühlte Ewigkeit angeschaut – und sich im Weiterfahren nach ein paar Metern noch einmal umgedreht. Da wurde mir schon mulmig."
Von Drohanrufen und Hassnachrichten erzählt der Jugendliche, der seinen Nachnamen aus Sicherheitsgründen für sich behält, und davon, dass er zwischenzeitlich sogar nicht zu Hause geschlafen hat. Die Polizei habe ihm dazu geraten. Und das alles wegen eines Videos, das nur durch Zufall entstanden ist.
"Wenn Menschen jetzt straffrei den Holocaust leugnen dürfen, ist eine Grenze erreicht"
Max
Am 21. April 2025 entscheidet sich Max, eine Rede bei der montäglich stattfindenden "Querdenker"-Demo auf dem Marktplatz in Bad Dürrenberg zu halten. Als Auslöser nennt Max einen Post in der lokalen "Querdenker"-Gruppe, in dem das Video einer Holocaust-Leugnerin geteilt wurde. Konsequenzen habe das nicht gehabt. Er entschied sich zu einer Gegenrede, ein Video seines Auftritts ging viral. "Ich dachte, wenn Menschen jetzt straffrei den Holocaust leugnen dürfen, ist eine Grenze erreicht. Dann muss ich Widerspruch leisten."
Max setzt sich am Vormittag des 21. April an seinen Schreibtisch und schreibt. Er hat Zweifel, will den Demoteilnehmenden nicht unnötig viel Aufmerksamkeit geben. Und doch macht er sich gegen 17 Uhr auf den Weg – und greift sich das Mikrofon.
Er sei nicht hier, um zu gefallen, macht Max gleich zu Beginn klar, sondern weil er Antifaschist sei und in der Schule gelernt habe, wie gefährlich es sei, wenn Geschichte verdreht werde. In seiner dreieinhalbminütigen Rede wirft Max den Teilnehmenden Realitätsverlust, eine Nähe zu rechtsaußen und Geschichtsvergessenheit vor. "Faschismus", beschreibt Max, "fängt nicht mit dem ersten Schuss an, sondern mit der ersten Verharmlosung."
Mit dem Satz spielt er an auf die kruden Vergleiche zwischen den Corona-Maßnahmen und der Judenverfolgung im Dritten Reich. Das war und ist auf "Querdenker"-Demos immer wieder zu hören. Wer in Zeiten von Hass neutral bleibe und sich nicht von Neonazis distanziere, wirft Max den Zuhörenden zum Schluss seiner Rede vor, stelle sich auf die "Seite der Täter".
Auf Instagram, wo der Teenager unter dem Namen maximal.demokratisch aktiv ist, zählt das Video mit seiner Rede mehr als 400.000 Aufrufe und über 32.000 Likes. Allein in den ersten 30 Tagen gab es gut zwei Millionen Besuche auf seinem Profil – und in den Kommentaren unter dem Video loben Menschen ihn für seinen Mut und bekunden ihre Solidarität.
In den Tagen nach seiner Rede erhält Max unzählige Solidaritätsbekundungen, unter anderem von Thüringens Ex-Ministerpräsident Bodo Ramelow (Die Linke), von den Grünen-Politikerinnen Claudia Roth und Katrin Göring-Eckardt und der sächsischen SPD-Bundestagsabgeordneten Rasha Nasr. Fast täglich bekommt er Einladungen von Organisationen, die ihn bei Veranstaltungen als Redner dabeihaben wollen.
Max war allein zur Demo gekommen - ein Video hatte er nicht geplant
Max erinnert sich noch sehr gut an das Gefühl, als er bei der "Querdenker"-Demo am Mikrofon stand: "Ich war echt nervös, und ich glaube, das war mir auch anzumerken." Im Video ist zu sehen, wie er sich immer wieder verhaspelt, weil ihn das Gelächter und die Zwischenrufe aus dem Publikum ablenken.
Max war allein zur Demo gekommen. Dass er während des Auftritts gefilmt wurde, merkte er erst, als er das Video später im Telegram-Kanal der "Querdenker"-Gruppe, dem er zu Informationszwecken beigetreten war, fand. Warum gerade dieses Video so viral gegangen ist? "Weil es in Ostdeutschland spielt", sagt Max, "und weil ich so jung bin."
Wie ist das Leben für einen 16-Jährigen in einer ostdeutschen Kleinstadt wie Bad Dürrenberg, gelegen in einem Landkreis, in dem bei der letzten Bundestagswahl 44 Prozent AfD wählten? "Jugendlichen wird hier nichts geboten", beschreibt Max die Situation. Es fehle beispielsweise an öffentlichen Treffpunkten, an Jugend- und Sozialarbeit. Und die Politik brauche sich nicht zu wundern, wenn eine ganze Generation verloren gehe und später ihr Kreuz bei der AfD mache.
Jugendliche gegen Rassismus im Saalekreis
Um dem etwas entgegenzusetzen, hat Max dieses Jahr die Gruppe "Die Kante" mitgegründet, die sich im Saalekreis gegen Rassismus positioniert und inzwischen rund 30 Mitglieder zählt. Regelmäßig treffen sich die Jugendlichen im Mehrgenerationenhaus in Merseburg, um über Politik zu diskutieren, Plakate für Demos zu bemalen oder einfach nur abzuhängen.
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Schon 2021 fängt Max an, sich einzumischen: Damals besucht er die sechste Klasse und ist gefrustet vom Corona-Dauerlockdown. Er schreibt der damaligen Bundestagsabgeordneten seines Wahlkreises, Birke Bull-Bischoff (Die Linke), und will wissen, wann er denn wieder in die Schule kann. Die Politikerin trifft sich daraufhin mit ihm auf ein Eis in Bad Dürrenberg, und zwei Monate später gehen sie zusammen auf eine Demonstration gegen die AfD. Eine Geschichte, auf die er sichtlich stolz ist - das verrät sein Lächeln, wenn er sie heute erzählt.
Max will was verändern. Als "Ex-Schüler aber dennoch ,die Jugend‘" beschreibt er sich selbst in seiner Instagram-Bio - und spielt damit auf den Vorwurf an, der seine Generation als faul und unpolitisch beschreibt. Gleichzeitig bekommt er Nachrichten, in denen es heißt, mit seiner Meinung repräsentiere er ganz sicher nicht "die Jugend", sondern stehe allein da.
Max ist inzwischen gut vernetzt mit Menschen in der Region, die sich gegen rechts stellen. Im vergangenen Jahr hat er außerdem mit Gleichgesinnten den Christopher Street Day (CSD) in Zeitz auf die Beine gestellt.
Nazisymbole säumen seinen Schulweg
Auf dem Weg vom Marktplatz zu seiner Schule zeigt Max auf ein Haus am Ende der Straße. Dort wehe regelmäßig die Reichsflagge, erzählt er. Schockiert sei er davon nicht. "Ich würde mich nicht als Ostdeutschen bezeichnen, wie das gerade viele in meiner Generation tun", sagt Max, "aber natürlich bin ich anders geprägt als Menschen aus dem Westen. Ich weiß, was es heißt, wenn rechtes Denken zum Alltag gehört und Neonazis auf den Straßen unterwegs sind."
Im Herbst will Max eine Ausbildung zum Gesundheitskaufmann beginnen. Wo genau, soll hier nicht erscheinen. Sachsen-Anhalt bleibt er aber treu – vorerst. Ab in die Großstadt? Raus aus dem Osten? Das sind Fragen, die er sich zurzeit immer wieder stellt. "Ich will nicht wissen, wie es hier nach der nächsten Bundestagswahl aussieht." Der Kurs der neuen Bundesregierung – vor allem beim Thema Migration – grusele ihn. Ob sich eigentlich auch jemand von der CDU bei ihm gemeldet hat, nachdem sein Video viral gegangen war? "Nein."
An seiner Schule dagegen habe er Zuspruch erfahren. Damit gerechnet hatte er nicht. Viele Lehrkräfte würden es sich inzwischen zweimal überlegen, ob sie sich gegen rechts äußern. Auf dem Briefkasten am Eingangstor zur Schule sind Klebespuren zu erkennen. Max zieht sein Handy aus der Hosentasche, zeigt ein Foto, auf dem vier Sticker mit Reichsflaggen zu sehen sind. Erst als er das der Schule gemeldet habe, seien die Sticker entfernt worden. Auf der Mauer des Schulneubaus ein paar Meter weiter ist das N-Wort zu lesen.
Und dann steht da "Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage" über dem Eingang. Schon seit 2012 trägt die Schule den Titel, den das gleichnamige Projekt an mehr als 4700 deutsche Institutionen vergeben hat. Mit dem Titel verpflichten sie sich, gegen Rassismus einzustehen. "Das ist so billig", sagt Max, als er auf das schwarz-weiße Schild blickt. Die Schule müsste viel mehr Präventionsarbeit leisten, um den Titel wirklich verteidigen zu können. Max erzählt von Hakenkreuzen an der Schulfassade und queerfeindlichen Aufklebern an Toilettenwänden. Er sagt: "Jeder, der nicht dumm ist, weiß, was hier abgeht." chrismon hat die Schule um Stellungnahme zu den Vorwürfen gebeten. Bis Redaktionsschluss hat sich die Schule dazu nicht geäußert.
Max erhält Drohungen
Als Max ein paar Minuten später im Supermarkt in einem großen Einkaufszentrum seinen Mate-Tee bezahlen will, schaut er auf eine Gruppe Jugendlicher an der Kasse nebenan. Einer von ihnen trägt Trainingsjacke und einen streng gezogenen, blonden Seitenscheitel. Das müsse nichts bedeuten, sagt Max. Aber es würde ihn auch nicht wundern, wenn doch.
Über links und rechts macht sich Max’ Mutter gerade weniger Gedanken, stattdessen über die Drohnachrichten, die ihr Sohn seit seiner Rede auf der "Querdenker"-Demo erhält. "Aber er hört ja nicht auf mich", sagt die 39-Jährige hinter der Kasse in einem Modegeschäft.
Max hat Verständnis für die Sorgen seiner Mutter. Aber zurückziehen will er sich nicht. "Dann hätten meine Gegner ja ihr Ziel erreicht." Eine von ihnen steht gerade keine zwei Meter von ihm entfernt an der Kasse des Klamottenladens. Mehrfach habe die Frau auf seine Posts mit rassistischen Äußerungen reagiert. Jetzt schaut sie den 16-Jährigen nicht einmal an.
Max hat Migrationshintergrund, sein Vater floh als Kurde aus dem Irak nach Deutschland. Wie er sich fühlt, wenn er hier im Einkaufszentrum oder auf den Straßen unterwegs ist, wo so viele die AfD wählen? "Unverstanden", fasst der Schüler zusammen. "Ich verlange ja nicht, dass die Leute genauso denken wie ich. Ein bisschen Verständnis dafür, dass ich als Sohn eines Kurden nicht dafür bin, dass gegen Geflüchtete gehetzt wird, wäre schon schön."
Er will sich weiter gegen Nazis einsetzen
Auf dem Weg zurück zum Marktplatz trifft Max vor einem Brillengeschäft auf eine ehemalige Mitarbeiterin seiner Grundschule. Sie weiß von seinem Auftritt auf der "Querdenker"-Demo, hat den Artikel über ihn in der "Mitteldeutschen Zeitung" gelesen, die als Erste darüber berichtet hatte. Erstaunt sei sie gewesen, "wie das alles so abgelaufen" sei, sagt die Seniorin, als sei sie sich noch nicht sicher, wie sie das alles so finde. Max’ Mut lobt sie allerdings.
Es ist inzwischen 17:30 Uhr, und der Marktplatz in Bad Dürrenberg ist so menschenleer wie zwei Stunden zuvor. Max will noch nach Merseburg fahren, wo der Kreistag des Saalekreises tagt und über einen AfD-Antrag berät, der fordert, dass vor öffentlichen Gebäuden dauerhaft die Deutschlandflagge gehisst wird. Eine Idee, die Max in Zeiten des Rechtsrucks fassungslos macht. Der Kreistag aber wird dem Antrag später mit großer Mehrheit zustimmen - auch mit Stimmen aus CDU, FDP, SPD und der Unabhängigen Bürgervereinigung.
Ob er angesichts der politischen Lage in Sachsen-Anhalt und weltweit manchmal verzweifle? "Ja", erwidert Max. Gerade die Themen Krieg und Aufrüstung würden ihm Angst machen. Und Hoffnung? Damit tue er sich momentan schwer. Positiv stimmt ihn ein Protest von 150 Menschen auf dem Marktplatz in Bad Dürrenberg gegen die "Querdenker"-Demo, zu dem er aufgerufen hatte. "Diese Stadt ist bekannt für Kurpark und Gradierwerk, aber nicht dafür, laut zu sein."
Bis zu den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt im Sommer 2026 möchte Max alles geben, um gegen die AfD zu mobilisieren, die nach aktuellen Umfragen bei 30 Prozent liegt. Fast nebenbei hat er auch noch seinen Realschulabschluss gemacht - Mitte Juni bekam er das Zeugnis in die Hand gedrückt. "Die Leute vergessen manchmal, dass ich erst 16 bin", sagt Max und lacht. "Und ich inzwischen auch."
Dieser Text erschien zuerst im Veto Magazin und wurde von der chrismon-Redaktion redaktionell bearbeitet und aktualisiert.