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Ich sitze in einem Zug auf dem Weg zwischen Leipzig und Dresden. Irgendwann steigt eine Gruppe junger Menschen ein. Sie scheinen, zumindest dem Kleidungsstil nach zu urteilen, junge Menschen wie viele andere auch zu sein, ich kann sie keinem bestimmten Milieu zuordnen.
Auf jeden Fall haben sie gute Laune. So gut, dass sie Lieder singen. Irgendwann wird es wirklich laut, denn sie fangen an miteinander immer wieder "Ost- – Ost- – Ostdeutschland" zu singen. Das Singen scheint dabei nicht zu genügen, sie beginnen im Rhythmus dazu auf und abzuspringen. Einige Orte später steigen sie aus, ohne dass Weiteres im Zug passiert ist oder sich andere dazu geäußert hätten.
Ich mag Sie, wenn sie diesen Text gelesen haben, zu einem kleinen Experiment einladen. Bitte denken Sie einmal darüber nach, wie oft Ihnen, wenn Sie womöglich in Süd-, West- oder Norddeutschland leben, ähnliches passiert ist oder sie von einer solchen Situation erfahren haben. Und gehen Sie einmal einen Schritt weiter und versuchen Sie im Internet einmal Gegenstände oder Kleidung bspw. mit der Aufschrift "Süddeutschland" zu finden. Die Suchmaschine wird Ihnen wenig bis gar keine Vorschläge zusammenstellen. Und nun wiederholen Sie das gleiche mit dem Wort "Ostdeutschland". Ihnen wird eine große Auswahl an möglichen Produkten begegnen. Diese Produkte gehören in ostdeutschen Regionen zum Alltag. Es ist zwischen Ostsee und Erzgebirge nicht ungewöhnlich, dass Menschen ein T-Shirt mit der Aufschrift "Ostdeutschland" tragen. Oder in den Fußballstadien große Banner mit diesem Wort hängen, etc.
Es gibt bei einer größeren Gruppe von Menschen ein hohes Maß an Identifikation mit Ostdeutschland. Obwohl diese Regionalisierung mehrere völlig verschiedene Bundesländer und Gegenden einfach zusammenfasst. Trotzdem reicht dies für ein "Wir"-Verständnis. Wodurch sich auch recht schnell das "die Anderen" definieren lässt.
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Als ich vor Kurzem auf einem Bahnhof eine neben einer Gruppe Kinder rauchende Person höflich bat, doch in die Rauchzone zu gehen, war ich auf ganz verschiedene Reaktionen gefasst. Aber nicht, dass ich als "Wessi" mich hier im Osten nicht einzumischen hätte und schon auch noch verstehen werde, dass hier andere Regeln gelten. Ich bin kein "Wessi"...
Ich erzähle das, um deutlich zu machen, wie diese Art der Identifikation ein Selbstbild in doppelter Perspektive bestärkt: "wir gegen die da oben" (so ist es auf der Wahlwerbung von der AfD, den Freien Sachsen, der Heimat etc. zu lesen) verstärkt zugleich den Eindruck, im "Osten" immer wieder benachteiligt und belogen zu werden. Es schafft Zusammenhalt.
Natürlich springen nicht alle Personen ein "Ostdeutschland"-T-Shirt tragend singend miteinander auf und ab. Viele wissen und verstehen, dass die Bevölkerung in Ostdeutschland vielfältig ist, vor verschiedenen Aufgaben in den gesellschaftlichen Transformationsprozessen steht und auch etliche Herausforderungen zu bewältigen sind. Sie grenzen sich nicht ab, sondern sie versuchen die Gesellschaft zu öffnen, einzuladen, zu gestalten. Für all diejenigen ist es nicht unterstützend, wenn bspw. gern wird über Sachsen gesprochen, aber nicht mit den Sachsen. "Sachsen-Bashing" ist leicht angewandt. Es hilft aber nicht "hier" vor Ort. Denn dabei wird übersehen, dass die Mehrheit keinen ausgrenzenden politischen Positionen zustimmt. Und diejenigen diejenigen, die sich engagieren und versuchen, die demokratische Gesellschaft zu stärken, werden mit diesen verallgemeinernden Zuschreibungen auch nicht unterstützt. Und es verstärkt zugleich ein Narrativ, welches das abgrenzende "Wir"-Gefühl nährt.
PS: Am kommenden Mittwoch, 19 bis 20 Uhr, können wir live über genau diese Frage miteinander diskutieren: Wie tickt Ostdeutschland oder eben die Frage von oben: Gibt es Ostdeutschland überhaupt? Meldet Euch an für unser Zoom-Live-Webinar, bei dem ich zu Gast bin, zusammen mit Lilli Fischer, frisch (wieder)gewählte CDU-Stadträtin in Erfurt. Hier geht es zur Anmeldung