chrismon: Der Bundestag hat ein milliardenschweres Schuldenpaket beschlossen. Es geht um ein sogenanntes Sondervermögen für Investitionen und Klimaschutz. Außerdem gilt die Schuldenbremse für Verteidigungsausgaben de facto nicht mehr. Sie gehören dem 21. Bundestag an, der sich am 25. März konstituiert. Sind Sie froh, dass Ihnen die Entscheidung über das Schuldenpaket erspart blieb?
Bodo Ramelow: Nein! Ich halte es für eine schweren Fehler, dass der alte Bundestag diese weitreichenden Entscheidungen beschlossen und das Grundgesetz geändert hat. Mich verärgert das sehr. Dieser Schritt ignoriert den Willen der Wählerinnen und Wähler, die am 23. Februar bei der Bundestagswahl von ihrem demokratischen Stimmrecht Gebrauch gemacht haben. Dass Union, SPD und Grüne diesen Schritt gehen, wird das Misstrauen in Politik leider verstärken.
Bodo Ramelow
Union und SPD, aber auch die Grünen argumentierten: Mit Ihnen von den Linken könne man nicht über höhere Ausgabe für Verteidigung und Rüstung verhandeln. Was erwidern Sie?
Ich bin ich gerade von der Bundeswehr mit den höchsten Ehren, die einem Zivilisten zuteilwerden können, als thüringischer Ministerpräsident verabschiedet worden, nämlich mit der großen Serenade. Ich war immer ein verlässlicher Partner der Bundeswehr und sage das auch laut und deutlich. An der Zeremonie haben auch Gregor Gysi und Dietmar Bartsch teilgenommen. Ich plädiere für einen europäischen Friedens- und Verteidigungspakt. Wir brauchen Landverteidigungsarmeen, die miteinander verpartnert sind und die garantieren, einander zu unterstützen, wenn ein Europäer angegriffen wird. Das habe ich schon gesagt, als US-Vizepräsident J.D. Vance seine Rede in München noch gar nicht gehalten und Donald Trump sein widerliches Verhalten gegenüber Selenskyj noch gar nicht gezeigt hatte. Im Kern ist das, was man jahrzehntelang in Westdeutschland den Linken immer vorgeworfen hat, nicht durch die Linken praktiziert worden, sondern durch Donald Trump und die US-Regierung vollzogen worden: Die Verlässlichkeit der Nato ist aufgekündigt.
Was schlussfolgern Sie daraus?
Wir müssen unsere europäischen Verteidigungslinien selber stärken, aber wir müssen dabei auf das Kleingedruckte achten. Aus den 100 Milliarden Euro an Sondervermögen, die nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine 2022 beschlossen wurden, sind 80 Prozent in US-amerikanische Waffensysteme geflossen. Mitten im Krieg erlebte die ukrainische Luftwaffe erst kürzlich, dass Störsysteme in F16-Kampfmaschinen abgestellt wurden, das hat die Luftabwehr geschwächt, auf Geheiß von Washington. So etwas müssen wir nicht nur zur Kenntnis nehmen, wir müssen auch Konsequenzen daraus ziehen. Wenn wir als Linke in Verhandlungen eintreten, sollte beim Thema Rüstung niemand aus meiner Partei empört den Raum verlassen, sondern Fragen stellen: Wofür müssen wir Geld ausgeben? Ich sage: für eine Land- und Verteidigungsarmee, die sich einbettet in ein europäisches Friedens- und Verteidigungssystem.
Gehören für Sie dazu auch Waffenlieferungen an die Ukraine?
Ich bin persönlich dafür, dass im Grundgesetz steht: Aus Deutschland werden aus guten Gründen überhaupt keine Waffen geliefert, nirgendwo hin. Das ist mein Petitum. Dieses Petitum kann ich immer vor mir hertragen, weil ich weiß, dass auch Russland von Rheinmetall Rüstungsgüter bezogen hat. Panzer, die im Moment in der Ukraine als Angriffspanzer fahren, werden auch von Panzerfahrern gelenkt, die auf deutschen Systemen gelernt haben. Wir sind nicht unschuldig. Als Christ bin ich zerrissen. Schwerter zu Pflugscharen? Ich bin dafür! Aber ich weiß auch, dass mich das nicht von realpolitischen Bekenntnissen entbindet.
Die da wären?
Ein überfallener Staat muss sich verteidigen können, damit nicht das Recht des Stärkeren, sondern die Stärke des Rechts gewinnt. Und dieses Recht muss durchgesetzt werden. Es ist Unrecht, was Putin und die russische Armee in der Ukraine machen.
Sie sind Christ. Inwieweit hilft Ihnen das, zu einer Haltung zu kommen?
Politisch wurde ich sozialisiert von den evangelischen Theologen Friedrich Schorlemmer und Heino Falcke, dem früheren Propst von Erfurt. Ich bin Mitglied der Mitteldeutschen Kirche, mein Bischof ist Friedrich Kramer. Er hat sich schwer unbeliebt gemacht in der evangelischen Kirche, weil er sich strikt gegen jede Form von Waffenlieferungen ausspricht. Für mich ist er ein interessanter Gesprächspartner. Ich bin nicht seiner Meinung, verstehe aber seine Haltung. Das zeigt unser aller Zerrissenheit! Wir können doch nicht einfach sagen, Waffen seien per se friedlich oder per se tödlich. Entscheidend ist, in wessen Sinne diese Waffen angewendet werden. Deswegen sagte ich, wenn ich als Ministerpräsident vor Soldatinnen und Soldaten sprach, immer: Ich wünsche euch Gottes Segen. Ich wünsche euch, dass ihr niemals in den Krieg müsst. Und ich wünsche euch, wenn ihr in einen Einsatz müsst, dass ihr gesund wiederkommt. Wir haben doch alle Zweifel. Man muss sich die Zeit nehmen, um über die Zweifel zu reden. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht in eine Form von Hurrapatriotismus geraten, in der auf Aufrüstung noch mehr Rüstung folgt. Deswegen habe ich auch Boris Pistorius kritisiert, als er den Satz sagte, wir müssten kriegstauglich werden. Das fand ich unangenehm. Hätte der Verteidigungsminister gesagt, wir müssen verteidigungsfähig sein, wäre ich bei ihm gewesen. Auch diesem Gedanken heraus habe ich mir für die Serenade der Bundeswehr auch einen ganz bestimmten Ort erbeten.
Welchen?
Ich habe mir Schloss Friedenstein in Gotha ausgesucht. "Friede ernähret, Unfriede verzehret" - das war der Leitgedanke, als der Grundstein für das Schloss vor fast 400 Jahren gelegt wurde. Der kluge Herzog Ernst der Fromme war sich damals bewusst, dass sein ganzer Staat im Dreißigjährigen Krieg zerstört worden war. Jeder vierte Europäer war tot. So etwas vergessen wir immer viel zu schnell. Diese Klugheit würde ich mir heute wünschen – Friede ernähret und Unfrieden verzehret. Deshalb habe ich die Bundeswehr ins Schloss Friedenstein gebeten. Sie ist eine Friedensarmee und keine, die auf Aggression gerichtet ist und andere Länder überfallen will.
Ihr Parteivorsitzender Jan van Aken erklärt, Russland gebe 100 Milliarden weniger für die Rüstung aus als die europäischen Nato-Staaten. Daraus leitet er ab, dass es nicht schlecht stehe um unsere Verteidigungsfähigkeit. Folgen Sie dieser Argumentation?
Ja. Aber als Linke weisen wir auch auf die Notwendigkeit hin, dass es den Umbau der Bundeswehr geben muss. Ein Beispiel: In Thüringen gibt es genügend Bundesgeld, um die Kasernen zu modernisieren. Aber es scheitert an Bauingenieuren. Weil Fachkräfte fehlen, haben wir viel zu viele Aufgaben auf Halde liegen, die nicht abgearbeitet werden. In der Kaserne in Bad Frankenhausen stehen die teuersten Panzer der Welt. Es gibt auch eine Eisenbahnlinie, um sie zu Übungen zu transportieren. Aber jedes Mal müssen die Leopard-Panzer durch die Orte fahren, weil eine Zubringerbrücke zur Bahn nicht in Ordnung ist. So etwas macht mich wahnsinnig. Brauchen wir also noch mehr Geld? Oder müssen wir das Geld erst einmal besser einsetzen?
Die Themen Rüstung, Verteidigung und militärische Unterstützung für die Ukraine werden auf dem nächsten Parteitag Ihrer Partei eine große Rolle spielen. Wofür werden Sie werben?
Wir müssen deutlich machen, dass wir zur Armee stehen. Und dass die Bundeswehr das Gewaltmonopol des Staates legitim verkörpert. Dieses Gewaltmonopol muss so ausgestattet sein, dass die Bundeswehr handlungsfähig ist. Schon 2015 habe ich in einem Interview gesagt: Ich habe etwas dagegen, der Bundeswehr Gewehre zu geben, die nicht funktionieren; U-Boote zu liefern, die nicht tauchen und Hubschrauber, die nicht fliegen.
Hätten die Linken im Bundestag dem Schuldenpaket zugestimmt, wären Sie diesem Wunsch einen Schritt näher gekommen.
Es geht um Milliardensummen, aber die Abgeordneten konnten die Konsequenzen, die aus der Entscheidung für ein Schuldenpaket erwachsen, unmöglich in all der Eile und in allen Facetten durchdringen. Ich war zehn Jahre lang Ministerpräsident von Thüringen, saß in vielen Ministerpräsidentenkonferenzen – ich weiß, wie Vorlagen entstehen und welche Fragen man stellen muss. Es gibt mehr Fragezeichen als Antworten. Wie sichern wir eine kontinuierliche Infrastrukturfinanzierung, die unser Land dringend braucht? Wie schaffen wir Verlässlichkeit? Die Menschen haben zurecht die Hoffnung, dass dieses riesengroße Paket ihnen im Alltag Verbesserungen bringt. Aber ich kann als Politiker und Abgeordneter des 21. Bundestages nicht sagen kann, ob das wirklich passiert.
Haben Sie ein Beispiel für Ihre Bedenken?
Ich will ein Detail nennen: Viele Menschen hoffen, man könne aus den 500 Milliarden auch Geld für Bildung organisieren. Aber das stimmt nicht. Das Kooperationsverbot aus dem Grundgesetz steht nicht auf der Tagesordnung, Bundesgeld darf nicht in Schulen gelenkt werden, denn Bildungspolitik ist Ländersache. Es sei denn, man beschließt Sondermaßnahmen wie das Digitalpaket. Ein solches Paket für die Bildung steht aber heute nicht zur Debatte. Der Wahlkampf bestand fast nur aus einem Thema - Migration. Aber über Maßnahmen, wie man die Integration stärkt, wurde zu wenig diskutiert. So ist zum Beispiel die kontinuierliche Finanzierung von Sprachkindergärten nicht gesichert. Die Koalition aus CDU und BSW in Thüringen stellt die Finanzierung für solche Sprachkindergärten gerade ein. Dieses Beispiel zeigt: Eine Verständigung darüber, was unser Land nun wirklich braucht, kann man nicht im Schnellgang erreichen. Im neuen Bundestag, dem ich angehören werde, wäre die Zweidrittelmehrheit zur Reform der Schuldenbremse mit den Stimmen der Linken erreichbar gewesen. Das hatten wir allen demokratischen Fraktionen angeboten.
Eine erste Fassung dieses Interviews erschien am 18. März 2025, vor der Bundestagsdebatte. Wir haben das Gespräch aktualisiert.