Rekrutierung im Ukraine-Krieg
Männer an die Front?
Die ukrainischen Streitkräfte brauchen dringend neue Soldaten. Ukrainer erzählen, warum sie sich der Armee angeschlossen haben, sich vor der Einberufung verstecken oder desertiert sind
Männer an die Front?
Ukrainischer Soldat bei einer Übung am 13. Februar 2025 in der Nähe von Pokrovsk, außerhalb Donezk
Anadolu/Getty Images
19.02.2025
6Min

Der Krieg hat Dushnila verändert. "Da gibt es keinen Platz für Romantisierung", sagt der ukrainische Soldat, der nur mit seinem Rufnamen ("Langweiler") genannt werden möchte. Seine Eindrücke von der Front sind frisch, erst vor zwei Monaten hat sich der 35-Jährige aus Odessa freiwillig der Armee angeschlossen.

"Die Realität ist brutal", sagt er nach seinen ersten Einsätzen bei einem Gespräch in einem Café in seiner Heimatstadt. Wegen einer Gehirnerschütterung durch einen russischen Angriff ist er krankgeschrieben. Den Entschluss, sein ziviles Leben aufzugeben, hat Dushnila kurzfristig getroffen. "Wir brauchen Leute an der Front und ich wollte meinen Freund ersetzen, der im Kampf gefallen ist", sagt er. Als Drohnenpilot kämpft er für die 11. Brigade der Nationalgarde.

"Du sagst dir selbst, es ist der Feind. Aber es sind trotzdem Menschen, die wir töten"

Dushnila, hat sich freiwillig gemeldet

"Ich fliege vor allem Drohnen, die ich aus der Ich-Perspektive steuere. Das heißt: Ich töte Menschen", sagt er und beschreibt, wie er die Drohnen auf angreifende Gegner lenkt. Wie sein Team entscheiden muss, ob sie Verwundete ausbluten lassen oder noch eine Drohne hinterherschicken – und trotzdem nur wenige Minuten später die nächste russische Gruppe nachkommt. Fleischwolf-Angriff nennt er das. "Die Russen laufen einfach in den Tod", sagt er.

Drohnenpilot Dushnila fliegt seit 2 Monaten tödliche Einsätze

Die ersten Wochen im Einsatz haben Spuren hinterlassen. Dushnila lächelt nie, wirkt müde und ausgezehrt. "Du sagst dir selbst, es ist der Feind. Aber es sind trotzdem Menschen, die wir töten", sagt er.

Für die ukrainische Armee sind neue Soldaten wie Dushnila enorm wichtig. Mehr als tausend Tage russischen Großangriffs auf das Land haben auf beiden Seiten viele Opfer gefordert. Nato-Generalsekretär Mark Rutte sprach Ende 2024 von mehr als 600 000 getöteten oder verwundeten Soldaten auf russischer Seite. Auf ukrainischer Seite berichtete das "Wall Street Journal" von 480 000 Getöteten und Verwundeten.

Ende vergangenen Jahres hat die Regierung in Kiew beschlossen, die Armee um weitere 160 000 Soldaten aufzustocken. Zusätzlich zu den bereits eine Million Männern, die das Land seit Februar 2022 mobilisiert hat. Die Verbündeten drängen darauf, dass die Altersgrenze gesenkt wird. Bislang gilt die Ausreisesperre für Männer im wehrfähigen Alter zwischen 18 und 60 Jahren. Zum Wehrdienst können sie nach aktueller Gesetzeslage erst ab 25 Jahren verpflichtet werden.

Die USA raten angesichts des Personalmangels dazu, das Rekrutierungsalter auf 18 Jahre zu senken. Doch die Regierung in Kiew zögert: Sie will nicht der jungen Generation ihre Zukunft nehmen – und hohe Verluste in der oft noch kinderlosen Altersgruppe verhindern.

Angesichts des Personalmangels der Armee plädiert Dushnila trotzdem für diesen Schritt. Es ginge immer mehr um neue Technologien, Drohnen spielten eine immer größere Rolle. "Deshalb brauchen wir Menschen, die technologisch versierter sind, eben die jüngere Generation", sagt er. Das Durchschnittsalter ukrainischer Soldaten liegt Medienberichten zufolge bei über 40 Jahren.

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Bisher entfaltet das Rekrutierungsverfahren nicht die erhoffte Wirkung. Stattdessen geriet das "Territoriale Zentrum für Rekrutierung und soziale Unterstützung" (TZK) wiederholt für seine Praktiken in die Kritik. Männer erhalten bei Kontrollen auf offener Straße, bei Konzertbesuchen oder in öffentlichen Verkehrsmitteln ihre Einberufungsbescheide. Videos zeigen, wie Männer von uniformierten Soldaten in Transporter gezogen werden. Zwischen der Einberufung, der medizinischen Untersuchung und der Entsendung in die Grundausbildung vergehen teilweise nur wenige Stunden bis Tage.

Ein Werbeplakat der 3. Sturmbrigade wirbt um Rekruten in der Stadt Lwiw

Solche Vorfälle haben bereits mehrfach zu spontanen Protesten geführt, bei denen die TZK-Mitarbeiter dazu gedrängt wurden, die mitgenommenen Zivilisten freizulassen. Djuly (Name geändert) traut sich deshalb kaum noch aus seiner Wohnung in der Innenstadt von Odessa. "Patrouillen fahren durch die Straßen. Die Innenstadt war bislang relativ sicher, aber auch das hat sich geändert", sagt der 36-Jährige. Für das Gespräch lädt er zu sich in die Wohnung, ein Zimmer mit Bett, Küchenzeile und Schreibtisch. Djuly trägt am Nachmittag noch seinen Schlafanzug, die Haare sind zerzaust, er wirkt nervös.

Als die russische Armee 2022 in Richtung Mykolajiw vorrückte, flüchtete er aus seiner Heimatstadt nach Odessa. "In den ersten Tagen wollte ich der Armee beitreten", erzählt er. Doch Berichte über die schlechte Behandlung von Soldaten hätten ihn abgeschreckt. Erst im Dezember 2024 erregte ein Fall große Aufmerksamkeit: Ein Zugführer soll Soldaten misshandelt, bedroht und Geld von ihnen gefordert haben. Auf einem Bild ist zu sehen, wie ein Soldat an ein Kreuz gefesselt ist. "Als ich erfahren habe, was wirklich mit den Soldaten passiert, habe ich meine Meinung geändert", sagt er.

Unter Zivilisten wie Djuly wecken solche Berichte große Sorgen, was ihnen in der Armee droht – zusätzlich zu den Gefahren an der Front. Durch seinen Job am heimischen Computer kann er sich zumindest den Kontrollen entziehen und seinen Lebensunterhalt mit Kunden aus dem Ausland verdienen. Selbst den Gang zum Supermarkt um die Ecke meide er inzwischen und bestelle sich lieber bei Restaurants Essen nach Hause. "Ich schätze mein Leben", sagt Djuly. Er hoffe einfach, dass der Krieg bald endet: "Bis dahin sitze ich hier und warte."

Aus einem anderen Grund ist Ilja (Name geändert) nach Odessa gezogen, ein kräftiger Typ. Nach zweieinhalb Jahren als Zugführer an der Front bei Charkiw ist der 25-Jährige desertiert – wie laut Medienberichten mehr als 100 000 andere. Er ist regelmäßig in einer Kneipe anzutreffen. Auch heute. Er trinkt viel. "Ich konnte das nicht mehr ertragen", sagt Ilja.

Nur wenige Tage vor seinem Fronturlaub sei er mit seinem Zug nach Selydowe in der Oblast Donezk beordert worden. "Ich habe gesagt: Nein, ich werde meine Jungs nicht in den Tod führen." 15 Kameraden seines Zuges seien später dort gefallen. Ende Oktober 2024 meldete Russland die Einnahme der Stadt. Nun versucht Ilja, sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser zu halten. "Ich will keine Menschen mehr töten", sagt er. Vor dem Krieg studierte er Medizin: "Ich wollte Menschen heilen, nicht ihre Leben nehmen." Er zückt sein Handy und spielt ein Video ab, wie er ausgelassen singt. "Siehst du: ,Das ist, was aus mir hätte werden sollen‘", sagt er verbittert.

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Auch Drohnenpilot Dushnila bewertet die bisherigen Praktiken der Armee kritisch: "Die Mobilmachung muss korrekt ablaufen." Die Regierung hat mittlerweile reagiert. Die Grundausbildung wurde von 30 auf 45 Tage verlängert, seit Oktober 2024 dürfen die Brigaden selbst neue Soldaten rekrutieren.

Oleksiy Tarasenko wirbt Männer für die Front an

Im Erdgeschoss des Kiewer Rathauses ist dafür ein neues Großraumbüro eingerichtet. Oleksiy Tarasenko, 28 Jahr alt, wirbt für die 5. Sturmbrigade neues Personal an und beantwortet die Fragen potenzieller Kandidaten. Beim Treffen trägt er Zivil. "Wir arbeiten wie ein Headhunter-Unternehmen mit Internetmarketing und Werbung", sagt Tarasenko. In den sozialen Medien rufen sie zum Beitritt in die Brigade auf, auf der eigenen Internetseite schreiben sie offene Positionen aus und erklären das neue Verfahren: Bei den Brigaden kann man sich seine Position aussuchen, vorausgesetzt, die berufliche Qualifikation entspricht den Anforderungen. Diese Gewissheit hat man nicht, wenn man den Einberufungsbescheid durch das TZK erhält. "Wir können gar nicht alle Anrufe beantworten", sagt Tarasenko. Bereits im ersten Monat habe er 50 neue Soldaten für seine Brigade gewonnen. Das reiche zwar noch nicht, um den Bedarf von mindestens 100 Rekruten im Monat zu decken. Allerdings sei die Lücke kleiner als beim bisherigen Einberufungsverfahren.

Yan Borusevych kehrte freiwillig aus der Schweiz in die Ukraine zurück - um zu kämpfen

Yan absolviert Anfang Dezember 2024 seine Grundausbildung in der Westukraine. Nach fast drei Jahren Krieg ist er aus der Schweiz in sein Heimatland zurückgekehrt. "Ich habe es nicht mehr ausgehalten", schreibt er per Chat.

Seine ersten Eindrücke von der Grundausbildung beschreibt Yan als positiv. Unter den Rekruten erlebe er eine hohe Moral und den Willen, zum Sieg beizutragen. "Ich sehe einen starken Teamgeist und eine gute Organisation", sagt er.

Ob Yan diesen Optimismus auch nach seinen ersten Kampfeinsätzen behält? Die Erfahrungen von Soldaten wie Dushnila oder Ilja lassen daran zweifeln. Trotzdem ist immer wieder zu hören: "Wir halten durch." Den Ukrainern bleibt vorerst kaum eine andere Wahl.

Dieser Artikel erschien zuerst im Februar 2025 im JS-Magazin, dem Evangelischen Magazin für junge Soldaten und Soldatinnen.

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