Es ist ein sonniger Augusttag, der Debora Brümmers Leben für immer verändert. Nur weiß sie das zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Sie ist mit ein paar Freundinnen und Freunden zur Burg Plesse in der Nähe von Göttingen gewandert. Oben angekommen, beobachten sie die Trauung eines schwulen Paares. Die beiden Männer haben Tränen in den Augen, als sie sich das Eheversprechen geben.
In diesem Moment zerbricht etwas in Brümmers Leben. "Ich habe mich gefragt, wie es sein kann, dass Gott diese Ehe nicht segnet, nur weil es zwei Männer sind?", erzählt die 24-jährige Lehramtsstudentin. An diesem Nachmittag beginnt sie, sich vom evangelikalen Glauben ihrer Kindheit und Jugend abzuwenden. Wie die Steine einer Burg im Laufe der Jahrhunderte bröckelt er Stück für Stück.
Was Debora Brümmer in den folgenden Jahren erlebt, nennt sie selbst inzwischen "Dekonstruktion". Ein Begriff, der auf den französisch-jüdischen Philosophen Jacques Derrida zurückgeht und in den vergangenen Jahren unter Evangelikalen Karriere gemacht hat. Dekonstruktion beschreibt hier den Prozess, bisherige Glaubenslehren auseinanderzunehmen, um zu erkennen, was einen geprägt hat – und sie dann neu zusammenzusetzen.
Das gibt es schon länger in kritischen, ehemals evangelikalen Kreisen, die sich auch "Postevangelikale" nennen. "Früher waren das Evangelikale, die aus den Kirchen rausgegangen sind, weil sie bestimmte Dinge nicht mehr glauben konnten", sagt Tobias Faix, Rektor der christlichen CVJM-Hochschule in Kassel und selbst postevangelikal. Er forscht seit langem zu diesem Thema. "Diese Leute waren früher einfach weg. Heute machen sie sich in den sozialen Medien bemerkbar." Und noch etwas ist anders: Einige der klassisch-evangelikalen und pietistischen Gemeinden setzen sich inzwischen selbst mit der Dekonstruktion auseinander. Andere sehr konservative Gemeinden dagegen verteufeln alles, was damit zu tun hat. Und mittendrin die Postevangelikalen.
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