Ruhe finden
Stille will gelernt sein
Viele Menschen sind Stille nicht mehr gewohnt. Dabei steckt in der Stille eine heilsame, nahezu spirituelle Kraft, sagt der Freiburger Forscher Eric Pfeifer. Doch auch die Stille kann zu viel werden
Eine Frau genießt die Stille im Winter
The Good Brigade/GettyImages
Privat
23.12.2025
6Min

chrismon: Herr Pfeifer, "Stille Nacht, heilige Nacht" ist eines der bekanntesten Weihnachtslieder. Gerade jetzt sehnen sich viele Menschen nach Stille und Ruhe. Wenn sie dann aber eintritt, hält man sie oft nur schwer aus. Woran liegt das?

Eric Pfeifer: Da beschreiben Sie tatsächlich ein Phänomen, das sich um diese Jahreszeit gut beobachten lässt. Das ganze Jahr über prasselt der Trubel mit Arbeit und Familie auf uns ein. Zu Weihnachten sehnt man sich dann nach Ruhe. Das ist, als würde man auf der Autobahn bei 200 km/h die Handbremse ziehen. Das geht nicht gut aus.

Was bräuchte es stattdessen?

Damit es mit einer stillen Heiligen Nacht klappt, sollte ich am besten schon Ende November damit anfangen, den Übergang zu gestalten. Hier und da einen Abend oder einen ganzen Tag freihalten.

KH Freiburg/Eric Pfeifer

Eric Pfeifer

Eric Pfeifer ist Professor für Ästhetik und Kommunikation an der Katholischen Hochschule Freiburg. Sein besonderes Interesse gilt der Erforschung von Stille, woraus unter anderem die "Freiburger Stille-Studien" hervorgegangen sind. In seiner Privatpraxis verbindet er Psychotherapie, Musiktherapie und naturgestützte Gesundheitsförderung.

Das klingt, als müsste man Stille üben.

Ja. Wir leben in einer Zeit, in der der Lärm zunimmt und uns als Menschen gesundheitlich schadet. Die Stille ist uns über viele Jahre hinweg abhandengekommen. Wir müssen uns ihr langsam wieder annähern.

Und wie?

Ein erster Schritt ist es, vermehrt darüber zu sprechen, dass es nicht nur die unangenehme Stille gibt, sondern auch eine, die uns guttut. Der nächste Schritt: Suchen Sie den stillsten Ort an Ihrem Arbeitsplatz, in Ihrer Wohnung. Verweilen Sie dort für ein paar Minuten. Oder verzichten Sie bei Ihrem Abendspaziergang auf die Kopfhörer. Es geht darum, die Stille in unsere Alltagsrituale einfließen zu lassen. Aber nicht mit dem Anspruch "Ich muss", sondern eher: "Ich darf erkunden, was für mich eine gute Stille sein könnte."

Sie forschen seit 2015 im Rahmen der "Freiburger Stille-Studien" zum Thema. In einer Veröffentlichung schreiben Sie, dass Menschen, die sich mit der Welt verbunden fühlen, Stille besser aushalten. Ist das Voraussetzung oder Ergebnis?

Das bedingt sich gegenseitig. Stille fördert die Naturverbundenheit, und diese ist wiederum ein Ausdruck dessen, dass ich gut mit Stille umgehen kann. Stille hat deshalb auch Potenzial für den Umgang mit der Klimakrise und der Gesundheitskrise. In beiden Krisen geht es um eine verletzte Beziehung, die Mensch-Natur-Beziehung und die Mensch-Mensch-Beziehung.

Ich bin bisher davon ausgegangen, dass sich Beziehungen heilen lassen, indem man miteinander spricht. Nicht durch Stille.

Vielleicht kennen Sie das, wenn Sie mit einer Person, die Sie sehr schätzen, spazieren gehen und es dann im Verlauf des Gesprächs eine längere Pause gibt. Es ist aber nicht so, dass sich diese unangenehm anfühlt. Gerade in dieser Stille fühlen Sie sich sehr verbunden.

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Und dann gibt es Momente, da ist Stille im Gespräch richtig unangenehm. Woher kommt dieser Unterschied?

Das hängt vom Kontext ab. Vielleicht kommt Ihr Gegenüber mit Stille gar nicht gut klar. Sie spüren das, und das sorgt für Unruhe. Dann wird es eine unangenehme Stille. Oder aber Sie wissen erst gar nicht, wie Sie das Gespräch anfangen sollen. Dann ist diese Stille voller Spannung, voller Ungewissheit. Anders, wenn Sie frisch in einer Beziehung sind: Dann kann es die bezauberndste Stille sein, die Ihnen im Leben je begegnet ist.

Eine Studie aus den USA kam zu dem Ergebnis, dass Stille als negativ empfunden wird, wenn man die Alternative hat, etwas anderes zu tun. Woran liegt es, dass wir die Stille meiden, obwohl sie uns guttut?

Weil wir sie nicht mehr kennen. Es fehlen die Vorbilder. Andererseits hat gar nicht jeder die Möglichkeit der Stille. Menschen, die in sozial schwächeren Stadtteilen leben, sind viel mehr Lärm ausgesetzt als andere. Darunter leidet die Gesundheit. Der norwegische Autor Erling Kagge spricht deshalb von Stille als Luxusgut unserer Zeit.

Was macht Stille so heilsam?

In unseren Studien haben wir herausgefunden, dass bereits wenige Minuten Stille ausreichen, damit sich die Teilnehmenden signifikant besser und entspannter fühlen. Sie spüren keine Langeweile, die Zeitwahrnehmung verändert sich, negatives Gedankenkreisen nimmt deutlich ab, und die Menschen erleben sich stärker im Hier und Jetzt. Diese negative Form des Gedankenkreisens geht als Symptom häufig einher mit Depressionen oder Angststörungen. Mitunter könnte sich Stille also auch in diesem Zusammenhang als wirksam erweisen. In unseren Studien haben wir mit sechseinhalb Minuten Stille gearbeitet. Wenn sich die Teilnehmenden in der Natur befanden, dann waren die positiven Ergebnisse noch ausgeprägter.

Jetzt haben wir schon eine Weile über Stille gesprochen. Aber was ist Stille überhaupt? Der von Ihnen zitierte Erling Kagge schreibt: "After all, silence is not nothing. It is better to say that from something comes something." Ist Stille also mehr als die Abwesenheit von Klang?

Ja, unbedingt. Absolute Stille ist für uns Menschen nicht verfügbar. Selbst im schalldichtesten Raum hören Sie irgendwann Ihr eigenes Blut rauschen. Wir können also höchstens von einer relativen Stille sprechen. Wir bräuchten – wie im Englischen mit "silences" – einen Plural: die Stillen. Das könnte die Menschen entlasten, die verzweifeln, weil sie nie das Gefühl haben, die absolute Stille zu erreichen. Wenn ich weiß, dass diese nicht existiert, kann ich leichter eine der vielen relativen Stillen finden, die zu mir passt.

"Ich werde oft gefragt: Wie viel Stille brauche ich?"

Eric Pfeifer

Zwischen welchen Formen der Stille unterscheiden Sie?

Da wären zum Beispiel die äußere und die innere Stille. Wenn Sie in Kontemplation geübt sind, dann finden Sie auch trotz einer Baustelle nebenan zu einer inneren Stille. Wenn Sie in ein neues Land ziehen und die Sprache nicht sprechen, ist diese Sprachohnmacht auch eine Form der Stille. Oder wenn Eltern ihre Kinder durch Schweigen strafen.

In der neuen Staffel des BR-Podcasts "Seelenfänger" geht es um Schweige-Retreats, in denen über Tage hinweg stundenlang meditiert wird. Manche erleben während ihres Aufenthalts Horrortrips: Angstzustände, Panikattacken, Psychosen. Wie passt das damit zusammen, dass Stille heilen soll?

Wenn jemand in einer akuten Krise steckt, einen Neuanfang braucht und sich für solch einen "radikalen" Retreat entscheidet, kann es sein, dass Körper, Psyche und Seele einfach nicht hinterherkommen. Da wäre es gut, erst einmal langsam anzufangen. Das ist wie bei Medikamenten. Die Höchstdosis muss nicht zwangsläufig die wirksamste sein, weil das System das gar nicht vertragen könnte. Ich werde oft gefragt: Wie viel Stille brauche ich?

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"Stille lässt sich nicht von einem Arzt verschreiben"

Eric Pfeifer

Das wäre meine nächste Frage gewesen.

Dahinter steckt oft Selbstoptimierung. Wie viel Stille muss ich in meinen Alltag integrieren, um meinen ungesunden Lebensstil weiterführen zu können? So funktioniert das nicht. Stille lässt sich nicht von einem Arzt verschreiben, und dann ist alles gut. Wenn Sie erfahrener Meditationsexperte sind, dann waren Sie das nicht von Anfang an, sondern sind es geworden. So verhält sich das auch mit der Stille.

Stille spielt im Christentum eine wichtige Rolle. Im Alten Testament begegnet Gott dem Propheten Elia im Säuseln des Windes. Und die Wüstenväter suchten die Stille der Wüste. Wie kommt es, dass Stille so sehr mit dem Heiligen verbunden ist?

Ich frage mich, ob nicht sogar im Exodus, in der Wanderung durch die Wüste, eine besondere Stille präsent ist. Diese Geschichte spielt nicht im Gebirge, wo es Wiesen gibt. Es war eine schwierige Zeit für das Volk Israel. Die Wüste hat den Übergang ermöglicht. Es war für die Wandlung nötig, durch die Stille der Wüste hindurchzugehen. Das kann auch eine innere Wüste sein. Stille hat eine nährende Qualität, durch die wir neue, gute Entscheidungen finden können. Es geht darum, sich das zuzumuten, durch diese Dürre durchzuwandern und am Ende mit einer Entscheidung dazustehen.

Also eine Stille, aus der Neues entsteht.

Stille ist nicht Nichts. Aus Stille kann etwas entstehen. Da sind wir wieder bei Erling Kagge. Vermutlich wussten das die Menschen schon vor Jahrtausenden. Darum ist die Stille in den Religionen so ein wichtiges Element. Einmal das Seelenheil und dann die "seelische Heilung" – also einerseits das Spirituelle und andererseits das Medizinische. Beides fügt sich gut zusammen.

Sie sprachen vorhin von "nährender Stille". Was meinen Sie damit?

Wenn wir von "stillen" sprechen, dann denken wir an eine Mutter, die ihr Kind nährt. Wenn Sie das Wort im etymologischen Duden nachschlagen, steht dort: einen Säugling, der vor Hunger schreit, durch Nähren zum Schweigen bringen. Ich glaube, die Stille kann uns ebenfalls nähren.

Also uns Kraft geben?

Zum Beispiel. Aber auch Ideen schenken. Stille ist Nahrung für die Seele.

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