Ich erinnere mich noch gut, wie ich als Jugendlicher mit einem Freund Computer gespielt hab. Irgendwann kam meine Mutter ins Zimmer und sagte das, was alle Eltern sagen, wenn Sommer ist: "Ab nach draußen, es ist so schönes Wetter." Und was haben wir gemacht? Den Laptop mit nach draußen genommen und dort weitergespielt. Ein Hoch auf das Verlängerungskabel! Den dänischen Maler Vilhelm Hammershøi (1864 bis 1916) hätte meine Mutter bestimmt am liebsten auch an die frische Luft geschickt, denn ein Großteil seiner Bilder zeigt Innenräume, sogenannte Interieurs. Sein Schaffen spielte sich fast ausschließlich drinnen ab.
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Hammershøi scheint auf Privatsphäre nicht viel Wert gelegt zu haben, im Titel seines Bildes nannte er ganz locker seine Adresse: "Interieur mit junger Frau in Rückenansicht. Strandgade 30". In dieser Wohnung in Kopenhagen malte der Künstler jeden Winkel, er lebte dort von 1898 bis 1909. Es gibt so viele Ansichten von dieser Wohnung, besser könnte man eine Anzeige bei Immoscout nicht bebildern. Das Markenzeichen von Vilhelm Hammershøi ist die Stille. Seine Bilder sind ein Sehnsuchtsort, eine Ruheoase. Manche Leute meditieren zur Entspannung mit Klangschalen, andere stellen sich vor einen Hammershøi. Oft stand dem Künstler seine Frau Ida Ilsted Modell, stets sieht man sie von hinten. Sie wirkt dabei so entrückt, manchmal würde man vor den Gemälden am liebsten flüstern, um sie nicht aus ihren Gedanken zu reißen.
Das Bild aus der Strandgade 30 ist geschickt aufgebaut und klar strukturiert. Die Leisten an der Wand, der gemalte Bilderrahmen und das Möbel bilden einen streng geometrischen Aufbau. Über der Szene liegt ein gräulicher Schleier, als würde man durch ein ungeputztes Fenster schauen. Hammershøi sagte zur Farbigkeit seiner Werke: "Ich bin zutiefst überzeugt, dass ein Bild den besten Effekt hat im farblichen Sinne, je weniger Farben es hat." Seine Kunst verkörpert das Motto: Weniger ist mehr. Es ist ein Gegenpol zu unserer hektischen Gegenwart. Vilhelm Hammershøis Werk ist das Ruheabteil in einem ICE voller Junggesellenabschiede.
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Die Kunst von Hammershøi ist introvertiert und er selbst soll es auch gewesen sein. Zeitgenossen beschrieben ihn als verschlossen und menschenscheu, ein schweigsamer Charakter. Ehrlich gesagt, hätte es mich bei seiner Kunst aber auch gewundert, wenn er ein abgedrehter Partyhengst gewesen wäre. Hammershøi war zu Lebzeiten nicht unbekannt. Rainer Maria Rilke und auch der Künstler Emil Nolde waren Fans seiner Kunst. Aber nach seinem Tod geriet Hammershøis Schaffen weitestgehend in Vergessenheit und wurde erst in den 1990er Jahren wiederentdeckt. Zum Glück!
Wenn man krank oder gelangweilt ist, gibt es manchmal diesen abwesenden Blick, mit dem man durch das eigene Zimmer streift. Plötzlich sieht man ungeahnte Muster in der Tapete oder ein faszinierendes Lichtspiel auf dem Boden. Diesen Blick hat Hammershøi kultiviert. Er achtete auf das Unscheinbare, das uns im Alltag sonst entgeht. So heißt eines seiner Bilder passenderweise "Tanz der Staubkörner". Man muss nicht um die ganze Welt reisen, um das Besondere zu finden. Manchmal befindet es sich in den eigenen vier Wänden.