Vilhelm Hammershøi
Bitte flüstern!
Sonst wird die "junge Frau in Rückenansicht" noch aus ihren Gedanken gerissen. Die Stille ist das Markenzeichen des Malers Vilhelm Hammershøi
Vilhelm Hammershøi, "Interieur mit junger Frau in Rückenansicht. Strandgade 30"
Randers Kunstmuseum
Pierre Jarawan
30.09.2024

Ich erinnere mich noch gut, wie ich als Jugendlicher mit einem Freund Computer gespielt hab. Irgendwann kam meine ­Mutter ins Zimmer und sagte das, was alle Eltern sagen, wenn Sommer ist: "Ab nach draußen, es ist so schönes Wetter." Und was haben wir gemacht? Den Laptop mit nach draußen genommen und dort weiterge­spielt. Ein Hoch auf das Verlängerungskabel! Den ­dänischen Maler Vilhelm Hammershøi (1864 bis 1916) hätte meine ­Mutter bestimmt am liebsten auch an die ­frische Luft geschickt, denn ein Großteil seiner Bilder zeigt Innenräume, sogenannte Interieurs. Sein ­Schaffen spielte sich fast ausschließlich ­drinnen ab.

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Hammershøi scheint auf Privatsphäre nicht viel Wert gelegt zu ­haben, im Titel seines Bildes nannte er ganz locker seine Adresse: "Interieur mit junger Frau in Rückenansicht. Strandgade 30". In dieser Wohnung in Kopenhagen malte der Künstler ­jeden Winkel, er lebte dort von 1898 bis 1909. Es gibt so viele Ansichten von dieser Wohnung, besser könnte man eine Anzeige bei Immoscout nicht bebildern. Das Markenzeichen von Vilhelm Hammershøi ist die Stille. Seine ­Bilder sind ein Sehnsuchtsort, eine Ruhe­oase. Manche Leute meditieren zur Entspannung mit Klangschalen, andere stellen sich vor einen ­Hammershøi. Oft stand dem Künstler seine Frau Ida Ilsted Modell, stets sieht man sie von hinten. Sie wirkt dabei so entrückt, manchmal würde man vor den Gemälden am liebsten flüstern, um sie nicht aus ihren Gedanken zu reißen.

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Das Bild aus der Strandgade 30 ist geschickt aufgebaut und klar strukturiert. Die Leisten an der Wand, der gemalte Bilderrahmen und das Möbel bilden einen streng geometrischen Aufbau. Über der Szene liegt ein gräulicher Schleier, als ­würde man durch ein ungeputztes Fenster schauen. Hammershøi sagte zur Farbigkeit seiner Werke: "Ich bin zutiefst überzeugt, dass ein Bild den bes­ten Effekt hat im farblichen Sinne, je weniger Farben es hat." Seine Kunst verkörpert das Motto: Weniger ist mehr. Es ist ein Gegenpol zu unserer hektischen Gegenwart. Vilhelm Hammershøis Werk ist das Ruheabteil in einem ICE voller Junggesellenabschiede.

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Die Kunst von Hammershøi ist introvertiert und er selbst soll es auch gewesen sein. Zeitgenossen beschrieben ihn als verschlossen und menschenscheu, ein schweigsamer Charakter. Ehrlich gesagt, hätte es mich bei seiner Kunst aber auch gewundert, wenn er ein abgedrehter Partyhengst gewesen wäre. ­Hammershøi war zu Lebzeiten nicht unbekannt. Rainer Maria Rilke und auch der Künstler Emil Nolde waren Fans seiner Kunst. Aber nach seinem Tod geriet Hammershøis Schaffen weitestgehend in Vergessenheit und wurde erst in den 1990er Jahren ­wiederentdeckt. Zum Glück!

Wenn man krank oder gelangweilt ist, gibt es manchmal diesen abwesenden Blick, mit dem man durch das eigene Zimmer streift. Plötzlich sieht man ungeahnte Muster in der Tapete oder ein faszinierendes Lichtspiel auf dem Boden. ­Diesen Blick hat Hammershøi kultiviert. Er ­achtete auf das Unscheinbare, das uns im Alltag sonst entgeht. So heißt eines seiner Bilder passenderweise "Tanz der Staubkörner". Man muss nicht um die ganze Welt reisen, um das Besondere zu finden. Manchmal befindet es sich in den eigenen vier Wänden.

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Liebe Redaktion,

über den Beitrag “Bitte flüstern!” freue ich mich sehr, denn ich bin ein Fan von Vilhelm Hammershöi. Leider fehlt in dem Text das wichtigste: W O kann man in Deutschland Werke von ihm sehen??? Dass dänische Museen nicht aufgelistet werden, verstehe ich - niemand wird auf Grund Ihres Beitrags nach Dänemark fahren!! Aber wo hängt etwas von ihm in Deutschland? Was haben Ihre Leser von der Präsentation, wenn sie nicht erfahren, wo solche Bilder hängen?

Ich wüsste in Deutschland nur ein einziges Museum zu nennen und dort auch nur ein einziges Bild: Das Städel Museum in Frankfurt/M. Wenn ich mit der Bahn über Frankfurt unterwegs war, pflegte ich dort früher (jetzt bin ich zum Reisen zu alt, leider) die Fahrt zu unterbrechen, extra um dieses Bild zu besuchen. Vor dem saß ich dann lange.
Aber es muss ja auch anderswo Werke von Hammershöi geben. Wo hängt die abgebildete “junge Frau in Rückenansicht”?

Mit freundlichem Gruß Thelma v. Freymann

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1.10.2024
Sehr geehrter Herr Schwerdtfeger,
Ihrem schönen Artikel über V. Hammershoi im “Chrismon“ vom Oktober möchte ich noch einige Beobachtungen hinzufügen.
Sie stellen die Bilder als “Sehnsuchtsort“, als “Ruheoase“ zum Meditieren vor. Meine Freundin jedoch floh aus einer Ausstellung: die Bilder deprimierten sie. Und ich selbst fühle mich von ihnen beunruhigt, und das liegt, glaube ich, an vielen Unklarheiten: Das Bild “Interieur mit junger Frau in Rückenansicht“ z.B. halte ich nicht für “klar strukturiert“. Beim genauen Hinsehen fühle ich mich irritiert z.B. von der Porzellandose. Worauf steht sie? Das für sie zu schmale Brett endet geheimnisvoll vor der jungen Frau. Es findet keine Fortsetzung rechts von ihr. Auch das braune Möbelstück (?) vor ihr ist nicht zu deuten. Auch auf anderen seiner Bilder gibt es solche Unbestimmtheitsstellen, die man erst nicht wahrnimmt, die “Stille“ verkörpern, die aber irgendwie eine ganz sanft unheimliche Atmosphäre verströmen, so z.B. haben Türen oft keine Klinke; sie können nicht aufgemacht werden, da ein Möbelstück (Tisch oder Stuhl) zu nahe davorsteht; Bilder hängen an der Wand, aber die Rahmen sind leer; die Perspektive (z.B. bei Zimmerfluchten) ist oft unklar usw.
Man kann Hammershoi, den ich sehr liebe, unterschiedlich wahrnehmen. Schön, dass er in dieser Zeitschrift vorgestellt wird.
Mit freundlichen Grüßen
Hilde Fieguth