Am 23. Juli 2025 berichtete die Tagesschau vom zehnjährigen Mädchen Rahaf im Gaza-Streifen. Ein abgemagerter Körper, sprichwörtlich Haut und Knochen, unfähig zu sprechen und sich zu bewegen. Der Vater zeigte dem Reporter-Team alte Fotos von ihr, da lächelte Rahaf noch, konnte stehen und laufen.
Der Tagesschau-Bericht spart den Kontext der schwer erträglichen Bilder nicht aus: Das Mädchen leide am Rett-Syndrom, einer seltenen Entwicklungsstörung. Brot könne Rahaf deshalb kaum verdauen, sie brauche Obst und Gemüse – aber das gebe es auf dem Markt schon längst nicht mehr. Auch die nötigen Medikamente fehlen, weil Israel monatelang Hilfslieferungen blockierte. Rahaf bleibt nichts übrig, als langsam und leise zu verhungern.
So ist es überall, wo eine Hungersnot herrscht, ob in Gaza, im Jemen oder im Kongo: Wenn Essen und Medikamente fehlen, trifft es zuallererst die Schwachen. Kinder und Alte, vor allem aber Menschen mit Vorerkrankungen. Laut UN hungern inzwischen so gut wie alle Bewohner von Gaza, aber am erkennbarsten ist das bei Kindern wie Rahaf.
Niemand wäre nach dem Tagesschau-Bericht auf die Idee gekommen zu behaupten, Rahafs Zustand habe nichts mit der Hungersnot zu tun. Doch nicht alle Medien sind so sorgfältig vorgegangen wie die Tagesschau. Am 24. und 25. Juli zeigten etwa die "New York Times" und der italienische "Fatto Quotidiano" Bilder von abgemagerten Kindern aus Gaza, ohne den Kontext ihrer Vorerkrankungen zu nennen. Der "Fatto Quotidiano" zeigte offenbar sogar ein drei Monate altes Foto von einem Kind, das bereits zur Behandlung nach Italien ausgeflogen worden war. Das entspricht nicht journalistischen Standards.
Handelt es sich um "Gaza-Fake-Bilder"?
Den journalistischen Fauxpas griffen einige Medien und Redakteure auf, um die Hungersnot als ganze kleinzureden – so etwa in der "Bild"-Zeitung, wo von "angeblich hungernden Kindern" die Rede ist. Das Portal für Journalisten newsroom.de sprach von "Gaza-Fake-Bildern", und selbst der Deutsche Journalistenverband (DJV) fühlte sich bemüßigt, Stellung gegen die "Manipulationsversuche mit Hilfe von professionell erstellten Pressefotos" zu beziehen: Der Zustand der Kinder sei "offenbar nicht auf die Hungersnot in Gaza zurückzuführen".
Eine solche Behauptung ist nach Ansicht Cihan Çelik, Lungenfacharzt und Kolumnist der "F.A.Z.", jedoch schlicht falsch, denn nur in einem Hungergebiet sähen Kinder mit Entwicklungsstörungen wie atmende Skelette aus. Schon immer hätten Hilfsorganisationen und internationale Medien solche Bilder verwendet, ohne sich dem Vorwurf auszusetzen, sie würden die Lage "überdramatisieren". Çelik spricht vom gezielten Versuch, den Blick von der politischen Verantwortung auf Einzelschicksale zu lenken.
"Wie konntet ihr dermaßen verrohen?"
Angesichts dessen sollten wir uns fragen, wie es überhaupt so weit kommen konnte: Offenbar sind einige Beobachter im Falle Gaza erst dann bereit, eine menschengemachte schwere Hungersnot anzuerkennen, wenn nicht "nur" schwerbehinderte, sondern auch die gesunden Kinder zu Hunderttausenden zu Tode hungern. Erst jetzt, da die Hamas Bilder von abgemagerten Geiseln zeigte, soll schnell über Hilfe nachgedacht werden. Man möchte solche Kolleginnen und Kollegen, die Menschenleben offensichtlich mit zweierlei Maß messen, am liebsten am Kragen packen und fragen: Wie konntet ihr dermaßen verrohen?
Die Aufregung um die Bilder aus Gaza erinnert dabei auf frappante Weise an ein anderes berühmtes Kriegsbild, das lange als Manipulation diffamiert wurde. Es stammt aus dem Bosnienkrieg im Jahr 1992 und zeigt Fikret Alić, einen abgemagerten bosnischen Muslim mit nacktem Oberkörper hinter Stacheldraht. Es stand ikonisch für das Leid der bosnischen Opfer des serbischen Nationalismus. 1997 behauptete dann ein deutscher Journalist, dass der Mann vor einem Stacheldraht und nicht dahinter gestanden haben soll.
Auch in jenem Fall wurden die Manipulationsvorwürfe umgehend vereinnahmt. Serbische Konzentrationslager? Eine Lüge. Serbische Kriegsverbrechen? Maßlos übertrieben. Die Zeitschrift "Living Marxism" führte den ausgemergelten Zustand des Mannes auf eine Tuberkulose-Erkrankung zurück – dasselbe Drehbuch wie in Gaza. Nach dem Foto von 1992 folgten noch drei blutige Jahre voller Vertreibungen und unzähligen Toten, die man verhindern hätte können, einschließlich des Massakers in Srebrenica, das heute international als Genozid anerkannt ist.