Demenzpflege
Kronkorken gegen die Einsamkeit
Franks Leben ist hart. 10 Jahre pflegte er seine Mutter und verlor sich dabei selbst. Irgendwann fing er an, Kronkorken zu sammeln - und wurde damit auf Instagram ein Star. Er schöpft neue Hoffnung. Kann das gutgehen?
Frank sitzt in seinem Keller, den er "das Bernsteinzimmer des kleinen Mannes" nennt und singt zur Musik
Mario Wezel
privat
Elias Holzknecht
24.12.2025
17Min

Drei Mal ist Frank schon durch die Hölle gegangen, sagt er. Und nach der Nachricht, die er heute an seinem 58. Geburtstag bekommen hat, muss er es vielleicht noch ein viertes Mal tun.

Jetzt sitzt er in seinem Keller, den er "das Bernsteinzimmer des kleinen Mannes" nennt. Auf seinem Kopf ein Hut, der so dicht mit Coca-Cola-Kronkorken beklebt ist, dass man nicht mehr viel vom Stoff sieht. Es sind die gleichen, die auch seine Weste zieren. Sie ist ihm ein wenig zu klein und spannt im Sitzen. Mit den Armen fuchtelt er durch die Luft wie ein Dirigent und summt. Aus den Boxen dröhnt Andreas Martin, der davon singt, dass er den Mond heute Nacht mit einem goldenen Lasso für eine Frau einfangen will.

Ein Laser gleitet im Takt zur Musik über die Kellerwände und tastet jeden der Kronkorken einzeln ab, mit denen Frank die Wände und Böden in den vergangenen Monaten vollgeklebt hat. Über 150.000 Stück, befestigt mit 800 Kilo Kleber. Im Nebenzimmer 400 verklebte Tütensuppen und im Flur über 3000 Zigarettenschachteln. Fein säuberlich, akkurat und symmetrisch. Kaum ein Zentimeter Tapete ist mehr zu sehen.

Im Oktober 2024 lud er das erste Video seines Kellers im Internet hoch. Mittlerweile schauen ihm über 27.000 Instagram-Follower beim Kleben zu. Auf TikTok hat eines seiner Videos über 18 Millionen Views. Die Kronkorken schenken ihm Restaurants, Kioske und Follower, die ihn unterstützen wollen. Die Menschen dort finden ihn lustig. Einige staunen über das Kronkorkenzimmer. Viele denken, ihm sei langweilig, er sei ein Säufer oder wolle berühmt werden. Aber das stimmt nicht.

Das Haus hat er zusammen mit seinen Geschwistern von seinen Eltern geerbt. Jetzt wohnt er dort allein

Franks Keller ist mehr. Man könnte sagen, er ist das Abbild seines stürmischen Lebens. Wenn ihm alles zu viel wird, wenn die Fetzen der Vergangenheit ihn nicht schlafen lassen und ihm die Luft abschnüren, dann geht er runter in den Keller und klebt. Er ist seine Zuflucht, wenn sich in seinen Gedanken wieder einmal die Hölle auftut.

Es sind Momente, in denen er daran denken muss, wie die Jungs aus seiner Klasse ihn wegen seiner Augen hänselten. Noch heute schielt er wegen einer Muskelschwäche am Innenauge.

An das Saufen muss er denken, als er die Einsamkeit nicht mehr ertrug. Bestimmt einen Kasten Holsten, eine Flasche Korn. Jeden Tag.

Und er denkt an seine Frau. Die schönste, die er jemals gesehen hat. Die einzige, die er jemals richtig liebte. Für die er mit dem Trinken aufhörte. Und daran, wie er dann ihren leblosen Körper fand: Herzfehler. Da war er 23, und die beiden waren erst drei Jahre zusammen. Nach zwei Flaschen Wodka schlitzte er sich mit einer Rasierklinge die Unterarme auf. Er überlebte, ließ sich in die Psychiatrie einweisen, stand einen Alkoholentzug durch und fing an, sich in der Einsamkeit einzurichten.

Und er denkt an seine Mutter, die Einzige, die ihn nie fallen ließ, die er zehn Jahre lang pflegte und ohne die es diese Geschichte gar nicht gäbe. Von allen drei Höllen, durch die er ging, ist das sein schwerstes Kapitel gewesen, sagt er.

Wenig aus Franks Vergangenheit lässt sich überprüfen. Es sind Gefühle wie aus einem anderen, einem vergangenen Leben, sagt er. Und doch lassen sie ihn bis heute nicht los.

Die vierte Hölle

Frank streicht sich im Kronkorkenzimmer über die Schienbeine. Dort klaffen zwei große Wunden. Das Fleisch ist schwarz geworden, die Waden dünn. "Seit 20 Jahren frisst sich der Diabetes da durch, ’ne richtige Arschlochkrankheit, aber was willste machen", sagt Frank. Heute Morgen sagte ihm der Arzt, er müsse endlich sein Leben ändern, nicht mehr so viel laufen, auf Zucker verzichten, weniger Fett, sonst seien die Beine in einem Jahr ab.

Das wäre für Frank seine vierte Hölle, sagt er. Oft spricht er davon, dass er nicht mehr weiß, für wen er eigentlich noch weiterleben soll. "Irgendwann geh ich einfach über die Regenbogenbrücke. Da warten meine Frau und meine Mutter auf mich. Ich habe keine Angst zu sterben", sagt er dann. Und doch wirkt er mit seinen herben Sprüchen, mit seinem Schwärmen von den guten Zeiten, als wollte er nur eines: leben.

Seit kurzem gibt es aber wieder etwas, für das es sich zu leben lohnt, sagt Frank. Vier Followerinnen, alle zwischen 20 und 30, wollen ihn in einer Woche besuchen, um seinen Geburtstag nachzufeiern. Sie alle sind befreundet, eine davon heißt Cello und ist Musikerin. Frank liebt einen ihrer Songs, spielt ihn permanent in seinen Videos. Mit ihrer schönen Stimme und ihren langen braunen Haaren erinnert sie ihn an seine tote Frau, sagt er.

Im echten Leben hat er sie bis jetzt noch nie getroffen. Nur telefoniert und bei Instagram geschrieben. Wenn er aufgeregt von ihnen erzählt, schiebt er meistens noch einen Satz nach: "Ach, die kommen am Ende eh nicht, wahrscheinlich werde ich verarscht, so wie immer." Auch wenn diese neue Internetwelt Frank Hoffnung gibt, beschleicht ihn immer wieder die Angst. Was, wenn mich die Menschen dort nicht ernst nehmen? Sich am Ende nur über mich lustig machen?

Frank fing mit dem Kronkorkensammeln an, um "klarzukommen". Dabei unterstützen ihn Menschen aus dem Internet

Sich aus der Einsamkeit herauszukämpfen, das hat Frank immer wieder versucht. Aber am Ende funktionierte es nie. Vielleicht dieses Mal? Kann das Internet ein Ort sein, der Menschen zusammenbringt und nicht, wie so oft, spaltet?

Eine Woche noch, bis die Party stattfinden soll.

"Mutter hat Honig im Kopf"

Pling. Pling.

"Heyyy Marika, danke für deine Geburtstagsgrüße!"

Pling.

"Heyyy Grischaaa, danke, danke, ja, an sich gut, aber der Rummel neulich hat mir nicht gutgetan, da sind meine Beine wieder aufgegangen."

Frank hält sich sein Handy dicht vor die Augen, um mit seinen 40 Prozent Sehkraft die Geburtstagsglückwünsche lesen zu können. Immer wieder trudeln Nachrichten von Fans ein, die er nicht persönlich kennt. Nur von Cello, der Musikerin, die ihn bald besuchen möchte, kam noch nichts. "Ich sach’s ja immer wieder, die vergisst mich und kommt in einer Woche auch nicht zur Party", schnauft Frank.

Er sitzt in seinem Wohnzimmer, es ist die alte Stube, in der seine Mutter ihn vor 58 Jahren auf die Welt brachte. Es ist auch der Raum, in dem sie 2019 starb. Er ist spärlich möbliert, Laminatfußboden, ein Sofa, ein Tisch, auf der abblätternden Tapete sind Cappuccinotassen, der Raum ist in eine beigefarbige Gefühlsneutralität getaucht.

2010 fing hier alles an. Seine Mutter wurde vergesslicher, und dann war die Diagnose da: Demenz.

An diesen Engel kommt niemand ran, sagt Frank. Die Kette ist eines der wenigen Dinge, die ihm von seiner toten Frau noch geblieben sind

Seine Mutter war es, die Frank, als er nicht mehr konnte, in die Entzugsklinik fuhr, und er versprach ihr: "Du hast mich nie im Stich gelassen. Jetzt werde ich für dich da sein und dich pflegen." Das schaffst du gar nicht, sagten ihm Freunde und Familie. Er ließ sich zwei Jahre in der Demenzpflege ausbilden. Und wie ich das schaffe, antwortete er ihnen.

Ab 2013 wurde es schlimm. Immer häufiger fand seine Mutter nach dem Einkaufen nicht mehr nach Hause. Und auch körperlich baute sie ab.

Als er sie das erste Mal im Intimbereich waschen musste, da schaute sie ihn an: "Und das jetzt ...?" "Ja, Mutter, wir müssen da jetzt durch", habe er geantwortet und sich dabei so schrecklich unwohl gefühlt.

An schlechten Tagen fragte sie ihn: "Wer sind Sie denn, junger Mann?" Ständig sprach sie davon, endlich nach Hause zu wollen, sehnte sich in die sorglose Zeit zurück, in der sie noch mit Puppen spielte. Tag und Nacht konnte sie nicht mehr unterscheiden. An mehr als vier Stunden Schlaf war fast nie zu denken. Morgens um drei fing sie an, in ihrem Bett zu rufen, verhedderte sich im Gestell, weinte und schrie.

Seine Familie kam nur selten zu Besuch, sagt Frank. Vielleicht wegen des schlechten Gewissens oder weil sie das Schicksal der Mutter nicht gut mitansehen konnten. Genauso wie seine Freunde. Eine Nebenwirkung der Krankheit war die schleichende Einsamkeit, stellte Frank schnell fest. Und auch er ging immer seltener vor die Tür. Fühlte sich nur noch wie eine Hülle, nahm die Welt wahr wie hinter Panzerglas.

Das fiel auch seinem Onkel auf, als er ihn besuchte. Er sagte: "Frank, du musst etwas für dich tun. Fang an, etwas zu sammeln, das erdet. Im Auto habe ich ein paar Kronkorken, damit kannst du anfangen." Das war 2011.

Bis das erste Zimmer fertig war, dauerte es nicht lange. Wenn ihm alles zu viel wurde, ging er nach unten. Nahm einen Korken, wusch ihn, desinfizierte ihn und klebte ihn an die Wand. Und wenn er wütend war, schleuderte er sie einfach nur dagegen. So lange, bis er seine Gefühle im Keller lassen konnte.

Besuch am Geburtstag

Eigentlich wollte heute ein Freund vorbeikommen. Vielleicht auch die Band Culcha Candela, sagt Frank. Eine Radiomoderatorin hatte ihm vor Wochen versprochen, jemand Berühmten an seinem Geburtstag vorbeizuschicken. Aber es kommt niemand.

Bis es dann plötzlich klingelt.

Vor der Tür stehen Annette und Bianca, beide um die 60, Hochsteckfrisur und sauber gezogener Lippenstift. Sie kennen Frank von Instagram, er hat ihnen seine Adresse geschrieben. "Alles Gute, Frank!", sagt Annette und überreicht ihm einen Zitronenkuchen mit Glasur und einen Bund Chrysanthemen.

"Danke, danke", grummelt Frank, "den kann ich ja eigentlich gar nicht essen", und zeigt auf seine Beine: "Diabetes." Ein wenig unbeholfen stehen die drei im Garten.

"Wobei", hängt Frank an, "auch egal. Für wen soll ich denn leben?"

"Aber du bist doch der wichtigste Mensch in deinem Leben", sagt Annette.

"Das sehe ich anders", sagt Frank, während er sich die Treppen hochhievt, um ein Messer für den Kuchen zu holen.

Stille.

Annette sagt, Frank sei ihr bei Social Media sehr sympathisch gewesen. "Aber er wirkt auch etwas einsam mit seinem Spleen. Ich denke, wenn es uns so ginge, dann würden wir uns auch über Besuch freuen. Wir können von unserem Glück ja etwas abgeben." Außerdem hofft sie auf ein paar Kronkorken für ein eigenes Projekt.

Zu dritt stehen sie im Keller. "Schon beeindruckend", sagt Annette und kramt in einem großen Eimer voller Kronkorken. Viele sind ihr aber dann doch zu dreckig oder zu alt.

Dieser Raum hat auf viele Menschen eine besondere Wirkung, sagt Frank. Häufig kämen Nachbarn vorbei, die von der Geschichte mit seiner Mutter wissen und selbst einen Demenzfall in der Familie haben. Er setze sich mit ihnen runter in den Keller. Es gibt Kaffee und Kuchen. Dann kehre Ruhe ein.

Mit seiner Mutter sei das genauso gewesen, sagt er. Als er sie das erste Mal mit in den Keller nahm, ihr die funkelnden Kronkorken zeigte, da wurde sie ganz stumm. Stundenlang lag sie dort neben ihm auf dem Sofa, sprach über ihre Kindheit, und sie hörten Musik aus den 50ern. Ihre Tränen kullerten, Frank hielt ihre Hand. "Das sind Momente, die mir niemand mehr nehmen kann", sagt er. "Mit ihren Fingern hat sie über jeden der Korken einzeln getastet, und dann sah man, dass da oben etwas anfing zu arbeiten", sagt er. Dann sagte sie: "Noch mal. Noch mal. Nicht hochgehen." So verbrachten sie Stunden, Tage, ganze Wochenenden.

Annette und Bianca, die gerade mit Frank im Kronkorkenzimmer stehen, scheinen die Aura des Kellers weniger zu spüren. Frank läuft rumräumend von einem in den anderen Raum. Es wirkt, als wolle er zwar mit den beiden sprechen, wisse aber nicht, über was. Irgendwann verschwindet er oben in der Stube, und die beiden fahren nach Hause.

Frank in seinem Keller: Laserlicht, Musik und Tausende Kronkorken, die an Wänden und Decke funkeln

Der Tod der Mutter

2018 entglitt seine Mutter Frank immer mehr. Sie verlernte zu sprechen. Aber jeden Morgen stand sie an der Kellertür und wollte hinunter. Es waren ihre letzten gemeinsamen Monate.

Ein Jahr später im Sommer war sie so schwach, dass sie ins Krankenhaus kam. Frank überredete die Ärzte dazu, sie wieder nach Hause zu bringen. Sie sollte in ihrem Bett sterben.

Der Tod ist kein Moment, er ist ein Prozess, so wie die Geburt. Und Franks Mutter kämpfte, sie wollte nicht gehen. Frank denkt, sie wollte ihn damals nicht zurücklassen. Zwei Stunden saß er an ihrem Bett und sagte ihr: "Mama, es ist in Ordnung. Es ist alles vorbereitet. Du kannst gehen."

"Frank, sie geht nicht, solange du hier bist", sagte seine Tante. Also schnappte er sich sein Fahrrad, und als die Gartentür ins Schloss fiel, hörte sie auf zu atmen, erzählte ihm sein Bruder.

Danach fiel Frank in ein tiefes Loch. Er hörte auf zu kleben, hörte auf, sich regelmäßig Insulin zu spritzen, hörte auf, leben zu wollen. Bis es 2024 so weit war, dass er sich dachte: entweder sterben oder leben.

Es war der Moment, in dem er wieder anfing zu kleben und sein erstes Video auf Instagram hochlud. Und mit den Followern kam die Hoffnung darauf zurück, nicht ewig so einsam weiterleben zu müssen.

Der Livestream

Am Abend seines Geburtstags sitzt Frank vor seinem Instagram-Livestream.

Maeximiliaen, Anime-Charakter als Profilbild, schreibt: "Frank, wie gehts?"

Frank: "Nicht so gut, die Gesundheit spielt nicht mit."

Jeff.benzos_official, Typ mit Schnauzer um die 30, schreibt: "Du Legende. Keep up your good work!"

Nicki_ah, weißes Hemd und gestriegelte Frisur: "Alles Gute, Frank, danke für deinen geilen Content!"

Frank erzählt, dass der Diabetes langsam seine Beine zerfrisst. Die Menschen im Chat versuchen, ihn aufzumuntern. "Das wird schon", "lass den Kopf nicht hängen", "du bist ein herzensguter Mensch".

Vor allem aber ist Frank enttäuscht, sagt er. Cello, die Musikerin, hat ihm zwar gratuliert. Aber nur mit einem kurzen Video. Kein Anruf. Und wieder sagt er, dass der Besuch in einer Woche bestimmt ins Wasser fällt.

Dann schreibt Lerika im Live-Chat, Anfang 20, lange blonde Haare. Sie ist eine Freundin von Cello und soll bei der Party in einer Woche auch mit dabei sein: "Ich hoffe, dass das alles klappt L. Denk dran, Frank, du bist stark <3 und wir sind alle bei dir. Es gibt immer Menschen, die für dich da sein werden!"

"Danke, Lerika. Dann muss ich ja doch noch bis 2027 durchhalten", sagt Frank. "Weil du ja einen Gutschein gewonnen hast. Der ist bis dahin noch gültig. Eine Übernachtung im Kronkorkenzimmer."

Für seine Geburtstagsparty hat Frank ein Buffet vorbereitet. Er ist sich aber immer noch unsicher, ob seine Nachbarn und die Menschen aus dem Internet überhaupt kommen

Ein Tag vor der Party

Frank wuselt durch die Küche. Heute, am Freitagabend, wollen Cello und ihre Freunde kommen, ein kleines Konzert spielen und für das Wochenende bei ihm übernachten. Sie alle sind zwischen 20 und 30. Der erste Übernachtungsbesuch seit 20 Jahren, sagt Frank. Er ist so aufgeregt, dass er seit Tagen nicht richtig schläft.

Für ihn ist es auch ein Versuch, wieder auf das Leben zuzugehen. Wieder zu vertrauen. Darauf, dass Menschen ihm nicht nur Schlechtes wollen.

Für morgen hat er noch andere eingeladen. Wie viele, weiß er selbst nicht genau. Wenn man ihn fragt, dann wachsen die Zahlen immer weiter. Genau wie seine stille Hoffnung. "Irgendwas zwischen 50 und 500", sagt er dann. "Aber Cello und ihre Freundinnen sagen wahrscheinlich kurz vorher eh noch ab. Aber wenn sie doch kommen und ich Cello mal live sehe, dann muss ich vielleicht weinen wie ein Schlosshund."

Mit seinem letzten Geld hat Frank eingekauft. Gerade schneidet er Gürkchen, rührt Teig an. Über 300 Euro habe er ausgegeben, das tue ihm als berufsunfähigem Frührentner schon weh, sagt er. Zeug für 80 Burger, 70 Hotdogs, sechs Kilo Nudelsalat, Brötchen, 20 Liter Cola, zehn Liter andere Getränke, schätzt er. 40 Flaschen Wein und 80 Dosen Bier, obwohl er trockener Alkoholiker ist.

Am Abend steht Cello mit ihren fünf Freunden vor Franks Tür. Er kann es gar nicht fassen.

Sie essen Brot, Frank erzählt von seiner Mutter, seinem Leben. Aber als es um die Schlafplätze geht, da wollen die sechs doch lieber zu Freunden nach Bremen fahren. Für Frank bricht eine Welt zusammen. "Denen ist es hier nicht fein genug, dann will ich nichts mehr von ihnen wissen", sagt er später.

Als sie weg sind, stapft er ins Schlafzimmer, nimmt zwei rote Pillen, die er vor Jahren mal von einem Typ in Berlin für schlechte Zeiten gekauft hat, und spült sie mit Cola runter, erzählt er später. Dann verschluckt ihn die Dunkelheit.

Blackout.

Der nächste Tag

Am nächsten Tag sind Franks Erinnerungen an die Nacht im Rausch verschollen. Aber seine Scham nicht. Die ist zu Wut geworden.

Er sitzt wieder vor dem Livestream. Es läuft Matthias Reim und Frank singt mit:

"Ich sing Hallelujah – ein Engel ist hier.

Hallelujah – jetzt stehst du vor mir.

Hallelujah – komm, lass mich nicht zur Hölle fahrn.

Ich kenn das schon; ich war schon da."

Ob sie heute noch mal wiederkommen und für ihn spielen?

"Keine Ahnung", sagt er und rührt in einem Topf voll Teig. So viel Teig, als glaubte er, dass sie heute noch wiederkommen.

Um 16 Uhr stehen sie vor der Tür.

Cello, die junge Musikerin, die Frank an seine tote Frau erinnert. Ihre zwei Freundinnen Nathy und Lerika, die aktuell noch studieren. Sie kommen aus München und sind zehn Stunden mit dem Deutschlandticket zu Frank gefahren. Joshua, der aussieht wie ein junger Pete Doherty und sich als Singer-Songwriter vorstellt. Außerdem dabei sind die beiden jungen Produzenten Rob und Burak.

Sie haben professionelle Boxen mitgebracht, ein Keyboard, Mikros. Equipment für 20.000 Euro, sagt Burak. Wirklich bekannt ist niemand von ihnen. Ihre leise Hoffnung ist, dass sich das heute ändern könnte. Frank habe ihnen gesagt, dass 300 Menschen zur Party kommen würden und das Fernsehen.

Der Musiker Joshua dreht in Franks Keller ein neues Musikvideo. Sein Freund und Produzent Burak filmt

Cello schnappt sich zusammen mit Joshua die Mikros, Rob steht am Keyboard, und Burak filmt. Frank sitzt teilnahmslos daneben. Wenn ihn gerade niemand beachtet, schaut er in die Leere. Der Schmerz der letzten Nacht sitzt tief, sagt er. Aber wenn er in der Nähe der anderen ist, dann lacht er und fragt väterlich: "Sag mal, frierst du nicht mit den Löchern in der Hose?"

Die Münchner Crew spielt, als gingen da 300 Menschen vor ihnen zu ihrer Musik ab. Dabei steht dort nur eine Handykamera im Stativ. Für Instagram und TikTok. Immer wieder ziehen sie Frank vor die Kamera. Der sieht etwas hilflos aus, nickt ein wenig mit, weiß nicht so recht, wie er sich bewegen soll.

Ein Teil von Franks Familie kommt für eine Stunde vorbei. Sie bringen Geschenke, Kuchen und Kronkorken. Mit dieser ganzen Instagram-Geschichte wollen sie nichts zu tun haben. Frank sitzt weiter auf seinem Hocker und spricht nicht viel. Als sie wieder gehen, sagt er nur: "Seht ihr, meiner Familie gehe ich auch am Arsch vorbei."

Für Frank sind es oft die anderen, die ihm Böses wollen. Die Familie, die ihn nicht unterstützt. Die Freunde, die nur da sind, wenn sie etwas wollen. Die Nachbarn, die nicht zur Party gekommen sind. Und die Münchner Crew, von der er enttäuscht ist, weil sie nicht bei ihm übernachtet hat. Und doch sind sie hier. Für ihn. Manchmal scheint es, als ob Frank nicht mehr darauf vertraut, dass das Leben auch Gutes für ihn bereithält.

Und obwohl die Videos für Instagram und TikTok nach viel Spaß aussehen, spricht Frank mit den anderen nicht viel. Zwischendurch fragt er mal: "Haben die Tattoos an deinem Arm eine Bedeutung?" Worauf Cello antwortet: "Ja." Ende des Gesprächs.

Frank habe einen ihrer Songs bei Instagram genutzt, so habe sie viel Aufmerksamkeit und Klicks bekommen, sagt Cello. Dafür sei sie dankbar. "Frank hat eine gute Seele. Ich glaube, er ist oft einsam, und ich hoffe, dass wir ihm ein wenig Halt geben können. Ihm zeigen, dass nicht alles da draußen schlecht ist", erzählt sie in der Stube.

Auf die Frage, ob sie Angst habe, dass Frank noch tiefer fallen könne, wenn sie wieder weg sind, weiß sie nicht so recht, was sie sagen soll. "Klar spüre ich auch manchmal eine Verantwortung, aber das ändert nichts daran, dass es schön ist, hier zu sein", sagt sie.

Die Musikerin Cello und ihre Freunde sind gekommen, um ein kleines Konzert für Frank zu spielen

Draußen läuft die Party weiter. Joshua singt: "I been running, I been running, in the summmmerrrrain", während Burak ununterbrochen filmt.

Mittlerweile ist es 18 Uhr, und einige Nachbarn sind doch noch gekommen.

Einer von ihnen, raspelkurze Haare, schwarze Biker-Kutte, kennt Frank schon, seit er ein Kind ist. "Hammertyp. In der Nachbarschaft hätte niemand gedacht, dass er damit so einen Erfolg hat", sagt er. Ein anderer: "Frank hat früher immer die Zeitung bei uns ausgetragen. Punkt fünf Uhr stand er vor der Tür, auf den kann man sich verlassen."

Es sind zwei Welten, die dort in der Einfamilienhaussiedlung in der Nähe von Bremen aufeinandertreffen. Auf der einen Seite Franks Nachbarn in Trainingsanzügen, Motorradjacken, kurzärmeligen, karierten Hemden, Menschen, die hier aufgewachsen sind. Und auf der anderen die Stadt-Kids mit ihren Baggy-Hosen und selbst gedrehten Kippen. Die einen wollen AC/DC hören, die anderen spielen Indie-Musik. Das Ganze wirkt, als sei eine YouTube-Kommentarspalte zum Leben erweckt worden, so unterschiedlich sind die Menschen hier.

Für Frank ist das alles zu viel. Er steht am Rand und wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. Einer seiner jüngeren Nachbarn mit Lippenpiercing legt den Arm um ihn.

"Ich weiß einfach manchmal nicht, wie es weitergehen soll", sagt Frank. "Ich weiß nur, dass ich nicht so weiterleben möchte. So allein. Das ist mir heute klar geworden."

Zwischendurch drehen sie Videos für TikTok und Instagram

"Frank, die sind alle nur wegen dir hier, das ist deine Bühne. Genieß das jetzt! Tanz, tanz, tanz!", brüllt sein Nachbar gegen die Musik an und schiebt Frank auf die Tanzfläche. "Andere bringen ihre Mütter ins Heim. Dieser Typ hat’s durchgezogen. Bis zum Ende, und ist daran selbst kaputtgegangen. Dafür hat er meinen tiefsten Respekt", sagt er danach.

In diesem Moment dreht Cello die Musik ab.

"Frank, wir haben einen Song nur für dich geschrieben", sagt sie ins Mikro. "Weil du das verdient hast."

Ein Elektropop-Beat setzt ein. Darauf Cellos Stimme.

"Hmmm ... Hmmm ... Alles glänzt, alles klebt, alles krank. Willkommen in der Welt vom Kronkorken-Frank. Hmmm … Hmm …"

Der Bass vibriert. Frank wippt mit den Beinen auf und ab. Und plötzlich ist es egal, wie groß die Unterschiede sind. Seine Nachbarn, die Münchner Gang, alle scharen sich um Frank und singen mit:

"Krrrrooonnnkorken-Frank!! Krrrrooonnnkorken-Frank!! Krrrrooonnnkorken-Frank!!"

Franks Augen sind geschlossen, seine Arme in der Höhe, und für dieses eine Lied ist das alles, was zählt.

Den Rest des Abends steht er auf der Tanzfläche und wirkt wie ausgewechselt. Er grinst, wenn jemand einen Witz macht, singt mit, umarmt und will gar nicht, dass es endet.

Aber das tut es. Gegen 22 Uhr löst sich die Party auf. "Danke, dass ihr hier wart", sagt Frank. "Hoffentlich sehen wir uns bald wieder, vielleicht ja sogar in Berlin oder München."

Am nächsten Morgen sitzt Frank im Kronkorkenzimmer. Auf dem Instagram-Video sieht man ihn dicht vor der Kamera. Seine Augen sind geschlossen. Er ist wieder allein.

"Ich bin verdammt stolz, dass es jetzt einen Song über den Kronkorken-Frank gibt und dass Cello ihn gesungen hat. Hier live in meinem Garten mit ihren Freunden."

"Ich bedanke mich so sehr, dass ihr das gemacht habt. So einen schönen Moment hatte ich seit 36 Jahren nicht mehr."

Franks Stimme wird holprig.

"Ich werde emotional, aber wer mich kennt, der versteht mich. Ich bin toll."

"Ich weiß nicht, ob man sagen kann, ihr seid Freunde. Aber ihr seid Menschen, die mich wertschätzen."

Franks Stimme versagt. Tränen fließen über seine Wange.

"Und das finde ich ganz, ganz toll."

"Danke schön. Euer Kronkorken-Frank."

Für eine Challenge bei Instagram pflanzt Frank einen Apfelbaum in seinem Garten. Eine Verbindung von der digitalen und der echten Welt. Etwas, das bleibt
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