chrismon: In welchen Momenten fühlen Sie sich lebendig?
Joana Mallwitz: Im Konzert blende ich alles andere aus. Steht man auf der Bühne, kann man nur genau in diesem Moment sein. Ich habe sofort vergessen, wenn ein Ton gepiepst hat, ich kann auch nicht darüber nachdenken, dass drei Partiturseiten später eine schwere Stelle kommt. Es gibt kein Davor und Danach. Das ist die Befreiung von allem. Musikmachen in einem Orchester ist sehr komplexe Kommunikation! Man kann gar nicht beschreiben, wie schnell Impulse hin- und hergehen zwischen den Musikern und mir, es ist ein Geben und Nehmen. Ich brauche vorher die klare Idee: So wird es klingen. Gleichzeitig muss ich in mich reinlassen, was kommt, vielleicht hat eine Sololinie einen etwas tragenderen Tonfall, als ich mir vorgestellt habe. Trotzdem braucht ein Orchester eine gewisse Ordnung und Hierarchie. Bei schlechter Führung wartet man nur ab, jeder macht irgendwas, und am Ende hat alles keine Form.
Haben Sie eine Vorstellung von Gott?
Ich glaube an Gott. Ich glaube an die Wissenschaft. Und ich glaube an die Idee der Nächstenliebe, sie ist die Antwort auf alles im Leben. Tut jemand etwas Böses, dann frage ich mich vor allem: Was müssen wir als Gesellschaft tun, damit diese Person zur Nächstenliebe findet? Manchmal habe ich eine Idee von Göttlichkeit, wenn ich Meisterwerke studiere. Dann habe ich oft das Gefühl: Das hat sich der Komponist nicht ausgedacht, der hat etwas am Universum freigekratzt und rausgeholt. Man spürt es, wenn ein Stück größer ist als man selbst. Schubert zum Beispiel hat es geschafft, das Jenseits oder das, was wir nicht begreifen können, in Musik zu übersetzen. Und natürlich Bach, das ist eine göttliche Harmonie, die anscheinend irgendwo existiert und die Bach in Form seiner Fugen uns klingend auf die Welt gebracht hat.
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