Der Israeli Evyatar David ist 24 Jahre alt. Seit dem 7. Oktober 2023 ist er in der Hand der Hamas. Am Wochenende veröffentlichte die Hamas ein Foto von ihm, auf dem er ausgezehrt in einem Tunnel der Hamas hockt. "Holocaust 2025" schrieb Vicky Cohen, die Mutter des Geiselopfers Nimrod Cohen auf X. "Warum ist es legitim, dass einige unserer Leute dort sitzen, hungern und gefoltert werden, einen wiederholten Holocaust durchleben – und wir schweigen?", schrieb die ehemalige Geisel Liri Albag in den sozialen Medien. Und den Holocaustüberlebenden Israel Shaked "bringen diese Bilder in jene dunklen Tage zurück – in die Hölle, den Hunger, das Verwaistsein und die Angst".
Evyatar David musste sich sein eigenes Grab schaufeln. Er lebt noch. Aber wir sehen einen Körper, der Zeugnis ablegt von entwürdigender Gewalt.
Die Propagandabilder der Hamas von Evyatar David und anderen ausgezehrten Geiselopfern entfalten auch hier in Deutschland Wirkung. Ebenso wie die Fotos hungernder Kinder in Gaza, von denen auch viele von der Hamas in Umlauf gebracht werden. Sie lösen gezielt Mitgefühl aus – und verständliche Wut. Ich zweifle nicht daran, dass viele Menschen in Gaza leiden und hungern. Doch wir befinden uns auch in einem Krieg der Bilder und Fotos von hungernden Kindern und ausgezehrten Geiselopfern sind Teil eines Krieges um die Deutungshoheit. Die Konsequenzen trägt nicht die israelische Regierung, sondern Jüdinnen und Juden weltweit – und auch hier in Deutschland. Menschen, die mit dem israelischen Regierungschef Benjamin Netanjahu nichts zu tun haben, werden hier auf der Straße, in der Bahn, an der Uni bedroht. Ihre bloße Existenz wird zur Provokation erklärt. Der Judenhass in Deutschland, in Europa, nimmt krasse Züge an. Berlin, die Stadt, die so stolz auf ihre Diversität ist, ist heute Europas Hauptstadt der antisemitischen Übergriffe.
Meine jüdischen Freunde erzählen, dass sie sich zehnmal überlegen, eine Mesusa, ein jüdisches Glückssymbol, sichtbar an ihrer Wohnungstür anzubringen. Davidstern-Kettchen lassen sie unter ihrem Shirt verschwinden. Alleinstehende jüdische Frauen fürchten sich davor, in der Öffentlichkeit als Jüdinnen erkannt zu werden. Geschichten von Konfrontationen auf der Straße, sexuellen Übergriffen, Angriffen in Restaurants oder öffentlichen Verkehrsmitteln sind keine Ausnahme, sie sind Alltag.
Eine jüdische Jugendgruppe wird aus einem Flugzeug geschmissen (wie jüngst bei Vueling). In Washington, D. C. wurde ein junges jüdisches Pärchen erschossen. In Berlin wurde ein Deutsch-Israeli von einem Kommilitonen zusammengeschlagen, zuvor wurde ihm der Zugang zu einem Hörsaal verweigert.
Hier in Frankfurt am Main habe ich neulich antizionistische Sticker an der Wohnungstür eines Rabbiners gesehen. Der Barista, der mir den Kaffee servierte, trug eine Halskette, auf der das Staatsgebiet Israels unter dem Muster einer palästinensischen Kufija prangte – kein religiöses Symbol, sondern ein politisches Statement, das die Existenz Israels demontiert. Offenbar hat er keine Angst, angezeigt zu werden.
"Jüdische Identität wird wieder unsichtbar, um sicher zu sein"
Wenn wir diese Übergriffe und schrecklich alltäglich gewordenen Feindseligkeiten nicht ahnden, lassen wir unsere jüdischen Mitbürgerinnen im Stich. Aber auch all jene Israelis, die sich für Menschlichkeit einsetzen und in Tel Aviv und Jerusalem gegen die israelische Regierung demonstrieren. Wir lassen sie im Stich – in Deutschland, dem einstigen Täterland. Daran ändern auch Millionen an staatlicher Förderung für neue Gemeindebauten und Synagogen und Polizeischutz nichts.
Wir lassen unsere jüdischen Nachbarn im Stich, wenn Männer über ihrer Kippa eine Cap tragen müssen. Wenn die Zizit – jene Schaufäden, die aus dem jüdischen Gebetsgewand heraushängen sollen – wieder versteckt, in die Jeans gestopft werden. Jüdische Identität wird wieder unsichtbar, um sicher zu sein.
Meine jüdischen Freundinnen schockiert dies gar nicht mehr so sehr, zu oft haben sie Übergriffe erlebt. Ich, die keine Feindseligkeit ertragen muss, bin schockiert. Ich beobachte diese Entwicklungen mit Sorge – meine Freundinnen leben damit. Tag für Tag. Sie rechnen schon gar nicht mehr mit Solidarität, sondern mit dem nächsten Angriff. Sie diskutieren nicht mehr, sie planen: Auswandern? Verstecken? Oder durchhalten?
Antisemitismus geht jeden etwas an
Dabei wäre jetzt für uns alle die Zeit, zu handeln und es nicht beim Beobachten zu belassen. Nicht wegzusehen, nicht abzuwiegeln. Nein, die Lage ist nicht "kompliziert", sie ist nicht nur "politisch", sie ist existenziell. "Nie wieder" ist keine historische Floskel. Es ist ein Auftrag – und zwar für jetzt. Was können wir tun?
Nicht schweigen, sondern widersprechen, wenn am Esstisch jemand sagt: "Die Juden haben doch überall Macht." Bei der Polizei melden, wenn ein Kumpel auf Instagram ein Meme postet, das Israel dämonisiert.
Ins Jüdische Museum gehen, um jüdisches Leben sichtbar zu unterstützen. Spenden – zum Beispiel an Ofek e. V., die jüdische Beratungsstelle bei antisemitischer Gewalt. Ein deutscher Jude ist nicht Netanjahu. Solidarität heißt: die jüdische Freundin nicht gleich fragen: "Aber was ist mit Gaza?", sondern erst mal: "Wie fühlst du dich gerade?"
Politikerinnen nerven, wenn sie sich wegducken. Wir können sie anschreiben und unsere Sicht schildern. Wir können Medien anschreiben, wenn sie einseitig berichten. Und: Jeder und jede kann bei sich selbst anfangen. Antisemitismus versteckt sich oft in Alltagssätzen. Wer genau hinhört, kann den versteckten Antisemitismus heraushören – und ihn verlernen. Jetzt.
Denn wer heute schweigt, macht sich morgen schuldig. Und wenn wir ehrlich sind: Morgen ist schon längst da.