Ketzer der Neuzeit (Leonard Jaeger)
Der rechtsextreme Streamer "Ketzer der Neuzeit" (Leonard Jäger) auf dem AfD-Parteitag in Riesa im Januar 2025
Rafael Heygster/laif
Christfluencer
Die digitalen Prediger der neuen Rechten
In den sozialen Medien bezeugen immer mehr junge Menschen offensiv ihren christlichen Glauben. Dahinter verbirgt sich bisweilen politisches Christentum mit Rechtsdrall und Nähe zur AfD
Privat
26.11.2025
8Min

10. Oktober 2025, Reichstagsgebäude: Ein Mann mit Bart und Habitus einer alttestamentlichen Figur tritt bei einer Veranstaltung der AfD-Fraktion auf. Die Veranstaltung trägt den Titel "Spannungsfeld Christ & Politik". Der Redner heißt Tobias Riemenschneider und hält gleich zwei Vorträge. Bereits im ersten ließ er keine Zweifel an seinem Staatsverständnis:

"Laut der juristischen Literatur folgt aus dem Gottesbezug im Grundgesetz kein Auftrag für einen christlichen Staat. Das halte ich erneut für Unfug. Es gibt nur den christlichen Gott. Und wenn wir unsere Verantwortung vor dem christlichen Gott wahrnehmen, wozu führt das dann? Nun unweigerlich zu etwas, was man einen christlichen Staat nennen kann."

Tobias Riemenschneider ist Co-Gemeindeleiter der "Evangelisch-Reformierten Baptistengemeinde Frankfurt". Die gehört allerdings nicht zum offiziellen deutschen Bund der Baptisten (Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden).

Der evangelische Theologe Martin Fritz von der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen in Berlin attestiert Riemenschneider, ein "fundamentalistisches Christentum als Staatsreligion" zu propagieren.

"Christfluencer" als neues Phänomen

Wie Letztere auszusehen hat, zeigte Riemenschneider etwa, als er sagte, dass Abgeordnete "das Gute loben und das Böse strafen" müssen, wenn sie als Gesetzgeber tätig werden. Der "Maßstab", so Riemenschneider weiter, "nach dem sie beurteilen müssen, was gut und böse ist, darf nicht ihr eigener subjektiver Maßstab sein, sondern muss Gottes objektiver Maßstab sein, denn sie sind Diener Gottes und dafür wird er sie zur Verantwortung ziehen." "Riemenschneider spricht so, als kenne er den Willen Gottes ganz unmittelbar", kommentierte Martin Fritz diese Äußerung.

Was will Riemenschneider? Eine Theokratie? Einen christlichen Wächterrat ähnlich dem in Iran mit so etwas wie christlichen Ayatollahs an der Staatsspitze, der kontrolliert, ob die Gesetze den Geboten des christlichen Gottes entsprechen? Es ist sehr beunruhigend, dass die AfD diesem Mann ein Forum geboten hat. Beunruhigend ist auch, wie aktiv Riemenschneider in den sozialen Medien ist. Der Youtube-Kanal seiner Gemeinde, auf dem er regelmäßig Videos von sich hochlädt, hatte Mitte November 2025 knapp 26 000 Followerinnen und Follower.

Im weitesten Sinne zählt Riemenschneider damit zu den sogenannten "Christfluencern". Auch wenn er optisch anders daherkommt. "Christfluencer" sind ein ziemlich neues digitales Phänomen, das während der Corona-Pandemie begonnen hat: Relativ junge Menschen bezeugen in den sozialen Medien offensiv ihren christlichen Glauben.

Die meisten "Christfluencerinnen" verpacken ihren Glauben in eine Hochglanzästhetik und sind, wie man auf Englisch sagen würde, "on fire for Jesus". Die Männer kommen eher hip daher. Es ist eine evangelikale Bewegung. Katholische Christfluencer gibt es im deutschsprachigen Raum kaum.

Hinter dem optisch hochpolierten Bekenntnismut verbirgt sich bisweilen ein politisches Christentum mit Rechtsdrall und Nähe zur AfD. In vielem ist es der alte Rechtsevangelikalismus mit den tradierten und immer gleichen Feindbildern Homosexualität, Abtreibung und Gendern in neuer Auflage.

Der bekannteste und einflussreichste "Christfluencer" im deutschsprachigen Raum ist Leonard Jäger, der sich "Ketzer der Neuzeit" nennt. Allein auf Instagram folgen dem jungen Mann rund 339.000 Menschen. Im Februar 2025 waren es laut der evangelischen Wochenzeitung "Sonntagsblatt" erst 170.000. Auf Youtube hat er sogar rund 573.000 Follower.

Wie Riemenschneider hat auch er eine Nähe zur AfD. Auf dem Bundesparteitag der Partei im Januar 2025 führte er unkritische Interviews mit ihren Vertretern, in denen es auch um Glaubensfragen ging. In einem Video zeigte er deutlich, wie sehr er sich freut, mit AfD-Chefin Alice Weidel über den Glauben zu sprechen.

Jasmin Friesen - Galionsfigur der "Christfluencer"

Sichtlich begeistert davon zeigte sich auch das Urgestein des deutschen Evangelikalismus mit Rechtsdrall, der ehemalige ZDF-Moderator Peter Hahne. Er ist sozusagen Influencer avant la lettre und führte im Oktober 2025 ein fast dreistündiges Gespräch mit dem "Ketzer", das auf Youtube abrufbar ist.

Darin erzählte Hahne unter anderem, er habe angefangen zu weinen, als Weidel sich neugierig gegenüber dem christlichen Glauben gezeigt habe, so gerührt sei er gewesen. Und habe ihr sofort geschrieben. Ohnehin zieht sich AfD-Lob schon länger durch Hahnes Äußerungen, auch wenn er meistens hinzufügt, selbst kein Parteigänger zu sein.

Lesen Sie hier: Evangelikal, rechts, AfD?

Der "Ketzer" wiederum ist eng mit der wichtigsten deutschen "Christfluencerin" Jasmin Friesen befreundet. Sie hat ihn zum christlichen Glauben gebracht und stand bei seiner Taufe im April 2024 neben ihm. Die meisten ihrer Äußerungen wirken zunächst harmlos. Ihr Instagram-Kanal heißt "liebezurbibel". Sie hat dort rund 92.000 Follower. Im Februar 2025 waren es laut evangelischem "Sonntagsblatt" erst rund 72.000. Auch ihre Botschaften kommen also an.

"Vor bestimmten sogenannten 'Sexualsünden' warnen Prediger immer wieder"

Man findet bei Friesen traditionelle christliche Vorstellungen. Etwa dass Gott die Menschen als Mann und Frau erschaffen habe, und, auch wenn sie das oft zumindest ein bisschen relativiert, die Ablehnung von Homosexualität.

Man macht es sich allerdings zu einfach, ein solches Denken vorschnell als "rechts" zu bezeichnen, denn dann müsste man auch die katholische Kirche so nennen, die in ihrem Katechismus die Auslebung von Homosexualität nach wie vor als "Sünde" bezeichnet. Auch ist richtig, dass es einige Bibelstellen gibt, die Homosexualität klar verurteilen, so etwa der Apostel Paulus in den Versen 26 und 27 des ersten Kapitels seines Briefs an die Römer.

Jasmin Neubauer 2023, noch vor ihrer Hochzeit mit Pala Friesen

Jedoch ist es problematisch, diese Verse wortwörtlich zu nehmen und den historischen Kontext auszublenden. Grob gesagt besteht dieser darin, dass Paulus bei diesen Versen in erster Linie Herren-Sklaven-Verhältnisse und Prostitution im Blick hatte. Mit heutigen homosexuellen Lebensgemeinschaften hatten solche Erscheinungsformen nichts zu tun.

Diese Erkenntnis gewinnt zunehmend auch unter evangelikalen Christen an Bedeutung. Die Versuche, das Feindbild Homosexualität aufzubrechen, mehren sich dort seit einigen Jahren. Michael Diener, der ehemalige Vorsitzende der "Evangelischen Allianz" versuchte das etwa in seinem Buch "Raus aus der Sackgasse - Wie die pietistische und evangelikale Bewegung neu an Glaubwürdigkeit gewinnt". Auch in der katholischen Kirche gibt es Bestrebungen, praktizierte Homosexualität theologisch nicht mehr zu verdammen. Ein Beispiel ist der Jesuit Ansgar Wucherpfennig mit seinem Buch "Sexualität bei Paulus".

Wichtigere Themen werden kaum angesprochen

Doch gibt es auch konservative Katholiken, die tatsächlich Angst vor Homosexualität haben und davon ausgehen, dass das eine besonders schwere Sünde sei, weil sie sich wie alle "Sexualsünden" gegen den eigenen Körper richte und angeblich dem Naturrecht widerspreche.

Vielleicht ist diese Angst in manchen evangelikalen Kreisen sogar noch stärker. Hier rekurriert man aber nicht auf die katholische Vorstellung vom Naturrecht, sondern auf die göttliche Schöpfungsordnung. Vor bestimmten sogenannten "Sexualsünden" warnen Prediger jedenfalls immer wieder, etwa vor vorehelichem Sex und eben Homosexualität.

Ehebruch, also die Sexualsünde schlechthin, wird hingegen verblüffenderweise eher am Rande thematisiert, obwohl dieser anders als praktizierte Homosexualität oder vorehelicher Sex Familien ruinieren und den betrogenen Ehepartner seelisch zerstören kann.

Lesetipp: Wie halten es extreme Rechte mit der Religion?

Bei vielen "Christfluencerinnen" spielt auch die biblisch begründete Unterordnung der Frau unter den Mann eine zentrale Rolle. Erstaunlicherweise blenden sie dabei aber den 1. Korintherbrief aus, wo es im 11. Kapitel, Verse 3 bis 6, heißt:

"Ich will aber, dass ihr wisst, dass Christus das Haupt eines jeden Mannes ist; der Mann aber ist das Haupt der Frau; Gott aber ist das Haupt Christi. Ein jeder Mann, der betet oder prophetisch redet und hat etwas auf dem Haupt, der schändet sein Haupt. Jede Frau aber, die betet oder prophetisch redet mit unbedecktem Haupt, die schändet ihr Haupt; denn es ist gerade so, als wäre sie geschoren. Will sie sich nicht bedecken, so soll sie sich doch das Haar abschneiden lassen! Wenn es aber für die Frau eine Schande ist, dass sie das Haar abgeschnitten hat oder geschoren ist, soll sie sich bedecken."

"Auffällig ist, wie genüsslich Friesen die verdammenden Verse zur Homosexualität zitiert"

Trägt Jasmin Friesen in Gottesdiensten eine Kopfbedeckung, wenn sie betet? Zumindest hat sie darüber bisher wohl nicht gesprochen. Auch in Videos mit Gottesdiensten in charismatisch-evangelikalen Gemeinden sieht man kaum Frauen mit Kopftüchern oder Schleiern. Sind es also ausgerechnet die weiblichen "Christfluencerinnen", die – horribile dictu – die Bibel dort relativieren, wo ihnen bestimmte Passagen nicht passen?

Zugegeben, Jasmin Friesen sagt selbst, sie nehme nicht alle Bibelstellen wörtlich. Aber was sind ihre Maßstäbe dafür? Wie beurteilt sie, welche Passagen sie wörtlich nimmt und welche nicht? Wie machen ihre "Christfluencer"-Kolleginnen das? Oder ist dieses Cherry-Picking in der Kopfbedeckungsfrage dem Umstand geschuldet, dass es nicht zu der für "Christfluencerinnen" so typischen Hochglanzästhetik mit "Jesus Glow" und schönen langen, top-gestylten Haaren passt?

Auffällig jedenfalls ist, wie genüsslich Friesen hingegen die verdammenden Verse zur Homosexualität zitiert. Auf die Spitze trieb sie es in einem gemeinsamen Video mit dem "Ketzer", der sich im Februar 2023 "undercover" mit Kamera bei einem evangelischen queeren Gottesdienst eingeschlichen hatte. Zu seinen angewiderten Bemerkungen schnitt er Jasmin Friesen rein, die dazu die einschlägigen Homosexualität geißelnden Bibeltexte vorlas.

Kein Problem mit der lesbischen AfD-Frontfrau

Eigentlich ist das Christentum eine Religion, die zur Demut anhält. Die zwar auch Menschen zur Umkehr bewegen will, wenn sie sündhaft sind, aber sie nicht vorführt. Jesus von Nazareth hat das immer wieder verkörpert. Selbst wenn man also meint, Homosexualität sei eine Sünde – was die Verfasserin dieses Textes ausdrücklich zurückweist –, so ist das noch lange kein Grund, Homosexuelle vorzuführen, indem man optisch besonders schrille Teilnehmer von Pride-Paraden lächerlich macht.

Genau das aber tut der "Ketzer" mit Vorliebe. Er besucht Prides und versucht, dort Teilnehmer mit seinen Äußerungen zu provozieren und filmt sie dann: Je bunter die Haare, je gepiercter die Haut, umso besser. Nichts davon verkörpert das, wozu Jesus aufrief: Hasst die Sünde, aber liebt die Sünder.

All das müsste doch dazu führen, so könnte man denken, dass der "Ketzer" und Jasmin Friesen ein Problem mit Alice Weidel haben, der lesbischen Frontfrau der AfD. Doch weit gefehlt, wie das oben erwähnte Interview des "Ketzers" mit ihr zeigt. Vielleicht beruhigt er sich auch damit, dass Weidel zwar die Liebe zu ihrer Partnerin offensiv zeigt, zugleich aber betont, dass sie mit Genderthemen nichts anfangen kann.

In der AfD wird Alice Weidels Lebensmodell mit einer Frau an ihrer Seite offenbar nicht nur gutgeheißen. Denn auf AfD-Parteitagen fällt auf, wie sehr männliche Mitglieder betonen, dass sie mit einer Frau verheiratet sind, wenn sie sich um Posten bewerben.

Auch Jasmin Friesen hat eine Nähe zur AfD gezeigt: In einem Podcast namens "Realisten" lehnte sich zwar im Sommer 2025 ab, sich zur AfD zu bekennen, und äußerte sich gemeinsam mit dem Podcaster sehr kritisch über Björn Höcke. Doch als ihr der "Ketzer" im Januar – alles live gefilmt – am Telefon erzählte, dass er gerade auf dem AfD-Bundesparteitag mit Alice Weidel gesprochen habe und es dieser sehr gefallen habe, mit ihm über den Glauben zu sprechen, kreischte sie wie ein Fan-Girl eines Popstars. Außerdem hatte er Weidel dort angeboten, ein Gespräch mit Friesen zu führen.

Fraglos entwickeln sich diejenigen "Christfluencer", bei denen man auf eine zumindest gedankliche Nähe zur AfD stößt, zu einem wichtigen Teil des vorpolitischen Raums der Partei. Wie einflussreich eine solche Bewegung sein kann, sieht man bei den christlichen Nationalisten in den USA. Es ist also Wachsamkeit geboten.

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