Jüdisches Leben in Deutschland
"Wir leben und arbeiten seit einem Jahr im absoluten Ausnahmezustand"
Marina Chernivsky berät Menschen, die Antisemitismus erlebt haben. Im Interview erzählt sie, wie sich das jüdische Leben in Deutschland seit dem Anschlag vom 7. Oktober 2023 geändert hat
Teilnehmer der Mahnwache "Wir stehen an Eurer Seite, Mahnwache zum Schutz jüdischen Lebens" stehen vor der Kreuzberger Synagoge am Fraenkelufer
Teilnehmende einer Mahnwache zum Schutz jüdischen Lebens vor der Synagoge am Fraenkelufer in Berlin
Jörg Carstensen / picture alliance / dpa
Lena Uphoff
07.10.2024
4Min

Wie hat sich das jüdische Leben in Deutschland seit dem 7. Oktober 2023 verändert?

Marina Chernivsky: Für viele Menschen in der jüdischen Community war es ein Jahr der Trauer. Der 7. Oktober ist inzwischen ein Datum mit großer zeitgeschichtlicher Bedeutung für die jüdische Gemeinschaft weltweit. Viele Jüdinnen und Juden in Deutschland haben familiären Bezug nach Israel und stehen mit Menschen vor Ort in engem Austausch. In Israel finden fast jeden Tag Begräbnisse statt und es gibt dauernd weitere Anschläge. In der Diaspora ist nun klar geworden, wie fragil jüdisches Leben ist. Das Gefühl der Verwundbarkeit und der Bedarf an Schutz sind keine Erinnerungen, die der Vergangenheit angehören, sondern Teil der Gegenwart. Antisemitische Gewalt gab es auch schon vor dem 7. Oktober, aber durch die Ereignisse um den 7. Oktober verdichteten sich die Quantität und Qualität der Übergriffe: auf Straßen, im Klassenzimmer und in den Hörsälen, bei der Arbeit, im Bus und in Taxis. 2023 wurde seit Beginn der zivilgesellschaftlichen Dokumentation antisemitischer Vorfälle allein in den ersten Monaten nach dem Massaker der Höchststand verzeichnet.

Marina Chernivsky, Leitung Kompetenzzentrum Antisemitismuskritische Bildung und ForschungBenjamin Jenak

Marina Chernivsky

Marina Chernivsky, geboren 1976, ist Psychologin und Verhaltenswissenschaftlerin. Sie leitet das Kompetenzzentrum für antisemitismuskritische Bildung und Forschung in Berlin und ist Gründungsgeschäftsführerin der Beratungsstelle bei antisemitischer Gewalt und Diskriminierung OFEK e. V.

Wie geht die jüdische Community in Deutschland mit dem um, was in Israel passiert?

Die jüdische Community ist nicht homogen. Es gibt unterschiedliche politische Meinungen und Positionen. Eine geteilte Erfahrung ist meiner Ansicht nach die grundlegende Verschiebung in sozialen Beziehungen und die Verunsicherung im Alltag. Jüdinnen und Juden konnten in der Öffentlichkeit nie ganz selbstverständlich sichtbar jüdisch sein. Das gilt heute mehr denn je. Antisemitismus ist in hiesigen sozialen Räumen ein Problem. Das veranlasst Menschen zu mehr Sicherheitsmaßnahmen. Gleichzeitig hören wir jüdische Stimmen, es gründen sich neue Kollektive und Projekte, jüdische Räume werden zunehmend aufgesucht.

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Sie sind Gründerin von OFEK, einer ersten Fachberatungsstelle für Betroffene von antisemitischer Gewalt und Diskriminierung. Welche Auswirkungen hat der 7. Oktober auf Ihre Arbeit?

Der 7. Oktober stellt für die jüdische Gemeinschaft einen tiefen Einschnitt dar. Dieser legt sich auf weitere weitreichende Zäsuren – den Anschlag in Halle im Jahr 2019 oder den Krieg in der Ukraine. Unsere Arbeit war immer schon direkt verbunden mit solchen Entwicklungen. Es ist nicht nur die offene Gewalt, die einwirkt, sondern auch die grundsätzliche Benachteiligung und Einschränkung der Grundrechte wie die der Sicherheit und Teilhabe in allen Bereichen des öffentlichen Lebens. Das bringt viel Belastung, Verunsicherung und Zukunftsangst mit sich. Diesem Umstand müssen wir nun gerecht werden. Wir beraten mehr und intensiver als je zuvor. Ich denke, wir haben in diesem Jahr mit einer fortwährenden kollektiven Grenzerfahrung zu tun, verstärkt durch die realen Erfahrungen offener Bedrohung und Angst vor weiteren Anschlägen. Ratsuchende berichten dauernd von übergriffigem Verhalten in Beziehungen, auf offener Straße, in Kindertagesstätten, Schulen, Hochschulen, Kunst- und Kulturbetrieben. Es gibt mehr Fälle physischer Gewalt und tätlicher Angriffe. Schulen, Hochschulen, Wohlfahrtsverbände, Sportvereine, Kulturhäuser, Parteien melden ebenfalls einen dringenden Handlungsbedarf

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Gerardo Vieyra/NurPhoto/picture alliance

Gestern haben wir unsere Beratungsstatistik veröffentlicht. In den zwölf Monaten nach dem 7. Oktober 2023 verfünffachte sich unser Beratungsaufkommen gegenüber dem Vorjahr. 90 Beratungsfälle beziehen sich auf die Kategorie extremer Gewalt, 194 Beratungsfälle handeln von sonstigen Formen tätlicher Gewalt einschließlich Nötigung und Drohung. Bei 1.427 Fällen geht es um verletzendes Verhalten als Teil des Alltags von Betroffenen. Diese Zahlen stellen aber nur die Spitze des Eisbergs dar; die Schwelle, sich bei einer Beratungsstelle zu melden, ist viel zu hoch. Die Beratungsstatistik spiegelt aber den Ausnahmezustand, in dem die jüdische Gemeinschaft in Deutschland sich befindet.

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Wie nehmen Sie die Auseinandersetzung mit Antisemitismus in Deutschland wahr?

Nicht erst seit dem 7. Oktober, sondern ganz grundsätzlich fällt es Menschen schwer, Antisemitismus als real existierendes Problem anzuerkennen und seine Wirkung ernst zu nehmen. Ich denke, dass Jüdinnen und Juden nicht wirklich zugehört und auch nicht geglaubt wird. Die Angst vor dem Antisemitismusvorwurf wiegt schwerer als die Einsicht in die Wirkung antisemitischer Bedrohung für Jüdinnen und Juden. Diese Perspektiven- und Machtasymmetrie fällt nach dem 7. Oktober noch tiefer aus.

Wie müsste sich der Umgang mit Antisemitismus in Deutschland ändern?

Das Verständnis von Antisemitismus darf sich nicht nur an einzelnen Vorfällen orientieren. Es ist wichtig zu verstehen, dass Antisemitismus sich zunehmend normalisiert und immer radikaler wird - in allen gesellschaftlichen Bereichen. Antisemitische Vorfälle sind keine Ausnahme, sondern Teil sozialen Handelns. Hören wir den Betroffenen zu, haben wir die Chance, eine andere Perspektive auf Antisemitismus einzunehmen, die sich von reflexartigen Positionierungen befreit und ein Umdenken ermöglicht. Schulen, Hochschulen, Gedenkstätten, kulturelle Orte müssen auch für jüdische Personen sicher sein und sich auf die jüdische Gemeinschaft zubewegen.

Worauf hoffen Sie, wenn Sie auf die nächste Zeit blicken?

Wir leben und arbeiten seit einem Jahr im absoluten Ausnahmezustand. Ich hoffe, dass Politik und Gesellschaft verstehen, was am 7. Oktober und im Jahr danach geschehen ist. Das Vertrauen in den Staat und in die Gesellschaft ist brüchiger geworden – dieser Verlust an Vertrauen muss dringend aufgearbeitet werden. Wir werden weiterhin darauf setzen, professionelle Betroffenenberatung auszubauen und Institutionen darin zu unterstützen, Antisemitismus in ihren eigenen Reihen entgegenzuwirken. Wir müssen dafür einstehen, dass die Auseinandersetzung mit Antisemitismus in Politik und Gesellschaft nicht aufhört.

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