"Man lässt sich eine Lederhaut wachsen"
Es benötigt zunehmend Mut, eine Kippa in der Öffentlichkeit zu tragen.
Hannes P. Albert/dpa/picture alliance
80 Jahre Auschwitz-Befreiung
"Man lässt sich eine Lederhaut wachsen"
Viele junge Jüdinnen und Juden haben sich aus der deutschen Gesellschaft zurückgezogen, sagt Richard Ettinger, Chefredakteur des jüdischen Studierenden-Magazins EDA. Warum das so ist und worauf er hofft
Tim Wegner
27.01.2025
5Min

chrismon: Wurde in Ihrer Familie über die Shoah gesprochen?

Richard Ettinger: Nur in der Familie meiner Mutter. Wir stammen aus dem nordöstlichen Zipfel Österreichs, meine Großmutter ist mit einer Gruppe junger Menschen vor den Nazis zu Fuß geflüchtet - bis nach Zentralasien. Sie hat oft erzählt - das ist mir bildlich im Kopf geblieben -, dass sie sofort in die Straßengräben gesprungen sind, sobald sie ein Flugzeug hörten, weil sie nie wussten, ob sie womöglich angegriffen werden. Damals wurde auf alles geschossen. In der Familie meiner Großmutter wurden auch Menschen von den Nazis abgeholt und sind nicht mehr wiedergekommen. Wir haben noch Briefe von einer Mutter an ihre Tochter mit dem Hilferuf: "Hol uns hier raus, wir werden es nicht schaffen." Beeindruckende Worte.

In der Familie Ihres Vaters war die Vergangenheit kein Thema?

Da gab es ein großes Schweigen. Die Eltern meines Vaters waren die einzigen Überlebenden. Wie sie das geschafft haben, weiß man nicht. Meine Großmutter hatte ein Marmeladenglas, das gefüllt war mit Asche von einer bestimmten Stelle in Luzk im Westen der Ukraine, wo sie herkam. Sie wusste, dass da ihre Familie und andere aus der Stadt zusammengetrieben und auf der Stelle verbrannt worden sind. Meine Tante hat dafür gesorgt, dass das Glas jetzt im Holocaust Memorial Museum in Washington steht, damit es auch für andere zugänglich ist. Viel mehr ist nicht bekannt.

Privat

Richard Ettinger

Richard Ettinger, geboren 1990, studiert Literaturwissenschaften in Berlin und ist Chefredakteur von "EDA", dem Magazin der Jüdischen Studierendenunion Deutschland (JSUD). Eda bedeutet auf Hebräisch "Glaubensgemeinschaft".

War die Familiengeschichte etwas, das Sie als Jugendlicher von Freunden trennte?

Ich bin in der Nähe von Düsseldorf groß geworden in einem multikulturellen Umfeld. In meiner Schule und in meinem Freundeskreis gab es viele Nationalitäten und Religionen, ich habe mich da sehr wohlgefühlt. Trotzdem war mir bewusst, dass diese deutsch-jüdische Identität besonders ist - spätestens als ich anfing, in die jüdischen Gemeinde zu gehen, ins Jugendzentrum, wo ich mehr mit der Religion zu tun hatte als in der Familie und andere Jugendliche kennenlernte mit ähnlichen Familiengeschichten. Damals habe ich auch zum ersten Mal über Antisemitismus nachgedacht. In der Grundschulzeit wurde ich nie angegriffen, in der Gymnasialzeit war das anders. Da bin ich ein bisschen in andere Kreise gekommen. Dass auf dem Schulhof "Jude" als Schimpfwort gebrüllt wurde, das gab’s immer. Das habe ich als junger Typ so ein bisschen abgetan. Man lässt sich eine Lederhaut wachsen.

Sie sind Chefredakteur des EDA-Magazins, dem Magazin der Jüdischen Studierendenunion Deutschland (JSUD). Wie nehmen Sie das junge jüdische Leben hier wahr?

Die JSUD hat sich 2017 gegründet, um eine junge jüdische Stimme in die Gesellschaft zu bringen. Es machten immer mehr Studierende mit, es wurde immer besser, größer, und die Gründung des EDA-Magazins 2023 hat dem Ganzen noch eine Art Seele gegeben. Aber das Attentat auf die Synagoge in Halle 2019 war ein Einschnitt. Und dann der 7. Oktober 2023. Ausgerechnet dieser 7. Oktober war mein erster Arbeitstag als Chefredakteur. Seitdem hat sich viel verändert.

Was hat sich verändert?

Ein Beispiel: Im März finden Vorstandswahlen in der JSUD statt. Da machen unglaublich viele Leute im Wahlkampf mit und kandidieren, einfach, weil sie dabei sein wollen. Aber das ist rein innerjüdisch. Viele haben sich aus der Gesellschaft zurückgezogen. Denn egal, ob sie sich bei den Linken, Grünen, der CDU, SPD oder FDP engagieren, in Vereinen oder in der queeren Bewegung, unser Selbstverständnis hat sich verändert. Jetzt steht im Vordergrund, für die eigene jüdische Identität und Religion einzustehen, und das fällt schwer, sobald man innerhalb der eigenen Partei dafür angefeindet wird.

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Können Sie das konkreter beschreiben?

Ich bin viel in der künstlerischen Szene unterwegs, ich mache gern bei Open Mics mit, trage Poetry in englischer Sprache vor. Vor dem 7. Oktober waren das Safer Spaces. Aber ich habe gemerkt, dass auch diese Räume sehr stark polarisiert sind.

Was heißt Safer Space in diesem Zusammenhang?

Safer Space heißt, dass man sicher sein kann, dass man da nicht diskriminiert wird. Das ist wichtig, weil man auf der Bühne sehr persönliche Texte vorträgt. Nach dem 7. Oktober haben sich 90 Prozent dieser Veranstalter und auch Onlinemagazine, denen man Texte schicken kann, sehr einseitig auf die palästinensische Seite geschlagen mit Aussagen wie "Stop the Genocide", "Free Germany from German Guilt". Es interessiert niemanden, dass auch ich das Handeln der aktuellen israelischen Regierung häufig kritisch sehe, allein dass ich jüdisch bin, reicht aus, um mich zu stigmatisieren. Seitdem ist die künstlerische Szene für mich verschlossen. Wir veranstalten für unser Magazin-Release-Partys jetzt in jüdischen Räumen und machen da Open Mics. Aber wir gehen auch nach außen und arbeiten gerade daran, dass unser Magazin in den Unis zugänglich wird, damit wir zeigen können, wie pluralistisch die jüdische Gemeinschaft ist.

Wie wird in den jüdischen Gemeinden über Gaza, über den Krieg und die israelische Regierung diskutiert? Wird überhaupt diskutiert?

Es wird viel debattiert und es gibt sehr unterschiedliche Positionen zum Konflikt mit den Palästinensern. Vieles rückt in den Hintergrund, weil wir den gemeinsamen Nenner haben: Wir müssen uns gegen den Antisemitismus wehren. Denn es wird ja nicht nur skandiert "Palestine will be free" – was aus meiner Sicht durchaus eine berechtigte Forderung ist – sondern auch "From the River to the Sea". Das würde die Auslöschung Israels bedeuten. Da kann niemand zustimmen. Aber was zum Beispiel die Bundestagswahl angeht, ist auch bei uns das ganze politische Spektrum vertreten. Es gibt sogar Juden, die AfD wählen.

Warum?

Wir haben in Deutschland ja nicht nur den urdeutschen rechtsextremen Antisemitismus. Sondern auch einen aus den arabischen Ländern importierten. Ich bin früher viel in Schulen gegangen, um mit Jugendlichen zu diskutieren, etwa im Rahmen der Aktion "Meet a Jew". Da haben uns geflüchtete syrische Jugendliche von syrischen Cartoons erzählt: Da ist der "Gute" der mit der Nazibinde, und der "Schlechte" ist der Jude, und der wird verprügelt. Die Kinder werden von früh an indoktriniert. Da ist es wichtig, dass wir mehr Aufklärungsarbeit in der Schule leisten und dass die Integration besser funktioniert. Aber bei einigen Juden greifen leider die AfD-Parolen und sie denken, aha, wenn die AfD dafür sorgt, dass weniger Geflüchtete kommen, dann führt das zu mehr Sicherheit für uns.

Was sagen Sie dazu?

Ich finde das sehr kurzsichtig. Denn ein nationalistisches, rechtspopulistisches Parteiprogramm wird über kurz oder lang alle Minderheiten treffen, also auch uns. Ich finde das beängstigend.

Was bringen Gedenktage wie der 80. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz?

Sie sind wichtig, um daran zu erinnern, was war. Wir haben wieder einen Rechtsruck, und wir verlieren die Zeitzeugen. Jetzt liegt es an uns, dass wir Menschen die Möglichkeit geben, zu erfahren, was passiert ist. Aber so ein Gedenktag allein kann es nicht retten.

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