Holocaust-Zeuge
Und dann kam er doch zurück
Albrecht Weinberg erlebte als Kind in Ostfriesland den Holocaust und ging nach dem Krieg nach New York. Im hohen Alter kann er endlich reden über das, was damals passiert ist
Holocaust Überlebender - Albrecht Weinberg
Hannes von der Fecht, Marie Kröger
30.05.2024
8Min

Albrecht Weinberg kann es kaum abwarten, endlich seine neuen Schlittschuhe einzulaufen. Winter 1935, Albrecht ist neun Jahre alt. Wiesen und Dächer in seinem Dorf in Ostfriesland sind über Nacht zugeschneit. Aber das Eis unter seinen Füßen bricht. Verzweifelt schreit er aus dem eisigen Wasser des Kanals um Hilfe. Zufällig stehen an einer Böschung seine Schulfreunde. Sie grölen auf Plattdeutsch: "Sitzt ein Jude im Kanal, sitzt ein Jude im Kanal, wenn er ertrinkt, helfe ich ihm nicht!" So schreibt es Albrecht Weinberg in seinem Buch "Damit die Erinnerung nicht verblasst wie die Nummer auf meinem Arm".

"Der Jude Weinberg"

In den folgenden zehn Jahren ermordeten die Nazis fast seine gesamte Familie. Seine sechsjährige Großcousine erschossen sie im Ghetto von Minsk. Der liebevolle ­Vater ­bezahlte die Hoffnung, die Nazis ­würden doch bestimmt seine Verdienste im ­Ersten Weltkrieg honorieren, mit ­seinem ­Leben. ­Albrecht Weinberg wurde als Heran­wachsender in das Konzentrationslager ­Auschwitz-Monowitz deportiert, nach Mittel­bau-Dora und Bergen-­Belsen. Nur er, seine Schwes­ter Frieda und sein Bruder Dieter überlebten. Dieter starb 1947.

"Never ever again", wollte der Jude aus Ostfriesland etwas von Deutschland wissen. Weit weg wollte er von den SA- und SS-­Helfer*innen, die ihm hier täglich unbestraft über den Weg laufen würden. 1947 emigrierte er zusammen mit Schwester Frieda, genannt Friedel, nach New York. Dorthin, wo ihn ­niemand mehr "der Jude Weinberg" nannte, sondern einfach nur "Mister Weinberg". Er war sich sicher, dass der Antisemitismus nicht so schnell aus den Köpfen der Menschen in Deutschland verschwinden würde.

Ein erstes Mal brach er sein Versprechen ­"Never ever again" 1985, als er zu einer Erinnerungswoche nach Leer kam. 2012, mit 86 Jahren, musste er eine schwere Entscheidung treffen: Die Pflegekosten für seine schwer kranke Schwester Friedel wurden in den USA unbezahlbar. Widerwillig, aber in Sorge um sie, packte er sein Leben in sieben Koffer und ging mit ihr zurück in das Land der "Feinde".

Auch heute tragen viele Juden in Deutschland aus Angst vor Übergriffen keine Kippa, keine jüdischen Symbole am Körper. "Du Jude!" wird nicht selten als Schimpfwort in Schulen benutzt. Jüdische Einrichtungen, Kitas und Schulen stehen unter Polizeischutz. In den letzten 20 Jahren haben sich antisemitische Übergriffe verdoppelt. Seit dem 7. Oktober 2023, dem Terrorangriff der Hamas auf Israel, trauen sich viele Juden nicht mehr, in der ­Öffentlichkeit Hebräisch zu sprechen.

Mit jungen Menschen verbindet ihn viel: Lehrerin Anke Chudzinski-Schubert und die früheren Schülerinnen alina Grünwald und Regina-Marie Roßbach (v.l.n.r.) sind zu Besuch

An einem grauen Tag im Februar 2024 sitzt Albrecht Weinberg, fast 99, in seinem "Lazy Chair" im Wohnzimmer seiner Wohngemeinschaft in Leer, Ostfriesland. Im großen Wandschrank stehen Bücher über den Holocaust. Darunter die "Briefe nach Breslau" von Maya Lasker-Wallfisch. Ein Buch über ihre Kindheit und das Schweigen ihrer Eltern, die den ­Holo­caust überlebt hatten.
Geschwiegen hat auch Weinberg – 66 Jahre ­ lang. Nicht einmal als die Shoah Foundation des Regisseurs Steven Spielberg für den Dreh von "Schindlers Liste" mit Zeitzeugen sprechen wollte, konnte Weinberg erzählen, was er erlebt hatte. Er gründete zusammen mit einem Bekannten einen Fleischerladen, die Schwester arbeitete als Näherin und als Schreibkraft, sie lebten zusammen, keiner von beiden heiratete. "You must forget, du musst vergessen" wurde ihnen immer wieder als ­Devise vorgeschlagen.

Bis er in Leer Gerda Dänekas begegnete, der neuen Pflegerin seiner Schwester Friedel. Sie begriff sofort, dass die Geschwister eine besondere Geschichte in das Pflegeheim mitbrachten. Im Gegensatz zu ihren Kolleginnen schüchterte sie die Vergangenheit der Weinbergs nicht ein. Sie fing an, sich mit dem Holo­caust zu beschäftigen, las Bücher und informierte sich über das Holocaust-Syndrom. Eine posttraumatische Belastungsstörung, mit der die Betroffenen in ihren Gedanken und Träumen das Grauen immer wieder durchleben.

Das letzte Foto von den drei Geschwistern Albrecht, Frieda und Dieter. Darunter die Eltern

Dann starb Friedel Weinberg unerwartet nach drei Monaten. Und Albrecht Weinberg war mit 87 Jahren zum ersten Mal in seinem Leben ohne seine Schwester an dem Ort, an dem alles angefangen hat, wo die Synagoge niedergebrannt wurde, wo die Kinder ihn ­ertrinken lassen wollten.

Er fasste Vertrauen zur Pflegerin Gerda Dänekas, öffnete sich das erste Mal in seinem Leben und sprach über seine Vergangenheit. Dänekas ermutigte ihn, öffentlich darüber zu reden, und fuhr mit ihm zur Gedenkstätte Bergen-­Belsen. Seitdem hat er viele Gedenkveranstaltungen besucht. Bis vor kurzem stand Albrecht Weinberg mindestens zweimal die Woche in einer Schule und hielt Vorträge. Immer wieder erzählte er von den Gräueltaten, von den Herzinfarkten in der Pogromnacht und von den Seuchen in den KZs.

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Das Sehen fällt ihm heute schwer, das Gehen auch, aber Reden und sich Erinnern ­funktionieren gut. Wenn man mit Albrecht Weinberg spricht, beugt er sich leicht vor, dann entsteht da plötzlich so eine Nähe, die aus dem fremden 99-Jährigen einen vertrauten Menschen macht, dem man etwas erzählen möchte. Vielleicht liegt es an seiner ruhigen Stimme, die im Wechsel ostfriesisch klingt oder etwas amerikanisch, an seinen persönlichen Fragen: "Wie gehts dir denn ­eigentlich?" – und an seiner Haltung, die eine Wärme erzeugt, so als wäre er der Onkel oder Großvater.

Friedel und Albrecht haben einander noch ein Versprechen gegeben: Niemals wollten sie Kinder in die Welt setzen. Weinberg hat nur noch wenige entfernte Angehörige.

Während des Corona-Lockdowns war ­Al­brecht Weinberg deswegen völlig isoliert. Er hatte sich aber auch deshalb zurückgezogen, weil er nicht ertragen hätte, im Pflegeheim ­jemandem von damals, jemandem von den Nazis zu begegnen. Gerda Dänekas wollte ihm Gutes tun, sie reichte ihm mit Schutz­maske selbst gekochtes Essen durch sein Fenster. Da verpfiff sie jemand bei der Heimleitung, und sie erhielt eine Warnung.

Ihr Alltag ist von Ritualen geprägt

Dann hatte Gerda eine Idee: eine Wohngemeinschaft. Sie mietete heimlich eine Dreizimmerwohnung an. Am Todestag von Friedel erzählte sie der Heimleitung, dass es ein jüdi­sches Ritual sei, den Friedhof zu besuchen. Sie holte Albrecht Weinberg aus dem Heim ab, ging mit ihm auf den Friedhof, danach zeigte sie ihm die Wohnung. Überrumpelungstaktik. "Albrecht ist viel zu bescheiden, anders hätte er nie für die Wohnung zugesagt. Er hätte mir keine Umstände machen wollen", erzählt sie. Wenig später bezogen Albrecht Weinberg und Gerda Dänekas ihre Wohnung.

Ihr Alltag ist von Ritualen geprägt. "Im Sommer leben wir auf dem Balkon", sagt ­Dänekas. Abends liest sie ihm vor, und sie ­gucken zusammen die Tagesschau.

Aber es gibt auch Tage, an denen Albrecht Weinberg seine Vergangenheit einholt, wo die dunklen Erinnerungen stärker sind als sonst. So wie neulich, als in Leer auf dem jüdischen Friedhof die Grabsteine geschändet wurden. "Es wird mit dem Antisemitismus nie auf­hören", sagt Weinberg. An solchen Tagen vergräbt er sich, will nicht reden und fühlt sich hoffnungslos.

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Besonders emotional war die Reise nach ­Auschwitz, an den Ort, an dem seine Eltern ermordet wurden. Weinberg und Dänekas trafen dort auf eine Schulklasse aus Israel. ­Ohne ein Gespräch erkannten die Schülerinnen und Schüler intuitiv, mit welcher Geschichte Weinberg an diesen Ort kam. Dann, erzählt er, zückten sie ihre Reise-Thora und hielten zusammen mit ihm das Kaddisch für seine ermordeten Eltern, ein jüdisches Totengebet.

Gerda Dänekas und Albrecht Weinberg in ihrem Strandkorb. Auf dem Balkon verbringen sie den Sommer

"Ich bin aber kein frommer Jude", betont Weinberg immer wieder. Sagt: "Meinen Glauben an Gott habe ich im KZ verloren." Trotzdem fastet er an Jom Kippur einen ganzen Tag, trotzdem hängt an Weinbergs Zimmertür eine Mesusa, eine kleine Box, in der ein Gebet geschrieben steht. Beim Verlassen oder Kommen berührt man es und bittet damit Gott um Schutz. Und jedes Jahr zu Chanukka zündet er zusammen mit Gerda die Kerzen an, spricht dabei das Kaddisch, in dem nicht nur der Toten gedacht wird, sondern auch Gott.

In Ostfriesland haben vor der NS-Zeit überdurchschnittlich viele Juden gelebt, steht in Weinbergs Buch. Keine der elf zerstörten Synagogen wurde wieder aufgebaut. "Bereits 1940 wurde es hier ‚judenrein‘", sagt Weinberg, während sich Gerda Dänekas laut fragt: "Wie soll es denn hier auch jemals wieder ­jüdisches Leben geben?!"

2022 fuhr eine Schulklasse mit ihm nach Israel, ausgerechnet von dem Gymnasium, das er damals als Jude von einem auf den anderen Tag verlassen musste. Zusammen besuchten sie die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. Der "Stern"-Journalist Nicolas Büchse, der das Buch mit Weinberg schrieb, begleitete die Reise.

Immer wieder setzten sich Politiker dafür ein, die Schule umzubenennen, doch letztlich brachte die ­Schülervertretung des Gymnasiums selbst den Antrag erfolgreich in den Kreistag. Seit 2020 heißt Weinbergs ehemalige Schule "Albrecht-Weinberg-Gymnasium". An drei Projekttagen pro Jahr müssen sich alle Schülerinnen und Schüler entweder mit dem Leben von Albrecht Weinberg, dem Holocaust oder dem Judentum beschäftigen. Anderswo mag man solchen Unterricht für nervige ­Belehrung halten, hier keine Spur davon. Wie einen "Holly­woodstar" behandeln die Schüle­rinnen und Schüler Albrecht Weinberg, erzählt Gerda Dänekas. Er muss immer bei vielen Selfies mitmachen. Doch am liebsten sprechen sie mit ihm über ihre Sorgen. Weinberg lehnt sich bei jedem Einzelnen vor, hört in Ruhe zu, schenkt ihnen seine warme Aufmerksamkeit. Die meisten nennen ihn "Albi".

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Obwohl die Schüler der Israelreise bereits die Schule verlassen haben, wollen sie in Kontakt mit Weinberg bleiben. Einige kommen zu seiner Buchlesung. Und andere besuchen ihn zu Hause, so wie Alina Grünwald, 20, und Regina-­Marie Roßbach, 19. Grünwald: "Ich ­rede gern mit ihm. Meine Urgroßeltern ­haben das Thema für meine Großeltern eher tot­geschwiegen." Roßbach meint: "Meine Großeltern haben sich eher mit den ­allgemeinen Kriegsfolgen beschäftigt."
Heute – 89 Jahre nachdem Albrecht Weinberg fast im eisigen Wasser des Kanals er­trunken wäre – sind es ausgerechnet Kinder und Jugendliche, mit denen ihn viel verbindet. Gerettet hat ihn damals übrigens der Nazi-­Vater seines Freundes.
Gerda Dänekas verschwindet kurz ins ­Nebenzimmer. Ein Freund und Hobby­historiker ist am Telefon, es wird Plattdeutsch gesprochen. Albrecht Weinberg beugt sich wieder nach vorne und sagt: "Mir ging es noch nie so gut wie mit Gerda."

Albrecht Weinberg, ­Nicolas Büchse: "Damit die Erinnerung nicht verblasst wie die Nummer auf meinem Arm". Eine wahre Geschichte vom Holocaust, dem Überleben und einem Versprechen, das die Zeit überdauert. Penguin Verlag 2024, 288 Seiten.

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Welch eine Genugtuung !
Albrecht Weinberg Schule.
Wie kann man das heute noch toppen ? !

Dankbarkeit und Liebe sind angebracht.