Rund 20 Zehnjährige sitzen im Lotossitz im Kreis. Es ist mucksmäuschenstill. Ein Mädchen hat ihre Arme auf ihren Oberschenkeln abgelegt, die Handflächen zeigen nach oben, Zeigefinger und Daumen formen einen Kreis. "Lasst uns gemeinsam einen tiefen Atemzug nehmen – bis in den Bauch runter … halten … dann wieder ganz langsam auuusatmen", murmelt Grundschullehrerin Esther Gerdes, die zwischen den Kindern hin und her streift. "Ahhh…" und "Ohhh…", tönt es durch die Sporthalle.
2024 hat Esther Gerdes zusammen mit Yogastudio-Leiter Thorsten Kellermann an der Nikolaus-Groß-Schule in Köln Yoga als eigenes Schulfach eingeführt. "Lieblingsfach Matte" heißt das dann – im ersten Jahr komplett durch Spenden finanziert, inzwischen wird das Projekt von der Techniker Krankenkasse (TK) gefördert. Eine gute Investition: Wer schon in der Grundschule regelmäßig Zeit für seine Gesundheit aufbringe, werde später einfach gesünder sein, begründet das Frank Wirtz von der TK.
Auch Kindern im Grundschulalter fällt es heutzutage immer schwerer, sich zu konzentrieren und innerlich zur Ruhe zu finden. Ständig wach, ständig aufmerksam, ständig auf Adrenalin, das kann auf Dauer ganz schön anstrengend werden für die Psyche. Untersuchungen, die sich mit mentalen Problemen bei Kindern und Jugendlichen beschäftigen, bestätigen das regelmäßig.
Die Yogastunden sind im Lehrplan integriert
Thorsten Kellermann und sein Team gaben zunächst dem Kollegium der Nikolaus-Groß-Schule im Rahmen eines Pilotprojekts ein Jahr lang Fortbildungen und stellten Video- und Lehrmaterial bereit. Das Ziel: Die Lehrkräfte sollten nach einem Jahr die Yogastunde für ihre Schülerinnen und Schüler vollends übernehmen und anleiten.
"Unsere Yogastunden sind in den Lehrplan mit integriert, wir unterrichten Yoga jetzt im Rahmen der 3. Sportstunde", berichtet Kellermann. Er, seine Co-Projektleiterin Anna Stechert und ihr Team bieten "Lieblingsfach Matte" inzwischen schon an drei Kölner Grundschulen an.
In der Sporthalle der Nikolaus-Groß-Schule ist nach der anfänglichen "Zeit der Stille" inzwischen wieder Bewegung angesagt. Gerdes’ Schüler Tyler war schon die ganze Zeit ganz ungeduldig auf seinen Unterschenkeln herumgerutscht. Endlich – Gerdes läutet eine kleine Spieluhr – ist es vorbei.
"Na, wie war die Zeit der Stille heute?", fragt Gerdes jede und jeden Einzelnen in der Runde. "Gut!", "Krass gut!", "Ultra ultra krass gut!", "Super duper mega krass gut!", rufen vier Jungs nacheinander – "So mittel", murmelt eine Schülerin leise in einer Ecke. Jetzt kommt der anstrengende Part: Gerdes und ihre Schülerinnen turnen nacheinander zehnmal den "Sonnengruß" durch, zwölf Übungen, die fließend ineinander übergehen.
"Komm, Paul! Achtmal haben wir schon geschafft …", ruft Gerdes mit herabgesenktem hochrotem Kopf aus dem "Herabschauenden Hund". Jede Bewegung wird reihum von einem Satz begleitet: "Wir begrüßen die Sonne … wir begrüßen die Erde … der Hund schaut erst nach unten … dann blickt er in die Ferne …" Manchmal ist es kurz ungewohnt still, weil ein Kind seinen Satz vergessen hat oder abgelenkt ist. Direkt kommt ein "Streck dich nach oben, die Hände - Namaste, Mann!" aus der Ecke geschossen.
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Projektinitiator Thorsten Kellermann selbst hat erst Anfang 30 mit Yoga begonnen. "Ich war damals unglücklich und auf Sinnsuche und wäre froh gewesen, hätte mir jemand Yoga schon mal in der Schule gezeigt!", meint der gebürtige Dinslakener. Als ihn nach seinem Sportstudium Menschen mit Rückenproblemen fragten, ob er ihnen Yogaübungen zeigen könne, begann er in seinem Wohnzimmer die ersten Kurse zu geben: "Yoga war damals noch nicht so verbreitet wie heute, wo es an jeder Ecke ein Yogastudio gibt." 2010 eröffnete Kellermann dann ein eigenes Yogastudio – und zwölf Jahre später telefonierten er und Esther Gerdes zum ersten Mal. "Ich habe damals direkt gespürt, dass da eine Verbindung ist", sagt der heute 60-Jährige.
Total entspannt von heute auf morgen? Nein
Bei "Lieblingsfach Matte" gehe es nicht darum, die Welt zu verändern – das sei ihm schon klar, meint Kellermann. "Wir versuchen den Kindern Werkzeuge und Strategien an die Hand zu geben, wie sie eigenes Wohlbefinden mit beeinflussen können." Yoga solle den Kindern einen Zugang zu ihrem Körper, ihrem Atem und zu einem inneren Ort geben, an dem sie sich heil und geborgen fühlen.
"Auch mir hilft der Yogaunterricht", bestätigt Gerdes, die selbst Mutter von vier Kindern ist. "Bei uns zu Hause geht es eigentlich immer zu wie in einer Jugendherberge – wenn ich koche, dann meistens für sieben oder acht Leute", sagt die 52-Jährige und lacht. "Beim Laternenbasteln erzählten mir erst letzte Woche zwei Eltern, dass ihre Jungs zwischendurch zu Hause einfach mal Yoga machen." Klar, so ein paar Sonnengrüße und Atemübungen vor dem nächsten Youtube-Video … warum auch nicht? Ihre ehemaligen Schülerinnen und Schüler fänden Yoga, Meditation und Atemübungen auch heute noch "cool", meint sie. Und: "Eine entspannte Lehrerin hat natürlich noch mal mehr ein geöffnetes Herz, um die Kinder wirklich zu sehen", davon ist Gerdes überzeugt.
Es sei nicht so, dass alle ihre Schülerinnen und Schüler durch die Yogastunden nun von heute auf morgen "total entspannt und konzentriert sind und einen Spagat können". Es brauche beharrliche Übung. Allerdings hört und erlebt sie durchaus, dass sich der Yogaunterricht positiv im Alltag der Kinder widerspiegelt. Einer ihrer Schüler – ein eher schwieriger, verschlossener und häufig schlecht gelaunter Junge – habe sie nach einer Yogaübung, bei der man mit dem Bewusstsein durch den einschlafenden Körper wandert, während der Geist wach und aufmerksam bleibt, mit ganz weichen, sanften Augen angesehen und gesagt, er sei noch nie in seinem Leben so entspannt gewesen. Inzwischen können ihre Zweitklässler schon ganze vier Minuten still und unbeweglich sitzen – angefangen haben sie mit nur einer Minute.
Bei den Schülerinnen und Schülern in der Sporthalle ist nach den Strapazen erst mal Erholung angesagt. Alle Kinder legen sich auf ihren Matten lang auf den Rücken – "Geil, endlich pennen", tönt es aus der Ecke von einem Schüler. Eine Mitschülerin murmelt etwas leiser: "Jaa, hinlegen, das ist immer so schön." Jedes Kind hat seinen eigenen Yogaklotz in seiner Lieblingsfarbe und soll sich diesen auf den Bauch legen. "Versucht mal, ganz bewusst zum Klotz zu atmen", leitet Gerdes an, "nein, nicht auf die Stirn, Tyler! Auch nicht auf die Nase …"
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Zum Abschluss der heutigen Yogastunde gibt es ausnahmsweise noch etwas ganz Besonderes: "Wir machen jetzt noch immer zu zweit eine Massier-Übung. Dafür schnappt sich jeder bitte mal einen Partner", bittet Gerdes die Runde. Schon bricht das blanke Chaos aus – die Kinder rennen auf Socken durch die Halle und suchen ihre Übungspartner. "Hey, ich bin auch noch da, zu mir kann auch jemand", beschwert sich die 52-Jährige gespielt sauer – da sind ihr schon fünf Kinder auf den Schoß gehüpft.



