Kunstwerk von Käthe Kollwitz
Hingesehen, wo andere wegguckten
Käthe Kollwitz hat den hart arbeitenden Menschen der beginnenden Industrialisierung Denkmäler gesetzt – empathisch, nie kitschig. Das muss man erst mal hinkriegen
Käthe Kollwitz "Brustbild einer Arbeiterfrau mit blauem Tuch", 1903
Käthe Kollwitz: "Brustbild einer Arbeiterfrau mit blauem Tuch", 1903
Käthe Kollwitz Museum Köln, Inv.-Nr. 70300/87011
Lukas Meyer-BlankenburgPrivat
Aktualisiert am 24.04.2024

Käthe Kollwitz kann auch bunt. Das ist durchaus ungewohnt bis überraschend. Denn viele denken bei der berühmten Künstlerin sofort an pechschwarze Figuren, dunkle Silhouetten geknechteter Menschen, an Schwarz-Weiß-Drucke und verspüren einen leichten Ruß­geschmack auf der Zunge.

Vielleicht ist "bunt" auch hier ein wenig übertrieben. So richtig farbenfroh ist die Angelegenheit ja nicht gerade. Und auch das Sujet ist das gewohnte: Wie nur wenige Künstler ihrer Zeit und so eindringlich und anschaulich wie kaum jemand hat Käthe Kollwitz Leben und Leid der deutschen Arbeiterklasse um 1900 dargestellt.

Auch beim "Brustbild einer Arbeiterfrau mit blauem Tuch" von 1903 machen die Farben keine gute Laune, sondern verstärken das aussichtslose Alltagsgrau, durch das sich die abgebildete Dame wohl kämpfen muss. Hat Kollwitz hier eine konkrete Person auf die Lithografie, den Steindruck, gebannt oder ein anonymes Stellvertreterinnenporträt geschaffen?

Vermutlich Letzteres. Vor dem schwarzen Hintergrund wirkt die Haut extrafahl. Das von oben rechts einfallende Licht lässt zwar Stirn und Nase markant hervortreten. Es verstärkt vor allem aber die Schatten im Gesicht der Arbeiterin. Und das blaue Tuch gibt dem abgewandten Blick einen Stich ins Melancholische.

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In der Berliner Arztpraxis ihres Mannes, einem überzeugten Sozialdemokraten, bekam Käthe Kollwitz das Elend der Arbeiterinnen und Arbeiter tagtäglich vor Augen geführt. Sie selbst stammte aus einer gutbürgerlichen, ­preußischen Familie, wurde aber mit sozialdemokratischen Idealen ­erzogen. Ihr Vater finanzierte ihr gar, nachdem er schon früh das Zeichentalent seiner Tochter erkannt hatte, privaten Malunterricht. Ein seltenes Glück für Mädchen dieser Zeit. Erst ab 1919 durften Frauen an staatlichen Kunst­akademien studieren. Da war Käthe Kollwitz, geboren 1867, bereits auf der Höhe ihres Schaffens, gefördert freilich von wohlgesinnten Herren wie dem Maler Max Liebermann und Max Lehrs, Direktor des Dresdner Kupferstichkabinetts, die nach der Kunst und nicht nach dem Geschlecht urteilten. Ohne die Unterstützung der Männer wäre es wohl auch für ­Kollwitz kaum möglich gewesen, in der Kunstwelt anerkannt zu werden – zumal sie als Künstlerin weniger die Salons als vielmehr die Straßen aufsuchte.

Die Industrialisierung hatte sich bis Ende des 19. Jahrhunderts endgültig durch die deutsche Gesellschaft ­gefressen – mit dem Versprechen auf wachsenden Wohlstand und weniger Arbeit. Doch die neuen Maschinen und Fabriken vernichteten vor allem auf dem Land Handwerk und bäuer­liche Strukturen und sorgten dafür, dass die arbeitslos gewordene Landbevölkerung ihr Glück in den Städten suchte. In Berlin hatte sich die Einwohnerzahl in gerade mal 50 Jahren, zwischen 1850 und 1900, fast verfünffacht – von rund 400 000 auf annähernd zwei Millionen! Die Lebens- und Arbeitsumstände in den überfüllten Ballungszentren waren entsprechend prekär, und man musste sich schon ordentlich Mühe geben, sie nicht wahrhaben und wahrnehmen zu wollen.

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Käthe Kollwitz bezeichnete es als persönliches "Verpflichtungsgefühl", den Arbeiterinnen und Arbeitern mit ihrer Kunst "zu dienen", wie sie es einmal ausdrückte. Ihre hier abgebildete Arbeiterfrau ist dafür ein besonders eindrückliches Beispiel. Sie wirkt geradezu ikonografisch, aber keinesfalls religiös überhöht. Ihr Leid steht zwar im Fokus, wird von der Künstlerin aber nicht verklärt oder romantisiert – so muss man das erst mal hinkriegen, ohne kitschig zu wirken.

Mit ihrem unverwechselbaren Stil hat Käthe Kollwitz den oft anonymen Menschenmassen des industriellen Zeitalters persönliche Kunstdenkmäler geschaffen. Im National­sozialismus galt die Künstlerin deshalb wenig überraschend als "entartet", arbeitete aber – so gut es eben ging – weiter. Das Kriegsende erlebte sie nicht mehr. Sie starb wenige Tage zuvor, am 22. April 1945.