Eigenwillige Malerei
Wenn das Bildnis die Besucher anstarrt
Ottilie Wilhelmine Roederstein war eine Frau und doch bereits zu Lebzeiten als Malerin erfolgreich. Bereits das war unkonventionell
Otillie W. Roederstein: Selbstbildnis mit roter Mütze
Martin P. Bühler/Kunstmuseum Basel
Pierre Jarawan
30.03.2025

Wenn ich Kunst richtig schön finde, halte ich den Anblick nicht lange aus. Es überwältigt mich. Ich gehe dann aus dem Raum, atme durch und komme ein paar Minuten später wieder. Bei dem "Selbstbildnis mit roter Mütze" der Künstlerin Ottilie W. Roederstein habe ich das geschlagene fünf Mal ­gemacht. Immer wieder bin ich in den Saal zurück gedackelt. Die Museumsaufsichten müssen gedacht haben, es wäre Murmeltiertag. Die stechenden Augen auf dem Gemälde ließen mich einfach nicht los. Diese Frau gewinnt jedes Blickduell! Ihr linkes Auge, in dem sich das Licht bricht, ist unfassbar detailliert gemalt, es ist der perfekte Quadratzentimeter auf einer Leinwand. Wie kann es sein, dass viele Menschen von dieser großartigen Künstlerin noch nie gehört haben?

Ottilie W. Roederstein war Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts sehr erfolgreich und geriet danach in Ver­gessenheit. Sie war eine eigenwillige Künstlerin mit einem ungewöhnlich modernen Lebens­stil. 1894 malte sie ihr "Selbstbildnis mit roter Mütze" und es war eine Ansage! Entschlossen schaut die Malerin aus dem Bild heraus wie eine Türsteherin, die sagt: "Sorry, heute nicht." Es ist das erste Selbstbildnis von Roederstein, das sie öffentlich zeigte. Heute befindet sich das Werk im Kunstmuseum Basel. Mit dem roten Barett auf ­ihrem Kopf spielt Roederstein auf Porträts alter ­Meister an. Zum Beispiel Rembrandt malte sich mit dieser Art Mütze, die schräger auf seinem Kopf saß als Caps bei Rappern in den 90ern. Roederstein reiht sich damit in die Kunstgeschichte ein, selbstbewusst betont sie ihren Status als eigenständige Künstlerin.

Das war zu dieser Zeit keine Selbstverständlichkeit. Künstlerinnen wurde lange eine ernstzunehmende Fähigkeit abgesprochen. So schrieb der Kunstkritiker Karl Scheffler 1908: "Der Mann steigert seine Natur, wenn er Künstler wird, die Frau verrenkt sie." Das klingt, als würden Frauen beim Malen Twister spielen. Um ernsthaft künstlerisch tätig zu werden, ­brauchte es eine akademische Ausbildung. Davon waren Frauen in Deutschland bis 1919 ausgeschlossen. Auch das Akt­studium galt für Frauen lange als unschicklich. Dabei ist es enorm wichtig, den Körper komplett studieren zu können, wenn man ihn malen will. Stellt euch mal vor, ihr wollt einen Baum malen und seinen Aufbau verstehen, aber ihr dürft den Baum nur malen, wenn er voller Blätter ist. Die Royal Academy in London etwa ließ Künstlerinnen erst 1893 zum Akt­zeichnen zu. Frauen durften nun endlich mit­machen, allerdings nur bis 17 Uhr. Danach hatte die Gleichberechtigung wieder Feierabend. Solche Benachteiligungen machten es für Frauen extrem schwierig, ihre künst­lerischen ­Fähigkeiten voll zu entwickeln.

Lesetipp: Wie Valie Export mit ihren Frauenbildern provoziert

Ottilie W. Roederstein wollte sich mit dieser Ungleichbehandlung nicht abfinden. Sie wurde 1859 in Zürich geboren und lebte nach ­einer Zwischenstation in Berlin zeitweise im weltoffenen Paris. Hier ging sie trotz der gesellschaftlichen Vor­behalte dem Aktstudium nach. 1885 lernte sie ihre Lebensgefährtin Elisabeth Winterhalter ­kennen, mit der sie bis zu ihrem Tod zusammenblieb. Beide Frauen machten zusammen Bergtouren, teils über 3000 Meter. Das Bergsteigen war damals eine absolute Männer­domäne, Frauen waren hier nicht vorgesehen. Aber auch in diesem Bereich setzte sich Roederstein gegen gesellschaftliche Konventionen durch, denn sie wollte nicht nur in der Kunst hoch hinaus.

Infobox

Jakob Schwerdtfeger ist Kunsthistoriker und Comedian. Alle Auftritte unter www.jakob-schwerdtfeger.com

Die Kommentarfunktion ist nur noch für registrierte Nutzer verfügbar. Um einen Leserkommentar schreiben zu können, schließen Sie bitte ein Abo ab, schreiben Sie uns eine Mail an leserpost@chrismon.de oder diskutieren Sie auf Instagram, Facebook und LinkedIn mit.