Kunstwerk
Spreng den Rahmen!
Ein Kindheitstraum: Figuren steigen aus dem Bild. Pere Borrell del Caso und seine "Flucht vor der Kritik"
Pere Borrell del Caso "Flucht vor der Kritik"
Pere Borrell del Caso: Huyendo de la Crítica, 1874/Collectión Banco de Espana
Pierre Jarawan
11.09.2024

Egal, ob Pumuckl, Tom und Jerry oder Micky Maus – als Kind habe ich immer davon geträumt, dass all diese Figuren aus dem Bildschirm steigen und Teil meiner Welt werden. Mit Obelix im Schlepp­tau wäre ich beim Armdrücken auf dem Pausenhof der König gewesen. Knapp 30 Jahre später musste ich an diesen Kindheitstraum denken: Ich stand vor dem Bild "Flucht vor der Kritik" von dem katalanischen Künstler Pere Borrell del Caso. Diese Kunst sprengt tatsächlich den Rahmen. Der Junge klettert aus dem Bild und guckt dabei so erschrocken, als gäbe es statt Fischstäbchen plötzlich Rosenkohl zum Mittagessen.

Das Gemälde stammt aus dem Jahr 1874 und ist mit Abstand das ­berühmteste Werk von Pere Borrell del Caso. Allerdings ist der Maler hierzulande weitestgehend unbekannt. Im Spanien der damaligen Zeit war das anders, ihm wurde zweimal eine Professur an der Kunstakademie in Barcelona angeboten, doch er lehnte ab und betrieb lieber seine eigene private Kunstschule. Hauptsächlich malte er ­religiöse Bilder und Porträts.

Dem Künstler ging es bei seinem Bild "Flucht vor der Kritik" um augentäuschende Malerei, um die Grenze zwischen Gemälde und Realität. So etwas nennt man Trompe-­l’œil, und diese Kunstform hat eine lange Tradition. Es gibt eine antike Anekdote, die von den Malern Zeuxis und Parrhasios handelt. Demnach lieferten sich die zwei einen Wettstreit: Wer kann besser malen? Zeuxis fertigte ein Bild mit Trauben an. Diese ­wirkten so echt, dass Vögel kamen, um daran zu picken. Sein ­Kontrahent Parrhasios konterte mit einem Bild, das einen Vorhang zeigte.

Früher war es üblich, dass man Bilder hinter Vorhängen aufbewahrte, um sie dann dramatisch zu enthüllen. Zeuxis wollte also den Vorhang zur Seite ziehen und merkte, dass alles nur gemalt war. Der eine Künstler hatte Tiere getäuscht, der andere aber einen Menschen. Klar, wer aus dieser Geschichte als Sieger hervorging. Auch heute noch finden wir Trompe-l’œil-Malerei im Alltag, wenn in Restaurants unnötige Säulen auf die Wand gemalt werden. Als würde sich die schäbige Pizzeria an der Ecke dadurch plötzlich in einen Tempel verwandeln.

chrismon Spendenabo doppeltgut
doppeltgut
Digitales Spendenabo abschließen und weiterlesen

4 Wochen gratis testen, danach mit 10 € guten Journalismus und gute Projekte unterstützen.
Vierwöchentlich kündbar.

Infobox

Jakob Schwerdtfeger macht Kunstcomedy. Alle Auftritte unter www.jakob-schwerdtfeger.com.

Die Kommentarfunktion ist nur noch für registrierte Nutzer verfügbar. Um einen Leserkommentar schreiben zu können, schließen Sie bitte ein Abo ab, schreiben Sie uns eine Mail an leserpost@chrismon.de oder diskutieren Sie auf Instagram, Facebook und LinkedIn mit.
Permalink

Vielen Dank für die neue Kunstkolumne und das dafür ausgewählte Kunstwerk. Es ist absolut faszinierend. Ohne den Abdruck in Chrismon 09.2024 hätte ich dieses ungewöhnliche Bild wohl nie entdeckt. Also gerne weiter so Jakob Schwerdtfeger. Ich freue mich schon auf die nächste Ausgabe.
Auch wenn es schon aus dem Jahr 1874 ist, hat es mich an etwas sehr Aktuelles erinnert und zwar an die ersten beiden Bände „Bildspringer“, einer Kinderbuchreihe von Christina Wolff. Darin geht es um Kinder – die Van-Gogh-Agency – die die magische Fähigkeit des Bildspringens beherrschen. Sie können also in Gemälde springen und auch wieder heraus. Durch Übergänge, die sich in den Szenerien der Bilder befinden, können sie in andere Bilder gelangen. Zudem haben sie die Fähigkeit, zu erkennen, ob ein Bild echt ist, denn ein echtes Bild hat eine Seele, die einer Fälschung fehlt. Die Van-Gogh-Agency ist also gefragt.
Beide Bücher sind besondere und sehr stimmige Geschichten rund um Kunstwerke und Maler. Beide Bücher sind sehr empfehlenswerte Abenteuer für Kinder ab 10 Jahren mit unterhaltsamen Lerneffekten in Sachen Kunst. Es bleibt zu hoffen, dass es noch mehr davon geben wird.
Ramona Faust