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Die Künstlerin Melora Kuhn beweist Mut zur Lücke – und zwar im bildlichen Sinne. Denn beim Blick auf die Frauen in diesem Gemälde fällt auf: Da fehlt was. Hier ein Stück Taille, dort etwas von Brust oder Arm. Als würden die Damen in den barockfaltigen Kleidern mit Luftgeistern ringen. Es ist leider etwas ernster. Kein Tanz, sondern ein Kampf.
Die US-amerikanische Malerin wollte ein Sinnbild dafür schaffen, mit welchen langwierigen Folgen Menschen, besonders Frauen, zu kämpfen haben, die Opfer sexueller Gewalt und traumatisierender Erfahrungen werden. Als Vorlage diente ihr der berühmte antike Mythos vom Raub der Sabinerinnen. Long story short: Weil das gerade entstandene Rom unter akutem Frauenmangel litt und die umliegenden Gemeinden kein Interesse daran hatten, ihre Damen mit den römischen Herren zu vermählen, kam Stadtgründer Romulus auf die niederträchtige Idee, junge Sabinerinnen unter einem Vorwand nach Rom zu locken und zu entführen.
Melora Kuhn hat dieses Ereignis in ihrer collageartigen Malerei aufgegriffen, wie vor ihr schon etliche Künstlerinnen und Künstler, die römischen Räuber aber einfach rausgeschnitten. Ein Trick, den sie in diesem Fall exklusiv angewandt haben dürfte. Dadurch entsteht ein doppeldeutiger Effekt. Die männlichen Entführer und Vergewaltiger sind fast gänzlich verschwunden – hier und da lässt sich noch einer entdecken, etwa rechts im Bild ein Gesicht auf Höhe des Beckens der Frau im roten Kleid – aber ihre Gewalt, ihre Taten haben im wahrsten Sinne Löcher gerissen in die Körper der Frauen. Und die Löcher bleiben.
Die Frauen wiederum hat Melora Kuhn nach oben gerückt, fast scheint es, als schwebten sie über allem. Das lässt die Damen einerseits erhabener wirken. Es könnte aber auch ein Hinweis sein auf die Entfremdung, das Austreten aus dem eigenen Körper im Moment einer Gewalterfahrung, wie viele Traumatisierte es beschreiben.
Düstere Deutung - berauschendes Bild
Und trotz dieser düsteren Deutung, das ist die Kunst der Melora Kuhn, ist ihr Bild "The Legacy of Disembodiment" (zu Deutsch etwa: Das Erbe der Körperlosigkeit) von 2022 ein berauschendes Bild – satt, lebendig, bunt. Die Malerin hat in Italiens Renaissance-Metropole Florenz gelernt, das ist nicht zu übersehen. Ihre Figuren türmen sich in barocker Tracht und Bildkomposition übereinander. Vorne mittig auf dem Boden Äpfel und eine umgestoßene Weinflasche – Vanitas und Sündenfall für alle, die die Szene noch mal im Symbol erklärt haben wollen.
Den Hintergrund wiederum bildet ein Mauerwerk, das an eine Kirche erinnert, wohl aber eher eine Freimaurerloge sein soll, wie Melora Kuhn einmal im Gespräch mit dem Kunstblogger Richard T. Scott andeutete. Die grauen Steine stünden für jahrhundertealte zementierte Männermacht – der die Frauen hier aber eben auch bunt gewandet entschweben.
Zufällig arbeitete Melora Kuhn genau in jenen Tagen an dem Bild, als im Juni 2022 in den USA das liberale Recht auf Abtreibung vom Supreme Court gekippt wurde. Ein ebenso unbeabsichtigter wie unvermeidlicher Zusammenfall künstlerischer Tat und rechtspolitischer Entscheidung. Melora Kuhn bedient sich vielfach alter Stilmittel – allein um zu zeigen, wie gegenwärtig Geschichte ist; wie sich Erfahrung und Ereignis Schicht um Schicht übereinanderlegen und ineinanderfließen. Auch hier, am unteren Bildrand, lässt sich erkennen: Es liegt noch mehr drunter. Die nächste Frage wäre: Was kommt drauf – und hilft das, die Lücken zu schließen?