Wir alle haben die Hölle sozusagen in der Tasche. Der neudeutsche Begriff doomscrolling sagt es schon: Mit unseren Smartphones können wir uns 24 Stunden am Tag durch die Abgründe dieser Welt scrollen bis zur Verdammnis (doom). In der Nachrichten-App sehen wir Bilder getöteter Kinder oder brennende Wälder, in den sozialen Medien wird hemmungslos gehasst und im sogenannten Darknet wird das alles noch gesteigert. Mit dem Internet können nicht einmal die furchtbaren Höllendarstellungen eines Hieronymus Bosch oder Peter Paul Rubens mithalten. Aber: Die Hölle in unserer Tasche ist die Hölle auf Erden; ganz real, nicht ausgedacht und aufgemalt. Sie zeigt, wie ungerecht diese Welt ist.
Die religiöse Idee der Hölle allerdings zielt auf das Gegenteil: auf Gerechtigkeit. Beim Endgericht werden die Menschen eingeteilt. Diejenigen, die sich nach Gottes Willen verhalten haben, kommen ins Reich Gottes. Die anderen ins "ewige Feuer" – so heißt es etwa beim Evangelisten Matthäus, der eine Rede Jesu über das Gericht wiedergibt. Ob jemand gerecht ist oder nicht, wird daran festgemacht, wie er sich seinen Mitmenschen gegenüber verhalten hat. "Ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben", sagt Jesus erst zu den Gerechten und dann zu den Ungerechten: "Ich war hungrig, und ihr habt mir nichts zu essen gegeben."
Wer sich dafür einsetzt, dass diese Erde keine Hölle ist, wird dafür von der ewigen Hölle verschont, könnte man diese Bibelstelle auslegen. Die im Diesseits fehlende Gerechtigkeit soll so im Jenseits nachgeholt werden. Aber schon immer haben findige Theologen gesehen: Ewige Strafen sind niemals gerecht; selbst für die schlimmsten Verbrechen nicht. Denn menschliche Verbrechen können furchtbar, aber nicht ewig sein.
Und leider hat dieser pädagogische Gebrauch der Hölle im Laufe der Zeit viel Unheil angerichtet. Die Höllenangst ist ein besonders beliebtes Machtmittel religiöser Institutionen und "Würdenträger" gewesen. Bis heute wird Kindern und auch Erwachsenen Angst vor der Hölle gemacht. Die Großtante des Verfassers etwa fürchtete sich noch mit 99 Jahren vor dem Tod, weil ihr als Kind eingeredet wurde, es könnte die Hölle warten.
So ging es lange auch Martin Luther. Vielleicht kann man sagen: Ohne die Angst vor der Hölle gäbe es keine evangelische Kirche. Denn die Angst vor dem Jüngsten Gericht und der Hölle trieb den jungen Luther an, nach einem anderen Gottesbild zu suchen. Der Gott seiner jungen Jahre war ein strenger Richter, der nach einem Gesetz richtete. Luther fürchtete, dem niemals gerecht werden zu können. Schließlich fand Luther: Gott ist nicht harter Richter, sondern liebender Vater; er spricht gerecht und macht dadurch frei: ohne Angst ein gottgefälliges Leben zu führen.
Luther setzte der negativen Pädagogik der Höllenangst die positive Pädagogik der Befreiung entgegen. Wer sich frei fühlt, handelt ohne Angst und Druck gut – so die Idee. Schön, allerdings oftmals falsch. Das zeigt wiederum der anfangs erwähnte Blick aufs Smartphone. Auch im Moment finden wir dort höllische Kriege, ausgelöst von freien Menschen: Ukraine, Sudan, Gaza – alles Orte, an denen Menschen Höllenqualen leiden.
Der theologische Gegenentwurf zur ewigen Verdammnis in der Hölle ist die Allversöhnung. Diese Idee geht davon aus, dass Gott am Ende aller Tage alles und alle miteinander versöhnt. Ist das nun eine gute Vorstellung? Wollen Opfer mit ihren Peinigern versöhnt werden? Juden mit Nazis, Ukrainer mit russischen Angreifern, Missbrauchsopfer mit Missbrauchstätern? Vielleicht sind einige von ihnen dazu bereit, aber verordnen kann man so etwas nicht.
Doomscrolling heißt auch deswegen so, weil es uns schon jetzt, im Leben, in die Verdammnis der Resignation schickt. Statt zu viel aufs Smartphone zu schauen und über die schreckliche Welt zu grübeln, sollten wir der Hölle auf Erden lieber den tätigen Glauben an den guten Gott entgegensetzen. Umso mehr Gerechtigkeit schon auf dieser Welt herrscht, umso weniger hat Gott damit zu tun, sie nachträglich herzustellen – wie auch immer er das tun mag.