Illustration mit Figur, die von kleinen Handys mit Nachrichten bedrängt wird und am Boden liegt
Doro Spiro
Digitale Medien
Immer noch mehr Speed?
Überfordert, genervt, gereizt vom News-Gewitter: Unser Autor Kester Schlenz will so nicht mehr sein. Was er dagegen tut
05.09.2024
6Min

Ich sitze am Frühstückstisch. Vor mir die noch ungelesene Zeitung. Sie raunt leise: "Lies mich!" Mein Handy macht "pling". Eine Eilmeldung. Was Neues vom Krieg. Nein, nicht der. Der andere. Ich sehe außerdem zehn neue Mails: Firma, Freunde, Kinder, Steuerberater, Bank, DAK. Im Radio laufen jetzt Nachrichten: Gaza, Ukraine, Heizung, Ampel, AfD, Klima, Sudan, Islamisten, Inflation, Dürre, Demos und Dauerregen. Und meine Frau kommt rein und sagt: "Wir haben schon wieder Ameisen in der Abseite."

Mir schwirrt der Kopf. Ich bin noch nicht mal richtig wach, da tobt es schon um mich herum: das News-Gewitter! Und es will nicht enden. Es regnet, nein, es schüttet Nachrichten, Mails, SMS, Social Media, Artikel, Beiträge, Sendungen, Anrufe. Und Ameisen.

Privat

Kester Schlenz

Kester Schlenz, Jahrgang 1958, ist Schriftsteller und Journalist. Er war ­Redakteur bei ­"Brigitte", Kultur­ressortleiter beim "Stern" und hat viele Bücher geschrieben. Zuletzt ­erschien von ihm "Ich komm da nicht mehr mit", ­Mosaik-Verlag, 160 Seiten, 20 Euro.

Eine Stunde später stehe ich auf einem Bahnsteig, warte auf die S-Bahn und starre wie hypnotisiert auf einen großen Bildschirm auf der anderen Seite. Früher habe ich da vor mich hingeträumt. Heute werde ich auch hier mit News belästigt. Und ich Idiot gucke auch noch hin! Die Welt schreit: "Hast du schon gehört?", "Wow – Breaking News!", "Guck dir das an", "Was meinst du ­dazu?", "Findest du nicht auch?". Ich dreh noch durch! Ich soll ständig wissen. Meinen. Zur Kenntnis nehmen. Mich äußern. Mich zu allem Möglichen verhalten. Aber ich mag nicht mehr. Und ich kann auch nicht mehr. Es wird mir einfach zu viel.

Oder liegt es an mir? Bin ich zu bequem und unflexibel geworden? Vielleicht. Aber ich glaube das nicht. Ich bin interessiert. Und motiviert. Aber ich habe mich an Informationen und herausgebrüllten Meinungen förmlich überfressen. Das tut mir nicht gut. Aber ich hatte immer das Gefühl, dass das alles sein muss. Dass ich ­weiter ­alles in mich reinfressen muss, weil alle anderen es auch tun und ich sonst abgehängt werden könnte. Guck, da hat schon wieder einer getwittert! Und ich weiß noch nicht mal genau, um was es geht. Ich bin wohl zu langsam. Vielleicht ist auch mein Info-Magen zu klein. "Mehr Speed, Digger!", sagt eine Stimme in meinem Kopf.

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Es ist anstrengend geworden. Und es macht etwas mit mir. Mit uns allen. Wir alle sind zunehmend genervt und gereizt. Und das hat eben auch mit unserer täglichen Überforderung durch Infoterror, Optimierungswahn und Zeitdruck zu tun. Ziemlich sicher kennen Sie das selbst, dieses hektische Hin und Her. Ah, dort hat wieder ­einer was gepostet. Sollten Sie sich nicht auch – möglichst originell – äußern? Ups – da kommt eine Rundmail vom Chef, und die ersten haben schon ­ihren Senf dazugegeben. Mist. Und was mache ich? Und wo waren noch mal die aktuellen Unterlagen für das neue Projekt? Kamen die auf Teams, per Mail oder als Link auf Whatsapp? Und jetzt ruft auch noch Mutti an.

Wir sollen immer mehr wissen. Immer mehr erledigen. Und auch immer mehr selber machen in der schönen, modernen, digitalen Welt. Ich gebe mir ja Mühe, dort klarzukommen. Aber die Welt tut das nicht. Sie hat sich mir entzogen, verwandelt, und kommt nun zurück in Form von Apps, Passwörtern, Downloads, Portalen, Hotlines, Be­stätigungscodes, Log-ins, Zwei-Faktor- Authentifizierungen, Kontaktformu­laren, No-Reply-Mails und Service­centern ohne Service. Da spielt nun die Musik. Im wahrsten Sinne des Wortes. Ich weiß nicht, wie viel Lebens­zeit ich schon damit verbracht habe, irgendwelchem Gedudel zuzuhören, während ich auf einen Mitarbeiter wartete, der "gleich für Sie da ist". Sie kennen das alle. Ich weiß das. Sie haben alle schon eins, zwei oder drei in den Hörer gebrüllt, damit "Ihr Anliegen passend bearbeitet werden kann". Und anschließend Ihre "durchschnittliche Wartezeit" erfahren. Zeit ist Geld. Aber Ihre kostet ja nichts. Ach, doch . . . die Telefongebühren.

Ich lebe angeblich in einer modernen Dienstleistungsgesellschaft. Aber die Dienste soll zunehmend ich verrichten. Im Supermarkt meine Einkäufe selbst scannen, meine Zeit in Warteschleifen absitzen, meinen Arzttermin selbst buchen und ­meine Pakete eigenhändig abholen, weil der überforderte Post- oder ­Paketbote es nicht mehr schafft, in den dritten Stock hochzugehen und lieber ­einen Zettel in den Briefkasten wirft. Die Post wird ohnehin immer mehr zur Service­wüste. Zugestellt wird längst nicht mehr jeden Tag. Filialen ­schließen. Aber man bekommt nette Mails wie: "Ihr Paket wird für den Transport vorbereitet." Drei Tage lang!

Manchmal erwischt uns die Über­for­derung aber auch im Kleinen und in gänzlich unerwarteten Momenten. Kürzlich habe ich mich in einer Ferien­wohnung gegen einen Herd gelehnt. Es piepte, und dann ging nichts mehr. Ich hatte versehentlich die Kindersicherung aktiviert. Es gab aber keine Gebrauchsanweisung in der Wohnung. Wir haben überall herumgedrückt, doch der Herd schwieg. Ich befürworte Kindersicherungen, nicht aber solche, die man auch als Erwachsener nicht mehr entsperren kann. Nach einer Stunde und ein paar Telefonanrufen hatten wir es dann. Man musste mit einer absurden Spreizbewegung einer Hand mehrere Knöpfe parallel drücken. Ein verdammter Herd hatte uns überfordert.

Ich soll immer irgendwas machen, bestätigen, ablesen, eingeben, aktualisieren, verifizieren und runterladen. Ich bin überfordert.

Die Welt da draußen – sie sagt mir: Du bist doof. Du bist lästig. Du störst. Und selbst, wenn ich dieser Welt entfliehe, zu Hause bleibe und dem Terror entsage, kommt die Welt zu mir und nervt. Mails erscheinen auf meinem Rechner. Von meiner Bank, meinem Stromanbieter, von der Versicherung. Ich soll immer irgendwas machen, bestätigen, ablesen, eingeben, aktualisieren, verifizieren und runterladen. Ich bin überfordert. Weil man einfach zu viel von mir fordert: Kompetenzen, Flexibilität, Zeit­management, Anpassung, Wissen. Immer mehr und immer schneller.

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Der Neurowissenschaftler und Psychiater Dr. Volker Busch weiß, was die Infoflut mit uns macht. "Der Dauerkonsum von digital vermittelten Informationen verstopft uns geistig zunehmend", sagt er. Die hohe Informationsdichte behindere die "tiefgeistige Verarbeitung" von Inhalten und führe schließlich zu einer Verminderung der Speicherfähigkeit unseres Gehirns. Unser Gedächtnis verschlechtert sich, nur weniges bleibt noch hängen. Mit anderen Worten: Je mehr wir in uns reinstopfen, desto weniger kapieren wir schlussendlich. Busch rät deshalb zu "geistigen Auszeiten". Und das Interessante ist: Laut Volker Busch ar­beitet unser Gehirn in diesen Auszeiten weiter. Es verdaut sozusagen geistig.

Klasse! Ich lasse also in Zukunft eine gewisse Menge Info-Ballaststoffe in mir arbeiten, aber kloppe mir nicht noch mehr rein. Ich werde mich stattdessen häufiger an meinen Teich im Garten setzen, mir die Fische darin angucken und in Ruhe geistig verdauen.

Und außerdem habe ich folgende Regeln für mich aufgestellt, die ich hier auch Ihnen ans Herz lege:

  1. Das Handy wird nachts komplett ausgeschaltet und in einiger Entfernung vom Bett deponiert.
  2. Ich checke Mails oder Social-­Media-Accounts zu festen Zeiten und nicht dauernd und wahllos. Nur alle zwei Stunden zum Beispiel.
  3. Ich ignoriere die Erwartungshaltung anderer, dass ich immer und sofort auf Nachrichten reagiere. Ich erziehe meine Kontakte zu Geduld und Akzeptanz.
  4. Ich erlaube keine Pushnachrichten mehr und checke Newsseiten höchstens dreimal am Tag.
  5. Ich kontrolliere meine Bildschirmzeit, reduziere sie systematisch und gehe stattdessen spazieren.
  6. Ich lasse mich nicht mehr stundenlang durch beknackte Filmchen ablenken, die mir der Algorithmus passgenau schicken lässt.
  7. Ich lese keine Mails oder Nachrichten mehr kurz vor dem Schlafengehen. Das hat mir zu oft schlaflose Nächte eingebracht.
  8. Das Wochenende ist ab sofort wirklich Freizeit, also auch Zeit, die frei von Mails, Twitter-Kriegen, Push­nachrichten, News-Terror und vor allem frei von Jobnachrichten ist.
  9. Ich muss ab jetzt nicht mehr auf alles sofort eine Antwort haben. Wenn mich jemand nach meiner ­Meinung zu einem komplexen ­Thema fragt und ich noch keine richtige ­Haltung dazu habe, werde ich sagen: "Ich habe noch keine, weil ich noch zu wenig darüber weiß."

Letzteres habe ich übrigens schon ein paarmal gemacht. Und siehe da – oft nicken die Leute und sagen: ­"Eigentlich geht es mir genauso." Geht doch!