Islamismus in Deutschland
"Der Kalif hätte absolute Macht"
Auf einer Demonstration in Hamburg wurde das Kalifat gefordert. Das führte zu bundesweiten Diskussionen. Islamexperte Mouhanad Khorchide erklärt, wer hier demonstriert hat und was wirklich hinter solchen Demos steckt
Zwei Männer tragen Sweatshirts mit der Forderung nach dem Kalifat. Die Begriffe "Marionetten Herscher, Zweistaatenlösung, Demokratie, UN" sind durchgestrichen
Mehrere hundert Anhänger der "Muslim Interaktiv"- Bewegung haben in Hamburg demonstriert
picture alliance / ABB
Tim Wegner
29.05.2024
6Min

Waren Sie überrascht, als Sie die Bilder von der Demonstration in Hamburg gesehen haben?

Überrascht war ich, dass in der Öffentlichkeit Plakate mit der Forderung nach Errichtung des Kalifats getragen wurden, dass islamistische Organisationen so offensiv nach außen treten und ihre Ziele nicht im Verborgenen verfolgen. Andererseits: Diese Gruppierungen sind schon lange in den sozialen Medien aktiv. Dass es sie gibt und dass sie versuchen, junge Menschen für sich zu gewinnen, das hat mich nicht überrascht.

Was bedeutet die Forderung nach einem Kalifat konkret?

Das heißt, dass man die gesellschaftliche Ordnung komplett verändern möchte. Das Ziel ist eine Gesellschaft nach den Regeln der Scharia mit einem Kalifen an der Spitze. Der Kalif hätte absolute Macht. Es gäbe kein demokratisches System mehr, keine Parteien, nur noch den Kalifen, der die Gesellschaft führt. Der Titel "Kalif" knüpft an den ersten Nachfolger Mohammeds an. Dieser wurde Kalif genannt.

Wie würde dieser Kalif ausgewählt werden?

Das Prinzip nennt sich Schura. So wurden die ersten vier Kalifen, die Nachfolger Mohammeds gewählt. Man hat nicht das ganze Volk gefragt, wer sie führen soll, sondern die Stammesoberhäupter wurden gefragt. Das ist so etwas wie ein "Ältestenrat".

Denken Sie, dass die Demonstranten das alles wissen, dass vielleicht sogar schon ein Plan für einen solchen "Ältestenrat" besteht?

Nein. Ich habe sogar den Eindruck, dass nicht einmal die Organisatoren einen solchen Plan haben. Die Forderung nach dem Kalifat dient vielmehr als Kampfansage an "den Westen" und ist ausgehöhlt von allem Inhalt. Es geht dabei nicht um konkrete Forderungen, sondern um: Wir sind gegen den Westen, die Demokratie, die Mehrheitsgesellschaften in Europa. Was stattdessen konkret kommen soll, diese Frage spielt eigentlich keine Rolle.

Sie beobachten ähnliche Demonstrationen ja aus wissenschaftlichem Interesse und gehen auch persönlich dorthin, um mit den jungen Menschen zu sprechen. Was erfahren sie?

Ich frage: "Warum demonstriert ihr?" Dann kommt: "Wir sind gegen Diskriminierung durch den Westen." Dann frage ich: "Und was hat das mit dem Kalifat zu tun?" Sie antworten dann, dass sie keine Ahnung haben, was das genau ist. Wenn ich danach frage, wie sie die Forderung finden, dass hier die Scharia aus dem Koran angewandt werden soll, dann sagen sie: "Den Koran habe ich nie gelesen." Mein Eindruck ist also, dass der Großteil der Demonstranten aus emotionalen Gründen dorthin geht, aber keine Ahnung hat, was die ideologischen Forderungen im Hintergrund sind.

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Wer steckt hinter den Demonstrationen?

Das sind drei Organisationen: "Muslim Interaktiv", "Generation Islam" und "Realität Islam". Sie gehören alle zur sogenannten Hizb ut-Tahrir – das bedeutet wörtlich "Partei der Befreiung". Die Organisation wurde in den 1950er Jahren in Jerusalem gegründet. Es geht dabei um die "Befreiung" Palästinas. Das Mittel dazu soll sein: die Errichtung eines Kalifats.

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