Negative Schlagzeilen werden mehr geklickt, tun uns aber auf Dauer nicht gut.
Negatives wird mehr geklickt, tut uns aber auf Dauer nicht gut
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Psychologie
Der Kipppunkt der Empathie
Eine Hiobsbotschaft jagt die andere. Aber sie scheinen uns kaum mehr zu berühren. Sind wir abgestumpft? Wir haben die Neurowissenschaftlerin Maren Urner gefragt
Tim Wegner
20.07.2023
8Min

chrismon: Gerade häufen sich die schlechten Nachrichten: Mitte Juni sank vor der griechischen Küste ein Flüchtlingsboot, Hunderte ertranken. Es gab kaum einen Aufschrei. Warum nicht?

Maren Urner: Leider schafft dieses Unglück aus psychologischer Sicht keine Nähe. Die Tragik war, dass so viele Menschen gestorben sind. Gleichzeitig ist das auch das Problem für die menschliche Wahrnehmung: Das Unglück betrifft zu viele uns unbekannte Menschen und war zu schrecklich für unser Gehirn. Bei vielen kommen dann unbewusste Abwehrmechanismen zum Tragen, zum Beispiel, dass sie abschalten, weil sie dieses Ereignis neben der eigenen Lebenslast als zu viel empfinden. Außerdem ist die Flüchtlingsthematik extrem komplex.

Anders als bei einem verschollenen U-Boot mit fünf Passagieren. . .

Genau. Da haben wir wenige Gesichter und können uns über die Lebensgeschichten dahinter informieren – das schafft eine gewisse Nähe. Das Ereignis hatte einen klaren Anfang und ein Ende, wenn auch ein dramatisches, wir konnten den Fortgang verfolgen, fast wie bei einem Film. Das alles ist bei den meisten Flüchtlingskatastrophen nicht gegeben. Dazu kommt noch eine Art Gewöhnungseffekt, weil wir gefühlt schon sehr häufig vergleichbare Vorfälle mitbekommen haben. Ähnliches beobachten wir seit Monaten bei der Berichterstattung über den Ukrainekrieg. Auch bei Corona waren vielen irgendwann die Nachrichten zu monothematisch, egal wie akut die Pandemie noch war.

Lea Franke

Maren Urner

Maren Urner, Jahrgang 1984, ist Neurowissenschaftlerin und Autorin. 2016 gründete sie Perspective Daily mit, ein Online-Magazin für konstruktiven Journalismus. 2019 wurde sie zur Professorin für Medienpsychologie an der HMKW Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft in Köln berufen. Ihr erstes Buch "Schluss mit dem täglichen Weltuntergang" erschien 2019. Im Mai 2021 folgte "Raus aus der ewigen Dauerkrise".

Bei der Flutkatastrophe in der Emilia-Romagna gab es nicht so viele Tote wie im Ahrtal, aber auch da ging es um viele Existenzen, Menschen waren einen Monat lang vom Rest der Welt abgeschnitten – das wurde so nebenbei berichtet und kaum diskutiert. Auch hier der Gewöhnungseffekt?

Ja. Auch die Entfernung spielt eine Rolle – wobei Italien näher ist als zum Beispiel Pakistan. Dort wurde vergangenen Sommer ein Drittel des Landes überflutet, viele Millionen Menschen waren betroffen. Eine unvorstellbare Dimension! Das ist für das menschliche Gehirn so krass, dass es sich lieber gar nicht damit auseinandersetzt statt nur ein bisschen. Das Gleiche sehen wir bei der Klimakrise. Zu viel Leid überfordert uns. Sich abwenden, das Thema ausblenden, ist eine Bewältigungsstrategie.

Was passiert da im Gehirn?

Diese Überforderung ist auf neuronaler Ebene sichtbar. Beim Versuch, für sehr viele Menschen Empathie zu empfinden, würde das System kollabieren. Das scheint widersprüchlich. Bei näherer Betrachtung ist es aber logisch: Denn wir sind sehr soziale Wesen. Wenn wir Bilder von leidenden Menschen sehen, die Schmerzen haben, dann sind die gleichen Regionen in unserem Gehirn aktiv, wie wenn wir selbst Leid haben. Deswegen funktionieren Bilder und Videos von Einzelnen – oder auch Spendenaufrufe mit traurigen Kinderaugen, denn das ist für uns nachfühlbar. Aber eine Masse von Menschen bewegt unser Gehirn nicht. Gerade weil wir ursoziale Wesen sind, müssen wir einzelne Gesichter identifizieren können, um mitfühlen zu können.

Was bedeutet das für den Journalismus?

Journalist*innen sollten die Geschehnisse anhand weniger Gesichter zu erzählen beginnen, um dann in die größere Einordnung überzugehen. Das erlaubt es uns, eine Brücke zu bauen, und macht neugierig.

Der Fokus auf Negatives ist in uns angelegt

Andauernd schlechte Neuigkeiten bewirken, dass viele Menschen keine Nachrichten mehr konsumieren. Woran liegt das?

Der Fokus auf Negatives ist in uns angelegt. Es ist evolutionsbiologisch wichtig für unser Überleben. Eine negative Nachricht ist potenziell eine Gefahr, auf die wir schneller, besser und intensiver reagieren sollten als auf positive oder neutrale Nachrichten. Jetzt leben wir aber im digitalen Zeitalter. Hierzulande können die allermeisten 24/7 mit Medien, auch Social Media, interagieren. In den Medien wird nun ein Spiel betrieben, bei dem es vor allem um Klicks geht. So entsteht ein Teufelskreis, weil immer mehr negative Nachrichten um unsere Aufmerksamkeit konkurrieren.

Viele Angebote finanzieren sich über Anzeigen. . .

Medienmacher*innen wissen genau: Negatives wird mehr geklickt. Zum Beispiel können manche Menschen gar nicht mehr loslassen von den Schreckensnachrichten und lesen in der Timeline immer weiter. Das Phänomen nennt sich Doomscrolling und wird zunehmend wissenschaftlich untersucht. Innerlich steht das nächste Mammut, der nächste Säbelzahntiger vor der Höhle – in dem Fall in digitaler Form. Die Folge: Der Anteil an negativer Berichterstattung ist in den letzten Jahren gewachsen, auch negative Emotionalität wie Wut, Angst, Ekel und Trauer haben messbar zugenommen. Freude und Neutralität nehmen ab. Gleichzeitig sehen wir, dass ein zusätzliches negatives Wort in der Überschrift die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen sie anklicken, um 2,3 Prozent erhöht.

Dennoch schalten viele Menschen ab. . .

Der aktuelle "Digital News Report" des Oxford Institute zeigt, dass in Deutschland ein gleichbleibend hoher Anteil von über 60 Prozent der Befragten ab und zu die Nachrichten vermeidet. Im aktuellen Bericht geben zehn Prozent an, das häufig zu tun. Viele geben als Gründe an, dass die Nachrichten ihnen zu negativ und zu monothematisch sind und zu wenig über Lösungen berichtet wird.

Was raten Sie?

Ich rate zu mehr konstruktivem Journalismus! Es ist niemandem geholfen, wenn es uns schlecht geht, weil wir an der Welt verzweifeln. Das ist eine ganz wichtige Erkenntnis bei der Frage, wie wir mit Krisen und Leid umgehen: Wenn es uns schlecht geht, kann ich weder mir noch irgendjemandem etwas Gutes tun.

Was ist konstruktiver Journalismus?

Das wohl häufigste Missverständnis ist, es handele sich um Schönrederei – das Gegenteil ist der Fall. Konstruktiver Journalismus erkennt die Probleme als so wichtig an, dass er sich darauf konzentriert, wie wir besser mit ihnen umgehen können. Er fragt immer: Was jetzt? Wie kann es weitergehen? Damit wird der Blick automatisch nach vorn gerichtet. Journalist*innen stellen in Interviews andere Fragen, beispielsweise: "Was muss passieren, damit es besser wird? Wen und was benötigen Sie dafür?" Gleichzeitig recherchieren sie Lösungsansätze, die es bereits gibt, vielleicht auch in anderen Städten und Ländern oder Bereichen. Diese Idee ist im Einklang mit der grundlegenden Aufgabe von Journalismus: Menschen zu informieren und handlungsfähig zurückzulassen.

chrismon hat sich schon lang dem konstruktiven Journalismus verschrieben. Aber wenn in einer hart umkämpften Branche jedes negative Wort in der Überschrift 2,3 Prozent mehr Klicks bringt, ist es natürlich schwer, diesen Prozess umzukehren.

Dieser sogenannte Negativitätsbias ist biologisch bedingt und steckt in jedem von uns. Wir können ihn nicht "abschalten". Aber wir können besser mit ihm umgehen – vor allem, wenn wir verstehen, dass es dabei immer nur um kurzfristige Entscheidungen geht, sprich: Jetzt und hier eine potenzielle Gefahr zu erkennen. Ich vergleiche es gern mit unserer Ernährung: Menschen tendieren dazu, Fettiges und Süßes zu essen. Kurzfristig bedeutet das viele Kalorien – langfristig gesehen Übergewicht und alles, was damit einhergeht. Es gibt nicht nur Junkfood, sondern auch Junkinformation.

Wie kann ich als Konsumentin von Medien meine Empathie bewahren – und eben nicht abstumpfen?

Indem wir uns bewusster und selbstbestimmter mit Informationen und Medien auseinandersetzen. Ich kann mir zunächst einmal meinen Medienkonsum anschauen und protokollieren, dann entsprechend überlegen, was ich ändern möchte, und im dritten Schritt meine Gewohnheiten entsprechend ändern. Damit kann auch der Wunsch einhergehen, ein empathischer Mensch zu sein und zu bleiben. Letztendlich besteht darin wahre Freiheit: in der Selbstbestimmung und überlegten Wahl!

"Unser IQ sinkt, wenn wir Angst haben"

Sie fordern auch "Schluss mit dem statischen Denken" – was meinen Sie damit?

Dem statischen Denken stelle ich das dynamische gegenüber. Bedienen wir unseren Fokus auf Negativität zu sehr, geraten wir in Angst und Unsicherheit. Beides schlechte Berater. Sie werfen unser Gehirn zurück auf die Mechanismen, die auf das direkte Überleben ausgerichtet sind: kämpfen, fliehen oder erstarren. Wir sind aber nicht mehr in der Lage, mittel- und langfristig gute Entscheidungen zu treffen, weil die entsprechenden Strukturen in unserem Gehirn in Angst und Unsicherheit blockiert sind. Beispielsweise ist gut untersucht, dass unser IQ sinkt, wenn wir Angst haben. Einfach, weil der präfrontale Kortex gehemmt ist. Das ist die Region hinter der Stirn, die beim Menschen im Vergleich zu allen anderen Spezies am besten ausgebildet ist. Dort sitzen unter anderem unsere Vorstellungskraft und unsere Fähigkeit zu planen – letztendlich das, was das Konstruktive braucht. Und dann wäre da noch das typische Gewohnheitsdenken: "Das kann ich nicht, das wird sich eh nie ändern und das war schon immer so."

Es geht also um einen Kreislauf: Unsere evolutionsbedingten Prägungen formen unsere unbewussten Denkmuster mit. Diese beeinflussen, wie wir gesellschaftlichen Strukturen schaffen. Und die haben wiederum Einfluss auf unsere Denkmuster. Wie lässt sich dieser Kreislauf aufbrechen?

Ich schaue immer mit der psychologischen Brille auf die Vergangenheit. Zivilisation ist nichts anderes als die Veränderung dieser Strukturen hin zu mehr Gemeinwohl. Immer wieder haben Menschen vermeintlich verrückte Ideen gehabt – zum Beispiel Rosa Parks, die sich dort hinsetzte, wo nur die Weißen sitzen durften. Oder das Frauenwahlrecht einzufordern. Verrückte Dinge aus Sicht der jeweils aktuellen Normen. Die Frage ist immer: Was ist normal? Das ist immer ein temporärer Zustand! Unsere einzige Chance und gleichzeitig größte Verantwortung besteht darin, immer wieder zu hinterfragen: Ist das gerade gut so, wie wir das machen? Genau da setzt dynamisches Denken an.

Im Hinblick auf die Klimaerwärmung fällt auf, Deutschland diskutiert, andere Länder orientieren den Verkehr an den Radfahrern, setzen neue Bausysteme um. Ist der Umgang mit Krisen auch kulturell bedingt?

Absolut. Es gibt soziologisch-sozialwissenschaftliche Untersuchungen, die spezielle kulturelle Unterschiede mit Blick auf die psychologischen Eigenschaften in der Bevölkerung untersuchen. In Deutschland ist die Unsicherheitsvermeidung stark ausgeprägt. Daher auch das niedrige Risikoverhalten, das in der Wirtschaft und in der Start-up-Szene immer diskutiert wird. Es hat aber auch mit der Fehlerkultur zu tun: Bekomme ich Anerkennung, wenn ich zugebe, dass ich mit einem Versuch gescheitert bin – oder werde ich dann ausgelacht? Diese Dinge ändern sich nur, wenn einzelne Menschen anfangen, das zu hinterfragen und aufzubrechen. Das ist auch die Krux der Klima- und Umweltthematik: Wir müssen begreifen, dass die Strukturen und Gewohnheiten, von denen wir bisher dachten, sie seien "normal", gerade unsere Lebensgrundlage zerstören.

Mit der Frage, wie wir miteinander fair umgehen, wie wir zum Beispiel die Entscheidung zwischen "auslachen und schämen" oder "Fehler zulassen" treffen, sind wir ja im Kleinen jeden Tag konfrontiert. Auf die Liste für einen Ausweg könnte jeder also einfach schreiben: "menschlich wachsen".

Diese vermeintlich kleinen Dinge können wir alle jeden Tag in unseren verschiedenen Rollen – egal, ob privat oder beruflich – praktizieren. So entstehen neue soziale Normen. Da sind wir wieder bei Struktur und Individuum: Nur so kann es sich ändern. Der positive Nebeneffekt: Wir erleben dann das, was unserem Belohnungssystem einen ordentlichen Kick verleiht: Selbstwirksamkeit.

Kurzum: Wir alle brauchen sehr viel Introspektion. . .

Genau! Erst mal mag sich die neue Verhaltensweise fremd und anders anfühlen, weil die Norm eine andere ist und man selbst zur Verrückten wird. Das Tolle ist, es fühlt sich gut an und die meisten Menschen reagieren dankbar darauf, wenn die vielen unausgesprochenen Normen auf einmal angesprochen und sogar hinterfragt werden.

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Sehr gut und schlüssig auch deshalb, weil man selbst immer wieder abschalten will um dann doch wieder vom nächsten "Ungeheuer" eingefangen zu werden. Und dann auch, weil mit wenigen Ausnahmen, positive Nachrichten häufig belächelt werden und nur selten einen Sensationsbonus haben. Das Gute will verstanden und bewundert werden. Für das Schlechte reicht der "Grusel".