Interview mit Amelie Fried
"Wie soll es ohne Dialog gehen?"
Die erwachsenen Kinder radikalisieren sich – und wie reagiert die Familie? Amelie Fried über ihren neuen Gesellschaftsroman "Der längste Sommer ihres Lebens"
Ein Autofahrer streitet mit einem Aktivisten der Gruppe "Letzte Generation", der zu den sieben Personen gehört, die sich auf den Asphalt geklebt haben, um eine Kreuzung an einer Ausfahrt der A100 zu blockieren
Was können Eltern tun, wenn ihre Kinder die Gesundheit fürs höhere Ziel aufs Spiel setzen?
Sean Gallup/Getty Images
Tim Wegner
14.05.2024
4Min

Amelie, in deinem neuen Buch klebt sich die gerade erwachsene Tochter von der parteilosen Bürgermeisterkandidatin Claudia auf die Straße und schadet so der politischen Karriere ihrer Mutter. Hast du Verständnis für die Tochter?

Amelie Fried: Ja, ich habe Verständnis für ihr Anliegen und ihre Verzweiflung und verstehe den Protest, auch wenn ich die Form, z. B. Straßenblockaden, nicht zielführend finde. Das war genau der Anlass für mein Buch, dass ich mir überlegt habe: Was macht das mit einer Familie, wenn es derart unterschiedliche Ansichten zwischen den Generationen gibt?

Raimund Verspohl

Amelie Fried

Amelie Fried, Jahrgang 1958, ist Buchautorin, Journalistin und Moderatorin. Sie moderierte Sendungen wie "Live aus dem Alabama", "Stern-TV" oder "3 nach 9". In ihrem Buch "Schuhhaus Pallas – Wie meine Familie sich gegen die Nazis wehrte" erzählte sie 2008 die dramatische Geschichte ihrer jüdischen Familie. 2024 erschien ihr jüngstes Buch "Der längste Sommer ihres Lebens". Amelie Fried lebt mit ihrem Mann in München. Zusammen geben sie Workshops in kreativem Schreiben. Das Paar hat zwei erwachsene Kinder.

Du hast selbst erwachsene Kinder – wie würdest du in dieser Situation reagieren?

Mein Mann und ich haben unsere Kinder dazu erzogen, Verantwortung zu übernehmen und sich für das einzusetzen, was ihnen wichtig ist. Was würden wir also tun, wenn sie das wörtlich nehmen und sich engagieren, dabei aber womöglich ihre Gesundheit und ihre persönliche Zukunft aufs Spiel setzen würden, so wie Claudias Tochter? Das wäre sicher ein großes Dilemma für uns. Aber wir würden immer im Gespräch bleiben wollen und den Kontakt auf keinen Fall verlieren. Schon so, wie Claudia es im Roman auch versucht.

Ist dein Roman mehr ein Klima- oder ein Familienroman?

Ein Familien- und Gesellschaftsroman mit einem relevanten Thema, würde ich sagen. Ich mache mir wirklich große Sorgen um das Weltklima, aber ebenso mache ich mir Sorgen um das Klima in unserer Gesellschaft. Wie gehen wir mit unterschiedlichen Meinungen um? Können wir noch miteinander diskutieren? Unter Freunden, Geschwistern, Eltern, Großeltern?

Können wir das?

Mir scheint, immer weniger. Ich selbst habe gute Freunde durch die Debatte über den Nahostkonflikt verloren, weil ich versuche, zu differenzieren und der Komplexität des Themas gerecht zu werden. Doch das wird kaum noch akzeptiert, man soll gefälligst Stellung beziehen, und zwar ganz eindeutig und einseitig.

Wie beim Fußball?

Ja, genau wie in der Fankurve. Richtige Fans sind für die eine oder die andere Seite. Das geht vielleicht beim Fußball, aber nicht im Leben und in der Politik. Dort gibt es neben Schwarz und Weiß eben auch Grau. Wer das ablehnt, macht einen Dialog unmöglich. Und ohne Dialog – wie soll es da gehen mit uns Menschen? In der Familie? In der Gesellschaft?

Zurück zum Roman – dort macht vor allem die Großmutter Marianne eine erstaunliche Entwicklung durch, von der im Gestern verhafteten Autohausbesitzerin in einem kleinen Ort in Baden-Württemberg zu einer eher offen denkenden älteren Dame mit sehr sympathischen Zügen. Ist das realistisch?

Die Person der Marianne lag mir wirklich am Herzen, denn ich bin der festen Überzeugung: Auch ältere Menschen können umdenken, sich neu orientieren. Das ist ja auch schon wieder so ein festes Narrativ in der Gesellschaft. Alle Alten sind konservativ, beharren auf dem Status quo, wollen sich nicht ändern. Ich finde, auch das stimmt so nicht. Und das wollte ich in Form eines spannenden Unterhaltungsromans aufzeigen.

Du selbst könntest theoretisch auch schon Großmutter sein. Wünschst du dir das? Siehst du eine Zukunft für Kinder heute?

Schwierige Frage – will ich wirklich noch mehr Menschen um mich, um die ich mir Sorgen machen müsste? Andererseits habe ich so eine Grundzuversicht. Vielleicht gibt es ja bald technische Innovationen, die uns beim Überleben helfen können? Aber ich bin auch defätistisch: Wenn die Spezies Mensch nicht erkennt, wie sehr sie sich selbst und den eigenen Planeten zerstört, dann muss sie eben untergehen. Die Erde kann auch ohne uns Menschen leben. Wir ohne die Erde nicht.

Kann es sein, dass viele Politiker diese Haltung haben: "Dann gehen wir eben unter"?

Ich glaube nicht, dann wären sie alle zynisch. Aber manche haben eben nur einen Horizont, der bis zur nächsten Wahl geht, und das reicht nicht. Meine Protagonistin Claudia geht mit Leidenschaft und Zukunftsglauben in die Lokalpolitik. So wie Tausende andere Menschen in diesem Land, die sich politisch engagieren und für die ich große Bewunderung habe.

Es ist zwar ein kleiner Spoiler: Aber im Buch landet die junge Anouk für ihren Protest in bayerischer Präventivhaft. Ist das angemessen?

Das bayerische Polizeiaufgabengesetz, bei dem Menschen ohne Gerichtsverfahren bis zu 60 Tage eingesperrt werden können, wurde ersonnen, um islamistischen Terroranschlägen vorzubeugen. Man kann über die Protestformen von Klimaaktivisten diskutieren, aber sie derart zu kriminalisieren und mit Terroristen gleichzusetzen, ist völlig unverhältnismäßig. Ziviler Widerstand hat eine lange Historie, so gab es die Suffragetten, die für Frauenrechte stritten, oder die Schwarze Rosa Parks, die im Bus sitzen blieb, um gegen die Rassendiskriminierung zu protestieren. Manchmal braucht es vielleicht ungewöhnliche Protestformen, um etwas zu bewegen.

Hast du mal überlegt, selbst in die Politik zu gehen? Claudia könnte ja auch dein Alter Ego sein?

Mein Vater hat sich für mich gewünscht, dass ich Diplomatin werde. Aber das passt leider gar nicht zu meinem Charakter. Ich bin völlig undiplomatisch und man sieht mir immer an, was ich denke. Ich bin nicht sicher, ob das für eine Politikerin eine nützliche Eigenschaft wäre.

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„Ziviler Widerstand hat eine lange Historie, so gab es die Suffragetten, die für Frauenrechte stritten, oder die Schwarze Rosa Parks, die im Bus sitzen blieb, um gegen die Rassendiskriminierung zu protestieren. Manchmal braucht es vielleicht ungewöhnliche Protestformen, um etwas zu bewegen.“

Zivilen Protestformen wie auch die oben aufgeführten zeigten durchaus ihre Wirkung und scheinen auch immer wieder in bestimmten Zusammenhängen angebracht zu sein. Aber eines muss man sich doch vor Augen halten: Regelrechte Systemveränderungen auf diese Art einzufordern steht auf einem anderen Blatt. Auch mich erbost mit meinen über 70 Lebensjahren nach wie vor dieser selbstzerstörerische Umgang mit der Natur, dem ein auf unablässige Konkurrenz und materieller Bereicherung ausgerichtetes System, und sei es politische noch so freiheitlich- demokratisch ausgerichtet, auf Dauer nichts wirklich Wirkungsvolles entgegensetzen kann. Aber genau darin zeigt sich wohl auch die eigentliche menschliche Tragödie mit der scheinbaren Hilflosigkeit bei aller Erkenntnis um die prekären Umstände, die uns heute umgeben, nämlich dass die eben mehrheitlich von uns Menschen so gewünschte Lebensart im krassen Widerspruch steht zu unseren faktischen Erkenntnissen und kurioser Weis, oft auch einem inneren Wollen es anders zu machen.

Dagegen helfen alleine weder Empörung, krasser Protest, noch politische Ideologien, sondern wohl nur ein umfassender Bewusstseinswandel, der eben nicht von Minderheiten erzwungen werden kann. Von solchen „totalitären“ Denkansätzen musste ich mich im Laufe meiner Lebensjahre auch erst verabschieden (lernen).