Bevor unser jüngster Sohn, er ist sieben Jahre alt, einschlafen kann, fällt ihm oft noch eine Frage ein, auf die er unbedingt eine Antwort braucht. Gestern Abend, am Ende eines ganz normalen Sommertages, fragte er mich: "Gibt es die Zahl 2099?" Natürlich!, antwortete ich. "Ich meine: das Jahr 2099?", fragte er weiter. Ja, gibt es! "Wie alt bin ich dann?" Wir rechneten. Im Jahr 2099 würde er 83 Jahre alt werden.
Meinen Sohn beruhigte die Antwort, mich machte sie nervös. Ein kleiner Mensch schläft neben uns und plötzlich wird klar, wie viel Leben noch vor ihm liegt. Was wird er erleben? Und was seine Generation: all die Kinder, die gerade noch die erste Klasse besuchen und bald Ferien haben?
Nils Husmann
Seit Jahrzehnten beschäftigt mich der Klimawandel. Ich war zehn Jahre alt, als "Der Spiegel" im August 1986 mit dem Kölner Dom titelte, der unter Wasser stand: "Die Klima-Katastrophe" lautete der Titel. Ich war das vierte Kind, ein Nachzügler, meine Eltern und Geschwister hatten viel zu tun auf dem Bauernhof. Deshalb las ich, was mir vor die Augen kam – und niemand kontrollierte, ob es kindgerecht war.
Der Anblick des Doms faszinierte mich, aber vermutlich bekam ich auch Angst. Ich weiß es nicht mehr. In der Oberstufe nervte ich meine Mitschülerinnen und -schüler mit Referaten, die ich freiwillig hielt. Eine Note wollte ich nicht, ich wollte sie nur aufrütteln und verstand nicht, warum sie sofort wieder vergaßen, worüber ich gerade geredet hatte.
Später beschäftigte ich mich in meiner Magisterarbeit mit der Frage, warum sich die Staaten so schwertaten, der Erderwärmung entschieden und gemeinsam entgegenzutreten. Das war 2003. Die Frage ist heute noch aktuell. Die Arbeit enthielt auch einen kurzen Teil zur Klimaforschung, den ich gerade wieder durchgelesen habe. 20 Jahre später wird mir klar: Die Forschenden irrten damals – denn die Erwärmung der Atmosphäre vollzieht sich schneller als gedacht.
An dem Abend, an dem mein Sohn wissen wollte, ob es das Jahr 2099 geben wird, wurden in Andalusien in Spanien 44 Grad Celsius gemessen. In Teilen Indiens waren gerade 46 Grad registriert worden. Menschen sterben an der Hitze, das öffentliche Leben bricht zusammen, jedenfalls tagsüber. Was kommt da auf meine Kinder zu? Und warum gucken mich immer noch viele Menschen ungläubig an, wenn ich das Thema anspreche – so wie meine Klassenkameraden im Jahr 1996? Wie kann es sein, dass wir so viel Zeit verloren haben und noch immer verlieren?
Fordert es nicht nur, tut auch was dafür!
Ich weiß, dass die Appelle, jede(r) können im Alleingang "das Klima retten", Schwachsinn sind, ja sogar zum Repertoire bewusst lancierter Verzögerungsstrategien gehören, die echte Klimafortschritte verhindern sollen. Damit fossile Konzerne noch ein bisschen länger Kasse machen können.
Das Mindeste, was ich von meinen erwachsenen Mitmenschen erwarte, ist politischer Druck, der von ihnen ausgehen muss. Wenn ein Mensch einen Leserbrief oder eine Mail an die oder den Abgeordneten schreibt, geht das unter. Wenn es Tausende machen, sieht es schon anders aus. Gerade erst ist am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung eine Erhebung erschienen, wonach deutlich mehr als die Hälfte der Befragten der Aussage zustimmt, die Bundesregierung sollte den Klimawandel entschiedener bekämpfen. Ja, meine Güte, dann fordert es nicht nur, dann tut auch was dafür: Macht Druck, Druck, Druck und redet, redet, redet!
Aber das passiert nur selten. Ich glaube, die Menschen sagen, ihnen ist das Klima wichtig – und vergessen es sofort wieder. Ich bin sicher, viele haben Angst vor dem, was auf sie und ihre Kinder zukommt – und verdrängen es einen Augenblick später. Eckart von Hirschhausen fragte sich bei uns im Mai in chrismon: "Wenn sich so viele Menschen ohnmächtig fühlen, wo ist denn dann diese ominöse Macht?" Seine Frage geht mir nicht aus dem Kopf. Was ist los mit uns?
Wir haben das Klima erwärmt
Wir leben im Hier und Jetzt. Deswegen tun wir uns auch oft schwer, einen Termin beim Zahnarzt zu machen, solange nichts wehtut. Andererseits: Wir schließen Unfall- und Lebensversicherungen ab, weil uns theoretisch etwas zustoßen könnte. Oder Bausparverträge, weil wir vielleicht mal ein Haus bauen.
Ich fürchte, die ganze Debatte krankt (auch) daran, dass wir Klima und Wetter verwechseln. Das Wetter ist das, was wir an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit sehen und messen können. Das ist in gemäßigten Zonen immer noch selten extrem oder gefährlich, auch wenn sich die Atmosphäre immer weiter erwärmt. Es heißt ja auch "globale Erderwärmung" und nicht Frankfurt- oder Lausitz- oder Rheingraben-Erwärmung. Deshalb fürchten sich vermutlich auch nur wenige Menschen, wenn sie hören, das 1,5-Grad-Ziel sei kaum mehr zu erreichen. Solche Temperaturspannen erleben wir jeden Tag, ohne dass uns etwas passiert. Ausgerechnet das Wetter macht es uns leicht, die Gefahr zu verdrängen.
Das Klima umfasst viele, viele Wettertage. Fachleute beschreiben es in Zeiträumen von 30 Jahren. Derzeit vergleichen wir unsere Wetterphänomene mit der Wetterperiode von 1991 bis 2020, in der sich die Erde schon erhitzt hatte. Der Trend ist eindeutig. Wir haben das Klima erwärmt. Jeden Tag beeinflusst das irgendwo auf der Welt das Wetter. Derzeit eben in Andalusien oder Indien. Wetterextreme nehmen zu, aber immer nur in bestimmten Regionen, selten rollen diese Extreme auf breiter Front auf uns zu – wie etwa die Pandemie 2020, bei der sehr vielen Menschen weltweit klar war: Wir sitzen alle in einem Boot. Bei Corona war das ein Schock, der kurze Zeit in eine riesige Solidarität mündete, die bald wieder bröckeln sollte.
Das Wetter ist meist so banal, dass es die Bedrohung durch den menschengemachten Klimawandel klein erscheinen lässt. Ich wüsste schon gern, was wütende Autofahrer dachten, als sich jemand vor ihnen auf die Straße geklebt hatte – bei 15 Grad im Mai. Der "Frankfurter Rundschau" sagte die Psychologin Myriam Bechtoldt: "Wir können die Klimakrise ausblenden, weil die schlimmsten Klimaschäden in der fernen Zukunft liegen." Die aktuellen Veränderungen des Klimas seien zwar real, aber bisher gering oder nicht überall spürbar. Die Flutkatastrophe im Ahrtal mit vielen Toten war schlimm, sie wird aber eher als singuläres Ereignis empfunden und für viele Menschen ist sie weit weg. Das mache es unglaublich schwer zu verinnerlichen, dass sich eine Katastrophe ereignet, meint Myriam Bechtoldt:
"Wir können nur die Gegenwart erleben, physisch, emotional, seelisch. Die Vergangenheit und die Zukunft sind abstrakte Konzepte, die wir kognitiv verstehen können, aber nicht fühlen. Dadurch haben diese eine andere Dringlichkeit und auch eine andere Wahrheit für uns. Wahr ist das, was ich jetzt gerade empfinde."
Und das, was wir empfinden, ist das Wetter – nicht das Klima. Wir müssen lernen, Wetter und Klima getrennt voneinander zu verstehen. Und wir müssen darüber mit Menschen reden, die sich das noch nie bewusstgemacht haben. Wenn wir das schaffen, wäre mir schon ein bisschen wohler, wenn mein Kind mich nach dem Jahr 2099 fragt.
Der Karren hat ein Eigenleben
Zitat: "Wir haben das Klima erwärmt".
Damit ist eine Schuldzuweisung zu "WIR" verbunden. Das ist falsch oder doch eine unvollständige Wahrheit bzw. Folge der Geschichte. Unsere Zivilisation unser Konsum, unsere Zahl sind die Ursachen. Wir sind nur das Werkzeug des Verbrauchs, der Vernichtung von Rohstoffen und Natur. Schuldige kann man bestrafen und ausmerzen. Ein System hat dagegen eine lange Vor- und Nachlaufzeit. Schlüssel rum und auf und zu geht ebenso wenig, wie Schuldige dingfest zu machen. Erst recht nicht, wenn die längst gestorben sind. Die Zivilisation und die "Sucht", dass immer mehr Menschen existieren und besser leben wollen, sind die Ursachen. Aber wie schön ist es doch, einen Schuldigen zu finden. Wir wollen olympisch leben. Immer besser, länger und umsorgter. Babel ist eine Illusion .
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