Sexuelle Gewalt
Warum hat sie die Freundin nicht aufgehalten?
Ein Serientäter vergewaltigt eine junge Frau. Ihre beste Freundin fühlt sich schuldig. Wie haben die beiden das durchgestanden?
Sexualisierte Gewalt - "Nur eine darf mitkommen"
"Er hat mich nicht gebrochen", sagt Barbara
Malwine Stauss
Aktualisiert am 20.07.2024
16Min

"Glücklich ist, wer vergisst." Ich kaufe Barbara* die Postkarte mit diesem Satz, weil manchmal, da machen wir Witze darüber, dass sie so viel vergisst. Und ich mich an nutzlose Kleinigkeiten erinnere, wie ob die Sonne schien an diesem oder jenem Tag.

Eigentlich suchen wir in der Papeterie zusammen nach einem Geburtstagsgeschenk.
"Du nimmst mich wieder hoch", sagt Barbara.
"Nein. Ich glaube, vergessen macht glücklicher", sage ich.
"Ich versuche, im Moment zu leben."
"Eben."
"Denkst du immer noch so oft daran?"
"Ja. Und du?"
"Eigentlich nie. Ich fühle mich nicht als Opfer", sagt Barbara, das Opfer.

Heute stehen wir mitten im Leben, sie hat geheiratet, wir ziehen Kinder groß, lieben unsere Jobs. Damals als Teenager lernten wir uns in einem Schweizer Gymnasium zwischen Automatenkaffee und der schrillen Pausenglocke kennen. Ich versteckte, so gut es ging, meine Zahnspange, nahm meinen Mut zusammen und sprach sie an. Schon seit ­einigen Wochen beobachtete ich sie, die wilde Locken trug und die richtigen Sneakers, die ihre Zigaretten selbst drehte und sich auf dem Schulhof über den Klassenkampf ausließ.

Liebes Tagebuch, ich möchte unbedingt ihre Freundin werden, schrieb ich. Ich spürte: Mit dieser Frau könnte ich die Welt erobern, ohne dass mir je was zustoßen würde. Das Tagebuch habe ich noch; es liegt in einer Kiste im Keller, quillt über von eingeklebten Fotos.

"Du hast eine coole Lederjacke."
"Und du schöne Haare."
"Trinken wir was zusammen?"

Eine Freundschaft fürs Leben beginnt. Wir lernen bis heute immer wieder von- und aneinander. Ich spreche ­Dinge aus, wenn sie mich beschäftigen, ich hole Hilfe, weine ohne Scham und platze, wenn es in mir brodelt. Ich grabe gern tief und mag Geheimnisse vor allem dann, wenn man sie aufdeckt. Barbara hingegen trägt einen Panzer. Einer, der in all den Jahren zwar Risse zeigte, der sie aber zuverlässig schützt; so wie früher, als sich ihre Eltern jahrelang in Beziehungskämpfen mit Worten zerfleischten. "Allein überleben können" wurde im Kindesalter zu ihrem Glaubenssatz.

Wir verbringen viel Zeit miteinander, lernen zu­sammen, schmuggeln uns als Minderjährige in Technoclubs, philosophieren bis zum Sonnenaufgang, reisen per Autostopp durch die Schweiz. Jeder Tag explodiert wie ein Feuerwerk, wie es Teenager halt so empfinden. Bis zu ­jenem Sommerabend.

Sogar Barbara, die lieber im Jetzt lebt als in der Vergangenheit, weiß bis heute, dass es ein Freitag war.

Liebes Tagebuch, ich hoffe, der Tag morgen bringt das, was er verspricht. Der letzte Tag vor den Sommerferien, das Wetter wie ein Vorbote des Unheils: kühl, wechselhaft mit Niederschlag und Gewitter. Wir wollen in ein paar Tagen mit dem Zug ans Meer reisen – ohne Eltern. Ich bin siebzehn, sie ist achtzehn. Ein endloser Sommer soll es werden; wir treffen uns in Hochstimmung im Park und stoßen auf unsere Pläne an.

"Sehen wir uns morgen?", frage ich.
"Klar. Ich muss arbeiten. Danach gern", sagt sie.
"Sorry, habt ihr kurz Zeit?", fragt ein Mann. "Ich habe ein Problem, und ihr könnt mir helfen."

Barbara trägt ein grün-rot-gelb gestreiftes T-Shirt und einen grauen Rock. Ich weiß es bis heute, weil ich die Kleider meiner Freundin am nächsten Tag wasche. Sie kann den Stoff nicht mehr sehen – und vor allem nicht mehr riechen.

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Dieser Mann, er ist nur wenige Jahre älter als Barbara. Die Justiz wird sich später mit ihm wegen über einem Dutzend Delikten befassen: Es geht unter anderem um Vergewaltigung, Entführung und Nötigung. Er kommt zum Ziel mit der immer gleichen Masche; er lockt seine Opfer mit Geld.

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Infobox

Rat und Hilfe: Betroffene können sich an das Frauen­­hilfetelefon wenden unter 08000 116 016 oder Beratung ­finden unter www.frauen-gegen-gewalt.de.

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