chrismon: Es ist Pride Month. In Deutschland mussten dieses Jahr einige CSD-Paraden bereits wegen "abstrakter Bedrohungslage" abgesagt werden. In Emden hat es eine Attacke auf mehrere Teilnehmer gegeben. Macht dir das Sorgen?
Tim Lahr: Auf jeden Fall! Trotzdem dürfen wir jetzt nicht einknicken, auch wenn die Sicherheit natürlich vorgeht. Wir verlassen uns auf die Polizei und auf den Staat, dass er Menschen schützt. Aber gerade in der queeren Community ist das ein sehr präsentes Thema, über das wir viel und offen sprechen. Bei unseren Gottesdiensten haben wir auch einen Sicherheitsdienst.
Zahlreiche Unternehmen weltweit haben dieses Jahr ihre Beteiligung beim Pride Month zurückgezogen – auch wegen mangelnder Unterstützung der US-Regierung.
Leider bestätigt das einen Eindruck, den viele in der Community teilen: Solange queeres Leben im Trend liegt, wird es gerne zur Selbstdarstellung genutzt. Doch sobald es unbequemer wird, ziehen sich viele zurück. Die wahren Verbündeten erkennt man daran, dass sie auch in schwierigen Zeiten zu uns halten. Ich appelliere besonders an die Kirchen, jetzt ein Zeichen zu setzen.
Tim Lahr
Die Rechte queerer Menschen sind auf der ganzen Welt zunehmend in Gefahr. Häufig sind es fundamentalistisch Gläubige, die diese Bedrohung vorantreiben. Wie gehst du mit Kommentaren um, die Homosexualität als ‚Sünde‘ bezeichnen?
Inzwischen sind es so viele Kommentare, dass ich gar nicht mehr hinterherkomme. Ich lösche sie konsequent – nicht, um Diskussionen zu unterdrücken, sondern weil ich der Meinung bin: Solchem Gedankengut darf kein weiterer Raum gegeben werden. Es braucht ein klares Gegenbild, denn die Vorstellung, dass alle Gläubigen Homosexualität als Sünde betrachten, ist schlicht falsch. Ich bin überzeugt: Die Mehrheit der Christinnen und Christen in Deutschland teilt dieses Menschenbild nicht.
Was ist der häufigste Kommentar dieser Art?
Sehr häufig begegnet mir der Satz: "Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun." Ein scheinbar harmloser Kommentar, der gezielt so formuliert ist, dass er nicht justiziabel ist – und dennoch eine klare Verurteilung transportiert. Auch Kotz-Emojis tauchen regelmäßig auf. Ich finde, solche widerlichen, verurteilenden Kommentare sind die eigentliche Sünde.
Was machst du, wenn Bibelverse zitiert werden, die angeblich Homosexualität verteufeln?
Die Bibel ist kein Gesetzbuch, das man anderen Menschen vorhalten sollte – schon gar nicht selektiv. Viele greifen sich einzelne Verse heraus, um ihre eigene Queerfeindlichkeit zu untermauern. Dabei beziehen sich die wenigen Passagen, die überhaupt in Zusammenhang mit Homosexualität gebracht werden, meist auf gewaltsame Handlungen wie Vergewaltigung – nie aber auf gleichberechtigte, liebevolle Beziehungen zwischen zwei Menschen gleichen Geschlechts. Wer die Bibel ernst nimmt, muss sie im historischen Kontext lesen. Sonst müsste man auch das Verbot von Mischgewebe oder die Rechtfertigung von Sklaverei akzeptieren – was heute niemand mehr ernsthaft tut. Im Zentrum der Botschaft Jesu steht etwas anderes: "Liebe Gott von ganzem Herzen – und deinen Nächsten wie dich selbst." Jesus selbst hat Homosexualität nie als Sünde bezeichnet. Doch gerade von fundamentalistischen Gruppen wird das Gebot der Liebe häufig verdreht. Sätze wie "Gott liebt den Sünder, aber hasst die Sünde" klingen auf den ersten Blick harmlos, dienen aber letztlich dazu, queerfeindliche Haltungen unter einem frommen Deckmantel zu verstecken.
Du hast gemeinsam mit deinem Team in Köln im Jahr 2023 eine queere Kirche gegründet? Wie wird das Angebot angenommen?
Sehr gut! Besser könnte es eigentlich nicht laufen. Bei jedem unserer Gottesdienste ist die Kirche bis auf den letzten Platz gefüllt. Rund 300 Menschen kommen regelmäßig – mehr passen gar nicht hinein.
Ihr seid sehr aktiv, habt viele Angebote zum Pride Month. Habt Ihr auch mit Vandalismus zu kämpfen?
Meist bleibt es bei negativen Kommentaren – körperliche Angriffe erleben wir glücklicherweise nicht. Unser Ziel ist es, einen geschützten Raum zu schaffen, in dem wir gemeinsam Kirche feiern können, in dem sich queere Menschen willkommen, sicher und angenommen fühlen. Nicht die Angst soll unseren Alltag bestimmen, sondern die gemeinsame Arbeit und das Miteinander. Natürlich provoziert das auch Hass – aber unser Fokus liegt nicht auf den Hasserfüllten, sondern auf jenen, die nach Halt und Gemeinschaft suchen. Queere Menschen müssen sich schon oft genug rechtfertigen – queere Christen sogar doppelt. Deshalb brauchen wir auch die Unterstützung von heterosexuellen Verbündeten. Der Schutz queerer Menschen – und aller diskriminierten Gruppen – ist nicht nur Aufgabe der Betroffenen. Es ist eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung.
Die Kirche bezieht Stellung zu politischen Fragen – nicht alle finden das richtig. Was entgegnest du ihnen?
Ich finde, Kirche kann gar nicht unpolitisch sein, wenn sie die Botschaft Jesu in die Welt trägt. Wenn Menschen im Mittelmeer ertrinken oder zu Unrecht abgeschoben werden, dann kann das gar nicht unpolitisch sein. Das Festhalten am Kirchenasyl oder die Unterstützung von Sea-Watch ist daher wichtig. Aber ich würde als Pfarrer keine Wahlempfehlung abgeben.
Lesetipp: Julia Klöckner kritisiert die Kirchen - zu wenig Kirche, zu viel NGO?
Für manche queeren Menschen bist du zu christlich, für manche Christen zu queer - ist das ein Drahtseilakt?
Ja, das ist definitiv ein Problem. Trotzdem ist es nicht mein Anliegen, mich auf eine Seite zu schlagen, sondern Brücken zu bauen. Ich kann aber nicht die einzige Person sein, die das tut. Die Gefahr besteht darin, dass die Kirche Verantwortung von sich weist – nach dem Motto: Wir haben ja bereits eine queere Kirche, mehr müssen wir nicht tun.
Von fundamentalen Christen wird der Begriff Pride Month häufig mit der Sünde des Stolzes in Verbindung gebracht.
Ja, Stolz ist eine Sünde. Aber damit ist eine vollkommen andere Art von Stolz gemeint als im Pride Month. Es geht nicht darum, sich über andere Menschen zu erheben. Queeren Menschen wurde lange Zeit eingeredet, sich für sich selbst schämen zu müssen. Pride ist eine Reaktion gegen die Scham. Es geht darum, zu zeigen: Ich bin richtig, so wie ich bin, und ich muss mich nicht verstecken. Ich denke da an Gisèle Pelicot - die Frau, die jahrelang von ihrem Ehemann betäubt und von anderen Männern vergewaltigt wurde. Im Prozess sagte sie den Satz: "Die Scham muss die Seite wechseln." Auch die Kirche muss sich schämen, für das, was sie homosexuellen Menschen angetan hat. Da gibt es leider viele grausame Geschichten. Eigentlich müsste das jede Landeskirche erfassen und dafür Entschädigungen zahlen. Es müsste ein aufrichtiges Schuldbekenntnis geben und eine Aufarbeitung der Vergangenheit.
Was würdest du jungen Menschen raten, die queer sind und deswegen mit ihrem Glauben hadern?
Ich würde ihnen raten, den Austausch mit anderen gläubigen queeren Menschen zu suchen und sich gegenseitig zu stärken. Es ist wichtig, kritisch zu hinterfragen, was einem über den eigenen Glauben oder die eigene Identität gesagt wurde – und nicht zu glauben, dass mit einem selbst etwas nicht stimme. Ich bin überzeugt: Queere Menschen sind genauso von Gott gewollt und richtig gemacht, wie sie sind.