In einem Monat vor 76 Jahren, am 23. Mai, wurde das Grundgesetz verkündet. Auch wenn sich darin keine offizielle Rangliste findet, welches staatliche Amt das höchste sei, hat sich in den vergangenen Jahrzehnten eine Staatspraxis herausgebildet: Protokollarisch steht die Präsidentin des Deutschen Bundestages an zweiter Stelle – hinter dem Bundespräsidenten, aber noch vor dem Bundeskanzler. Wenn Julia Klöckner etwas sagt, haben ihre Worte also durchaus Gewicht.
Umso irritierender ist, dass eine der ersten öffentlichen Einlassungen der frisch gewählten Bundestagspräsidentin den Kirchen galt. Und das auch noch zu Ostern, dem höchsten Fest der Christenheit. Als die "Bild am Sonntag" sie fragte, warum immer mehr Menschen aus den Kirchen austreten, antwortete Klöckner unter anderem: "Wenn Kirche manchmal zu beliebig wird oder zu tagesaktuellen Themen Stellungnahmen abgibt wie eine NGO (Nichtregierungsorganisation) und nicht mehr die grundsätzlichen Fragen von Leben und Tod im Blick hat, dann wird sie leider auch austauschbar. Ich meine: Klar kann sich Kirche auch zu Tempo 130 äußern, aber dafür zahle ich jetzt nicht unbedingt Kirchensteuer."
Der studierten Theologin Julia Klöckner ist sicherlich nicht entgangen, dass die Kirchen immer wieder zu Fragen vom Anfang und Ende des Lebens Stellung nehmen, etwa in der schwierigen Debatte über den assistierten Suizid. Sie weiß bestimmt auch, dass Seelsorger und Seelsorgerinnen den Menschen auch ganz konkret beistehen in schweren Stunden. Kirchliche Mitarbeitende und Ehrenamtliche tun Dienst in Hospizen, halten die Hände von Sterbenden. Pfarrerinnen und Pfarrer beerdigen Menschen und suchen mit Hinterbliebenen Trost.
Man muss annehmen, dass Julia Klöckner schlicht genervt ist, wenn die Kirchen politisch werden und sich zu aktuellen Fragen äußern. Sie wies auf die Nichtregierungsorganisationen hin, die – kurz nach der Bundestagswahl – von der Unionsfraktion im Bundestag unter Generalverdacht gestellt worden waren. Offenbar konnten es Parteikollegen von Julia Klöckner nicht ertragen, dass sich eine breite zivilgesellschaftliche Bewegung gegen den kommenden Bundeskanzler Friedrich Merz gestellt hatte, nachdem dieser eine Mehrheit mit Stimmen der AfD in Kauf genommen hatte.
Das neue Amt von Julia Klöckner ist auf Überparteilichkeit ausgelegt. Warum also teilt sie gegen Menschen aus, die sich für die Demokratie starkmachen? Warum ist ihr Thema nicht der erstarkende Rechtsextremismus in Deutschland, der die Demokratie verächtlich macht und sie abschaffen will? Vielleicht sollte sie einmal Kirchengemeinden besuchen, die den rechtsextremen Kräften mutig widersprechen. Wie kann die Kirche unpolitisch sein, wenn unsere Freiheit auf dem Spiel steht?
Der Verweis auf Tempo 130 auf Autobahnen darf wohl als Hinweis auf die Umwelt- und Klimadebatte verstanden werden. Zur Erinnerung: Im vergangenen Jahr haben die globalen Kohlendioxidwerte noch einmal einen Sprung gemacht, größer als je zuvor. Dadurch verschärft sich die menschengemachte Erderwärmung. Das gefährdet Menschenleben und die Chancen von Kindern und noch ungeborenen Generationen auf ein gutes Leben. Natürlich darf, ja muss die Kirche sich zu solchen Themen äußern, auch zu Detailfragen wie einer allgemeinen Geschwindigkeitsbegrenzung auf Autobahnen.
Klöckners Partei, die CDU, trägt das C für christlich im Parteinamen. Es ist gut, dass Unionspolitiker die Bundestagspräsidentin für ihre Aussagen kritisieren. So meint der Vorsitzende des CDU-Sozialflügels, Dennis Radtke: "Ich finde es maximal irritierend, dass wir meinen, wir hätten das Recht, die Kirchen zurechtzuweisen und in ihrer Kommunikation auf ihre vermeintlichen Kernaufgaben zurückzudrängen, wie Julia Klöckner das jetzt getan hat." Die Kernaufgabe der Kirche sei die Verkündigung des Evangeliums und die Lehre von Jesus Christus. "Überall da, wo Kirchen der Meinung sind, das kollidiert mit der Politik, hat Kirche natürlich das Recht und auch die Pflicht, sich zu Wort zu melden."
Dem ist nichts hinzuzufügen, außer dass Klöckners Interview mit der "Bild am Sonntag" nicht einfach nur ein Fehlstart ins neue Amt war, sondern: ziemlich schäbig.