Demokratie und Brandmauer
Die große Lüge
Jahrelang versicherten CDU und CSU: Die "Brandmauer" gegen die AfD steht. Gestern verhalf Friedrich Merz den Rechtsextremen im Bundestag zu einem Triumph. Was bedeutet das für die Zukunft?
Ein Wahlplakat der AfD hängt vor einem übergroßen Wahlplakat der CDU, das Friedrich Merz im Portrait zeigt
Ein riesiges Wahlplakat an der CDU-Zentrale in Berlin zeigt CDU-Spitzenkandidat Friedrich Merz. Davor ein Plakat der AfD.
Michael Sohn / picture alliance / Associated Press
Tim Wegner
30.01.2025
5Min

Am 13. November des vergangenen Jahres hielt Friedrich Merz im Bundestag eine Rede. Die Ampelkoalition war gerade zerbrochen. Der CDU-Chef und Fraktionsvorsitzende der Unionsparteien sprach wie ein verantwortungsbewusster Staatsmann, der SPD und Grünen ein Angebot machte: Man solle vereinbaren, bis zur Wahl im Februar nur die Entscheidungen auf die Tagesordnung zu setzen, über die man sich zuvor geeinigt habe, "so dass weder bei der Bestimmung der Tagesordnung noch bei den Abstimmungen in der Sache hier im Haus auch nur ein einziges Mal eine zufällige oder tatsächlich herbeigeführte Mehrheit mit denen da von der AfD zustande kommt".

Zwei Monate später, am 29. Januar, wurde klar: Friedrich Merz hat Öffentlichkeit und Parlament im November belogen. Die Unionsfraktion brachte zwei Entschließungsanträge ein, einer davon erhielt eine knappe Mehrheit. Es war der sogenannte Fünf-Punkte-Plan der Union, eine Reaktion auf den Tod zweier Menschen in Aschaffenburg. Ein offenbar psychisch schwer gestörter Afghane hatte sie vergangene Woche erstochen. Eines der Opfer, ein kleiner Junge, wurde nur zwei Jahre alt. Das andere Opfer wollte den Angreifer stoppen. Eine Mehrheit für den Antrag kam nur zustande, weil auch die AfD dem Antrag zustimmte.

Der 29. Januar 2025 markiert eine Zäsur. Sehenden Auges war Friedrich Merz auf die Situation zugesteuert. Man werde die Anträge einbringen, "unabhängig davon, wer ihnen zustimmt", hatte er in der Woche zuvor erklärt. Für die AfD, die vom Bundesamt für Verfassungsschutz als extremistischer Verdachtsfall geführt wird (und ziemlich sicher nach der Wahl auch als gesichert extremistisch eingestuft werden wird), war das eine Einladung. Da half es auch nicht, dass die Union die Rechtsextremen in ihrem Antrag scharf kritisierte. Nach der gestrigen Abstimmung machten AfD-Abgeordnete - ihre Partei wirbt mittlerweile offen auf Plakaten für die sogenannte "Remigration" - im Bundestag Selfies in Siegerpose.

Gut möglich, dass die "Brandmauer", deren Stabilität Merz immer wieder versichert hatte, am Freitag ein zweites Mal einreißt. Dann aber geht es nicht um einen Antrag, sondern sogar um einen Gesetzesvorschlag, zur Abstimmung steht das sogenannte "Zustrombegrenzungsgesetz".

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Man kann Friedrich Merz zugutehalten, dass ihn die Bluttat von Aschaffenburg, der Tod eines Kindes zumal, mitgenommen und empört hat. Aber wen lässt so ein Ereignis kalt? Wen empört so eine Tragödie nicht? Merz hätte seiner Trauer, seiner Wut gestern im Bundestag Ausdruck verleihen und für eine noch striktere Migrationspolitik werben und sie bei der Wahl am 23. Februar zur Abstimmung stellen können. Politisch geändert hätte sich nichts, denn Entschließungsanträge haben Aufforderungscharakter, die Bundesregierung und das Parlament könnten ihnen in dieser Legislaturperiode schon aus Zeitgründen nicht mehr nachkommen. Und der Gesetzentwurf, über den am Freitag abgestimmt wird und den unter anderem auch die beiden Kirchen in Deutschland rechtlich für fragwürdig bis falsch erachten, wird im März aller Voraussicht nach im Bundesrat scheitern – vermutlich auch an Neinstimmen aus unionsgeführten Bundesländern. Daniel Günther, CDU-Ministerpräsident in Schleswig-Holstein, kritisierte als einer von wenigen den Merz'schen Kurs scharf.

Man muss Friedrich Merz also unterstellen, dass er entweder fahrlässig handelte, im Furor. Ihm eilt der Ruf voraus, impulsiv zu handeln – und erst danach die Folgen seines Tuns zu bedenken. Oder aber: Friedrich Merz hat die Union mit voller Absicht und aus Überzeugung weit nach rechts gerückt. Dafür spricht seine scharfe Rhetorik. Gestern sagte er unter anderem: "Vor die Wahl gestellt, weiter ohnmächtig zuzusehen, wie die Menschen in unserem Land bedroht, verletzt und ermordet werden", entscheide er sich für seinen Weg.

Merz spricht so, als würden stündlich Menschen in Deutschland durch Migranten verletzt oder ermordet. Das ist gefährlicher Quatsch. Am Vorabend der gestrigen Bundestagssitzung hatten sich die evangelische Prälatin Anne Gidion, die Bevollmächtigte des Rates der EKD bei der Bundesregierung, und der katholische Prälat Karl Jüsten, der Leiter des Kommissariats der deutschen katholischen Bischöfe, in einer gemeinsamen Erklärung an die Parlamentarier gewandt. Die Debatte sei dazu geeignet, "alle in Deutschland lebenden Migrantinnen und Migranten zu diffamieren, Vorurteile zu schüren". Dem ist nichts hinzuzufügen. In Deutschland leben weit über 20 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund. Wie es wohl ihnen dieser Tage geht?

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Merz erwähnte am 29. Januar nicht, dass die damals noch regierende Ampelregierung im Herbst viele Bestimmungen verschärfte, dass im vergangenen Jahr deutlich weniger Menschen in Deutschland Zuflucht suchten, dafür aber mehr als im Vorjahr abgeschoben wurden. Ja, Migration ist ein wichtiges Thema, das viele Menschen umtreibt. Aber seit Wochen schon hat man den Eindruck, als gäbe es keine anderen Probleme in diesem Land.

Die Union scheint nur noch in der Begrenzung der Zuwanderung ihr Heil zu sehen. Dabei nimmt sie in Kauf, unerfüllbare Ankündigungen zu machen. Im Fünf-Punkte-Plan der Union, dem übrigens auch die FDP-Fraktion fast geschlossen zustimmte, steht unter anderem diese Forderung: "Personen, die vollziehbar ausreisepflichtig sind, dürfen nicht mehr auf freiem Fuß sein. Sie müssen unmittelbar in Haft genommen werden." Ende des Jahres waren das 42.300 Menschen. Zum Vergleich: Es gibt in Deutschland derzeit etwa 45.000 Strafgefangene. Schon das Verhältnis dieser beiden Zahlen zeigt: Der Vorschlag ist komplett weltfremd und reine Wahlkampfrhetorik, die bei manchen Wählern Erwartungen weckt, die niemals eingelöst werden können. Am Ende sammelt die AfD noch mehr Enttäuschte ein.

Welche Folgen hat der gestrige Tag? Vielleicht profitiert am Ende die AfD – es wäre nicht das erste Mal, dass sich die Leute lieber für das Original statt für die Kopie entscheiden. Die Wahl wird es zeigen. Die mittel- und langfristigen Folgen sind gravierender. Wie will die Union SPD oder Grüne nach dem Vertrauensbruch am 29. Januar noch als Koalitionspartner gewinnen? Und wie will sie in Kommunen, Kreistagen und Bundesländern in Zukunft dafür werben, dass ihre Parteikollegen nicht mit der AfD zusammenarbeiten sollen?

Im Zweifel wird niemand die Anweisungen aus dem Konrad-Adenauer-Haus ernst nehmen, hat doch die Bundestagsfraktion auch einen Antrag mit Hilfe der AfD durchgebracht. Es droht eine rasche Normalisierung der Rechtsextremen, deren Hass und Hetze sich ohnehin bis weit in die Mitte der Gesellschaft gefressen haben. In einigen Gegenden hetzt die AfD bereits offen gegen Kirchenleute, aus öffentlichen Ämtern heraus. Wie soll die Merz-CDU diesen Menschen glaubhaft zur Seite stehen? Die Motive von Friedrich Merz mögen unklar bleiben. Aber gestern hat er nicht nur gelogen, sondern der Demokratie und der politischen Kultur schweren Schaden zugefügt.

Übrigens stimmt der Bundestag an diesem 30. Januar über ein AfD-Verbotsverfahren ab. Die überparteiliche Initiative geht wesentlich auf den CDU-Mann Marco Wanderwitz zurück, der nach der Wahl aus dem Parlament ausscheidet - die Bedrohungen durch Rechtsextreme waren für ihn und seine Familie zu einer Belastung geworden. Gestern, als Union und AfD beide mit "Ja" stimmten, war er unter den acht Unionsabgeordneten, die nicht an der Wahl teilnahmen.

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