Wer die AfD wählt, trägt Verantwortung
Ressentiment und Radikalität
Immer wieder denke ich darüber nach, warum so viele Menschen eine radikale Partei wie die AfD wählen. Von zwei Soziologen erhielt ich gute Anregungen, doch am Ende bleibt die Erkenntnis: Wer wählt, trägt Verantwortung
Wahlkampfveranstaltung der rechtsextremen Partei Alternative für Deutschland (AfD) in Apolda, Ostdeutschland, am 18. August 2024 vor der Landtagswahl im ostdeutschen Bundesland Thüringen
Wahlkampfveranstaltung der rechtsextremen Partei Alternative für Deutschland (AfD) in Apolda, Ostdeutschland, am 18. August 2024 vor der Landtagswahl im ostdeutschen Bundesland Thüringen
Jens Schlüter / AfP / Getty Images
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
11.10.2024
4Min

Natürlich gibt es noch andere interessante Themen auf der Welt als nur die AfD. Aber da diese Partei in besonderer Weise die Politik in Deutschland bestimmt – und für einen mächtigen europa-, ja weltweiten Trend steht –, lohnt es sich, immer wieder und noch einmal über sie nachzudenken. Es genügt eben nicht, sich aufzuregen, um es sich dann mit ein, zwei Klischees bequem zu machen. Zum Glück gibt es regelmäßig neuen Stoff zum Nachdenken.

Zwei Soziologen haben mich mit ihren Thesen zum gegenwärtigen Erfolg der AfD besonders angeregt. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 22. August hatte Detlef Pollack versucht, eine Antwort auf die Frage zu geben, warum so viele Ostdeutsche diese Partei wählen. Zunächst schloss er naheliegende, beliebte Erklärungen aus. Die meisten Wähler seien – im Unterschied zu manchen Funktionären – keine Rechtsextremisten. Auch seien sie keine diktaturgeprägten Anti-Demokraten. Auch nicht sozial schwach oder gefährdet.

Es handle sich vor allem um Hiergebliebene (meine Formulierung), die in Regionen lebten, die von Strukturschwäche und Abwanderung gezeichnet seien. Darauf reagierten sie mit Trotz und Ärger, Abwehr alles Fremden, tiefem Misstrauen gegen Institutionen und Verantwortungsträger. Die Erinnerung an die radikalen Umwälzungen der 1990er Jahre spielte eine große Rolle (das wäre allerdings ein eigenes Thema), aber auch die seit langem und immer noch intensiv wahrgenommene Verachtung durch Westdeutsche und Großstädter (und die gibt es in der Tat – sie zeigt sich nicht zuletzt in der Art, wie über AfD-Erfolge in Ostdeutschland berichtet wird).

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Das Hauptmotiv der AfD-Wähler, so Pollack, sei "Ressentiment". Was ist das eigentlich? Ressentiment kommt von dem französischen "ressentir", das bedeutete ursprünglich wertfrei "nach-fühlen". Doch heute versteht man darunter eine besondere Form des Empfindens: verärgert, verhärtet, verbittert. Es handelt sich um einen Groll, der sich nicht frei entfaltet, um danach aufzuhören, sondern der in wütendem Schweigen und Grummeln dauerhaft am Leben erhalten bleibt. Man fühlt sich verletzt, zurückgesetzt, ausgeschlossen und reagiert darauf mit einer konstanten Schlechtgelauntheit. Der größte Deuter des Ressentiments war Friedrich Nietzsche. Er diagnostizierte eine Selbstvergiftung durch Rachegedanken: "Einen Rachegedanken haben und ihn ausführen, heißt einen heftigen Fieberanfall bekommen, der aber vorübergeht: einen Rachegedanken aber haben, ohne Kraft und Mut ihn auszuführen, heißt eine Vergiftung an Leib und Seele mit sich herumtragen." Laut Wikipedia fand ein Psychologe dafür den eindrucksvollen Begriff der "Verbitterungsstörung".

In eine ähnliche Richtung zielt ein Artikel von Wilhelm Heitmeyer in der Süddeutschen Zeitung vom 1. Oktober, der den Erfolg der AfD bei jungen Wählern analysiert. Auch hier spiele, laut Heitmeyer, eine rechtsextreme Gesinnung eine untergeordnete Rolle. Es gehe nicht um Faschismus oder Neonazitum, sondern um "autoritären Nationalradikalismus". Die Gegenwart werde als krisenhaft und verwirrend wahrgenommen. Man selbst erlebe sich als isoliert und diskriminiert. Wovon man sich innere Stabilität verspreche, sei die Ausrichtung an vermeintlich alten, festen Ordnungen. Das sei zum einem der Nationalstaat und zum anderen ein starkes Männerbild. Beides verleihe ein Gefühl von Überlegenheit, das viele Jungwähler in ihrem Leben vermissten, sowie die Hoffnung, die Kontrolle über das eigene Umfeld wiederzuerlangen. Zudem berge beides ein Provokationspotential in sich, das junge Männer locke, die sich zurückgesetzt fühlten.

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Ressentiment also kann zu einem Konservatismus führen, der sich zu einem autoritären Nationalradikalismus steigert, dem dabei allerdings inhaltlich Wesentliches verloren geht, zum Bespiel bestimmte Formen der kulturellen Bildung oder das Bewusstsein für die Bedeutung von Religion als Traditionskern (weshalb "rechtes Christentum" – ein Arbeitsthema der vergangenen Jahre von mir – an Bedeutung verloren hat). Autoritärer Nationalradikalismus ist – im Unterschied zu einer bewussten Herkunftstreue – eigentümlich leer. Er gründet sich nur noch auf zwei biologische Fakten: das Land, in dem man halt geboren wurde, das Geschlecht, das man mitbekommen hat. Für beides kann man nichts. Deshalb muss es so aufgeblasen werden. Deshalb braucht man die "Fremden" und die "Woken" als Kontrastfolie. Der neue autoritäre Nationalradikalismus zeugt also von einer politischen, sozialen, kulturellen und eben auch spirituellen Krise.

Da fragt man unwillkürlich nach der passenden Therapie, einer wirksamen Seelsorge. Wie lässt sich die Verbitterungsstörung heilen? Wie kann man diese Menschen zurückholen?

Bei diesen Fragen reagiere ich aus zwei Gründen zurückhaltend. Zum einen lassen sich verfestigte Weltbildgefühle nicht mal eben so und schon gar nicht von außen verändern. Sachliche Argumente und gutes Zureden helfen nicht. Es müsste andere, bessere emotionale Angebote geben oder neue, bessere Erfahrungen. Zum anderen frage ich mich, ob therapeutisch-pädagogische Fragen nicht eigentümlich unpolitisch sind. Wer AfD wählt, ist erwachsen, hat sich entschieden, diese Entscheidung selbst zu verantworten und muss mit den Folgen für seine Kommune, sein Bundesland leben.

Hierzu passt etwas, was mir vor kurzem ein Gesprächspartner gesagt hat, der in einer ostdeutschen Universität Verantwortung trägt. In schöner Schnodderigkeit erklärte er mir, das eigentliche Problem mit AfD-Politikern sei weniger rechtsextreme Gesinnung als mangelnde Kompetenz, nämlich die schiere Unfähigkeit und Unwilligkeit, echte Probleme ernsthaft anzugehen. Wenn er über Fachkräftemangel spreche, höre er von Vertretern der AfD nur abstrakte Reden über Familienpolitik – die sich erst in einer Generation auswirkt, wenn überhaupt. Und bis dahin?

Bis dahin müssen wir uns fragen, wer denn bei uns und mit uns leben will.

Zum Schluss noch etwas anderes: Anfang der Woche erzählte mir eine Kollegin von ihrem Urlaub, eine Woche war sie auf einem ökumenischen Pilgerweg durch Thüringen gewandert, schöne Landschaften habe sie gesehen und sehr viele freundliche, interessierte, gastfreie Menschen getroffen.

P.S.: "Der diverse Christus" – über die Geschlechtergeschichte des Christusbildes spreche ich in meinem Podcast mit dem Kirchenhistoriker Anselm Schubert, der dazu ein sehr gutes Buch geschrieben hat.

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Kolumne

Johann Hinrich Claussen

Auch das Überflüssige ist lebens­notwendig: Der Autor und Theologe Johann Hinrich Claussen reist durch die Weiten von Kunst und Kultur