Neulich hinterließ jemand auf der Facebook-Seite von chrismon einen Kommentar, der antisemitische Codes enthielt. Ich habe darunter kommentiert, warum wir das für inakzeptabel halten. War das richtig?
Dana Buchzik: Als Journalist haben Sie eine Verantwortung, auf kritische Inhalte zu reagieren. Aber leider ist die Online-Gegenrede aus vielen Gründen zum Scheitern verurteilt.
Welche Gründe sind das?
Wir können die Regeln aus unserer Offlinewelt nicht eins zu eins übertragen aufs Internet. Das Netz ist kein Marktplatz der Ideen, wo jeder angehört wird. Im Gegenteil: Die Algorithmen der großen Plattformen wie Facebook oder X, vormals Twitter, befeuern radikale Inhalte massiv. Auch wenn wir es gut meinen: Sobald wir auf einen radikalen Inhalt reagieren, schenken wir dem Hass noch Reichweite. Diese Verantwortung müssen wir mitdenken.
Dana Buchzik
Sie sprechen von mehreren Gründen. Woran scheitert die Online-Gegenrede noch?
Feindselige Online-Inhalte kommen fast immer von Menschen, die auch offline feindselig reagieren würden. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass diese Menschen uns aufmerksam zuhören oder offen sind für neue Einsichten. Grundsätzlich tun sich Menschen mit Kritik schwer. Sobald uns jemand widerspricht, geht die Gegenwehr los. Wir wollen uns verteidigen. Für radikale Personen gilt das umso mehr, weil eine radikale Ideologie die eigenen Meinungen, Ziele und Gefühle auffrisst. Für Radikale fühlt sich es wirklich lebensgefährlich an, wenn ihre Haltung infrage gestellt wird.
Rechtsextreme, rassistische und umstürzlerische Parolen bekommen immer mehr Zustimmung. Können wir denn gar nichts tun?
Doch! Freunde und Familie sind die Tür zurück in die Welt. In unserem direkten Umfeld haben wir viel bessere Chancen, Gehör zu finden. Radikale Akteure versuchen immer, die Menschen herauszulösen aus ihren familiären und freundschaftlichen Beziehungen, weil das private Umfeld ihre größte Konkurrenz ist. Auch in Dokumentationen über AfD-Aussteiger haben die Aussteiger berichtet, dass Kontakte zum sozialen Umfeld als angeblich unwichtig deklariert wurden. Am Ende waren es aber natürlich genau diese tiefen Verbindungen, die den Ausstieg erleichtert haben. Keine Ideologie kann die Liebe ersetzen. Sie ist unser Joker.
"Es gibt einen Weg zurück - nämlich über meine Familie, über meine Freundinnen und Freunde"
Dana Buchzik
Liebe?
Ja! In meinen Beratungen höre ich häufig die Bitte: "Gib mir mal einen guten Satz." Dieser Satz soll dann einen Konflikt auflösen, der seit Jahren besteht. Aber so einen magischen Satz gibt es leider nicht. Es braucht Zeit. Wer die Kraft hat, sollte die Beziehung zu einer radikalisierten Person aufrechterhalten. Denn wer sich radikalisiert, bezahlt dafür einen hohen Preis. Es kann sein, dass Menschen sich verschulden, weil sie irgendeinem Scharlatan ihr Geld in den Rachen werfen. Oder dass sie ihren Job aufgeben, weil sie immer für eine radikale Gruppe verfügbar sein wollen. Manche machen sich strafbar. Und dann ist es für diese Menschen umso wichtiger zu wissen: Es gibt einen Weg zurück - nämlich über meine Familie, über meine Freundinnen und Freunde. Und wenn ich irgendwann die Kraft finde, mich aus dieser radikalen Gruppe loszueisen, wartet ein Umfeld auf mich, das mich immer noch liebhat.
Was bedeutet das konkret, wie können wir helfen?
Sobald wir bemerken, dass sich jemand radikalisiert, können wir uns zusammenschließen und Verwandte oder Freunde zusammentrommeln. Gemeinsam kann man überlegen: Was war der Person vor ihrer Radikalisierung wichtig? Was waren ihre Ziele, Bedürfnisse, Sehnsüchte? Und welches dieser Bedürfnisse wurde durch die Radikalisierung bedient? Welche konkreten Vorteile hat ein Mensch im Alltag davon, einer radikalen Ideologie anzuhängen?
Welche Vorteile können das sein?
Sozialer Rückhalt, sich gesehen fühlen, ein Gefühl von Freundschaft und Verlässlichkeit in der radikalen Gruppe erleben, Sinn im Alltag erleben. Viele denken: "Ich habe die Lösung gefunden, es kommt auf mich an, ich werde die Welt verändern!" Erst wenn wir das verstanden haben, können wir ein gutes Gegenangebot machen. Mit Fakten kommen wir nicht weit. Gerade für den Journalismus, der sich in der Tradition der Aufklärung sieht, ist das nicht leicht zu akzeptieren, aber Menschen, die sich radikalisieren, entscheiden sich bewusst dagegen, sich zu informieren. Das sehen wir bei Trump, das sehen wir bei der AfD. Auch wir, die wir Radikalisierte ansprechen möchten, müssen mit Emotionen arbeiten und nicht mit Fakten.
Seit Veröffentlichung der Correctiv-Recherchen gibt es Demonstrationen, die nicht nur gegen, sondern auch für etwas sind: für Demokratie und Vielfalt zum Beispiel. Können diese Demos radikalisierte Menschen erreichen?
Die Demonstrationen sind wichtig, weil die große Mehrheit spürt: Die Demokratie lebt und für sie wird gekämpft. Sie sind auch ein wichtiger Hinweis an die Regierung. Das Problem Radikalisierung können sie nicht auflösen, denn Deradikalisierungsarbeit funktioniert am besten von Angesicht zu Angesicht.
Ich habe im Zuge der Bauernproteste gesehen, dass sich frühere Wegbegleiter über ihren Whatsapp-Status mit den Landwirten solidarisieren, aber auch Parolen von Gruppen teilen, die Verschwörungsmythen bedienen. Sollte ich vielleicht schreiben oder anrufen?
Anschreiben? Auf gar keinen Fall! Diskussionen über Messengerdienste eskalieren schnell. Anrufen und sich zum Spaziergang zu verabreden, ist deutlich erfolgsträchtiger.
Lesen Sie hier das Porträt des AfD-Spitzenkandidaten für die Europawahl
In Ihrem Buch ist oft vom radikalisierten Onkel die Rede, den wir auf der Familienfeier treffen. Die Auseinandersetzung bleibt uns nicht erspart …
… und ich verstehe, dass viele Menschen davor zurückscheuen. Aber es passiert sehr selten, dass sich jemand in zwei Wochen radikalisiert. Oft gab es schon über Jahre Anzeichen, die wir verdrängen, bis ein Niveau erreicht ist, das man nicht mehr ignorieren kann. Mein Rat: in der Familie, im Freundeskreis hinhören, hinschauen und früh das Gespräch suchen.
Eine erste Version des Textes erschien am 21. Februar 2024.