Die Correctiv-Recherchen haben gezeigt: Es gibt in der AfD und in identitären Kreisen konkrete Überlegungen, wie man Menschen mit Migrationshintergrund aus Deutschland vertreiben könnte. Wie fühlen Sie sich, wenn Sie so etwas in den Nachrichten hören?
Ryyan Alshebl: Ich bin weder in Deutschland geboren noch aufgewachsen, sondern kam mit 21 Jahren hierher und bin nun hauptamtlicher Bürgermeister. Mir war klar, dass die AfD meine Wahl nicht begrüßt. Das hat sich bestätigt, wie ich an teils wirklich ekligen Kommentaren im Internet gesehen habe. Leute schrieben: "Was hat der hier zu suchen? In Syrien gibt es keinen Krieg mehr." Aus Sicht dieser Ideologen gehöre ich nicht zum deutschen Volk, sondern zu einer Migranten-Community, die Deutschland über kurz oder lang unterwandern werde. Neu ist für mich, dass das Establishment innerhalb der AfD nicht bereit ist, eine rote Linie zu ziehen oder Brandmauern zu errichten. Das lässt Schlimmes befürchten.
Ryyan Alshebl
Was meinen Sie?
Angenommen, der hypothetische Fall tritt ein und die AfD ergreift die Macht: Ich würde mich überhaupt nicht wundern, wenn sie alles daransetzen würde, um zu verhindern, dass Menschen wie ich öffentliche Ämter wahrnehmen. Die Recherchen haben etwas ans Licht gebracht, das mit der Verfassung bricht. Meiner Meinung nach sind auch Polizei und Justiz gefragt.
Wie empfinden Sie das alles als Mensch?
Ich spüre: Wenn solche Fantasien einmal Praxis werden, bin ich raus. Dann muss ich mir ein anderes Land suchen, in dem ich mich nicht als geächtetes Mitglied der Gesellschaft fühle. Ich war immer der Überzeugung, dass sich Geschichte nicht wiederholt. Aber ich kann das nicht mehr ausschließen.
Was gibt Ihnen Hoffnung?
Wir leben nicht mehr in der Weimarer Republik. Die Bürgerinnen und Bürger und die überwiegende Zahl der Politikerinnen und Politiker halten sich an die demokratischen Spielregeln und wissen, was Demokratie bedeutet.
Ostelsheim hat 2763 Einwohner. Sie haben im Wahlkampf an viele Türen geklopft, viele Gespräche geführt und haben vor einem Jahr die Wahl gewonnen. Fehlt uns das in Deutschland – Begegnungen von Angesicht zu Angesicht?
Auf jeden Fall fehlen Begegnungen, die ein differenziertes Bild vermitteln! Ich komme aus Syrien, und wenn ich die Debatte um die Integration meiner Landsleute verfolge, geht es immer darum, dass zu viele Syrer arbeitslos oder kriminell sind - aber nie, dass Syrien ein Land voller Talente ist. Mich stört, dass ich immer als Ausnahme behandelt werde. Das bin ich nicht. Es gibt zum Beispiel viele Ärztinnen und Ärzte, die aus Syrien stammen. Mir ist klar, dass die Medien nicht immerzu über die Lebensgeschichten von 6000 syrischstämmigen Medizinern berichten können. Aber es ist schade, dass ein Großteil der Berichterstattung von Problemen handelt. Das hilft den Rechtsextremisten.
"Es gibt kein Interesse, Parallelgesellschaften aufzubauen. Und das ist für mich vollkommen nachvollziehbar."
Ryyan Alshebl
Was raten Sie Menschen, die nach Deutschland fliehen, in diesen Zeiten?
Stellt euch der Realität! Deutschland ist ein wunderbares Land. Es fördert die Menschen, die etwas aus sich machen wollen. Gleichzeitig gibt es politisch und gesellschaftlich kein Interesse, Parallelgesellschaften aufzubauen. Und das ist für mich vollkommen nachvollziehbar. Ich möchte nicht von einer deutschen Leitkultur sprechen, aber wäre ich 2015 nach Köln, Frankfurt oder Berlin-Kreuzberg gekommen, wäre ich aller Voraussicht nach heute kein Bürgermeister. Zieht in die kleinen Städte und die Dörfer! Ich rate allen - egal ob Geflüchtete oder Fachkräfte - Vorbehalte auszublenden und sich einzubringen. Wir sind in Deutschland weit überwiegend eine hochtolerante Gesellschaft, die in der Lage ist, alle aufzunehmen - aber natürlich mit der berechtigten Erwartung, dass eine Gegenleistung kommt.
Kann oder muss man aus Ihrer Sicht mit AfD-Wählern und -Anhängerinnen reden?
Ich rate ab, alle pauschal auszugrenzen. Das wird die gesellschaftliche Spaltung, die die AfD beabsichtigt, nur verstärken. Ich führe mittlerweile auch Gespräche mit Menschen, die mich nicht gewählt haben – entweder aus ideologischen Gründen oder weil sie Angst haben, dass sie ihre Heimat, wie sie sie kennen, verlieren werden.
Was erleben Sie in diesen Gesprächen?
Ideologien sind gefährlich, denn sie verhindern leider konstruktive Gespräche. Aber die Unterhaltungen mit den Menschen, die eine Verlustangst haben, sind anders und bringen auch etwas.
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Was treibt diese Menschen um?
Sie haben das beschauliche Dorf am Rande des Schwarzwaldes von vor 20, 30 Jahren vor Augen. Nun erleben sie, dass auch in Orten wie Ostelsheim mehr als zehn Prozent der Einwohner eine Migrationsgeschichte haben. Und, klar, unter den zehn Prozent gibt es einige wenige, die nicht daran interessiert sind, ein Teil dieser Gesellschaft zu sein. Für diejenigen, die diesen Wandel noch nicht verarbeitet haben, ist das befremdlich. Mit diesen Menschen verabrede ich mich gern zu Gesprächen. Oft sind die Unterhaltungen lang und am Ende höre ich: "Bei mir hat sich etwas bewegt."
Sie haben sich natürlich auch sehr angestrengt, das spricht für Sie!
Vielen Dank! Aber es spricht noch viel mehr für diese Gesellschaft und ihre Toleranz. Mein Erfolg ist der Erfolg der Gemeinschaft.