Seenotrettung
Krieg gegen Unschuldige auf dem Mittelmeer
Wie sehen Menschenrechtsverletzungen von oben aus? Die Wiener Comedian Stefanie Sargnagel startete mit einem Sea-Watch-Team auf Lampedusa, um Ausschau nach Schiffbrüchigen zu halten. Und nach Rettern
Stefanie Sargnagel in der Seabird
Unter den Schiffen des täglichen Schiffsverkehrs, Küstenwache, Handelsschiffe, Fischerboote nach Fluchtbooten Ausschau halten - keine leichte Aufgabe
Laura Meschede / Sea Watch
Stefanie SargnagelApollonia-Theresa-Bitzan
15.01.2025
22Min

Die Verzweiflung muss ja groß sein, wenn man eine Quatschkünstlerin wie mich ins Flugzeug setzt, dachte ich mir. Dem Sea-Watch-Medienteam ging es darum, den katastrophalen Auswirkungen europäischer Abschottungspolitik Aufmerk­samkeit zu bringen. Und mir? Neugierde treibt Schriftstellerinnen an und der Erfolg sorgt­ für schlechtes Gewissen, also sagte ich sofort zu, als das Sea-Watch-Medienteam mich fragte, ob ich bei einem Luftraumüberwachungsflug mithelfen möchte. Eine Künstlerin einzuladen, sei ein ­Experiment, und man dachte, ich wäre dafür zu haben. Ein Flug mit der "Seabird 1", einem zweimotorigen ­Flugzeug, in das sechs Personen passen. "Okay, bin dabei", sagte ich, ohne groß darüber nachzudenken.

Etwas mulmig wurde mir doch, als es darum ging, vor der Reise einige Formulare zu unterschreiben. Ich müsse zur Kenntnis nehmen, dass wir uns bei Flügen entlang der libyschen Küste in der Nähe eines der gefährlichsten Lufträume der Welt aufhalten würden. Als ich auch noch Sicherheitsfragen für den Fall einer Entführung durch ­libysche Milizen beantworten sollte, wurde mir direkt ­etwas schlecht. Das sei aber alles nur für den Worst Case, der so noch nie eingetreten sei, erklärte man mir, und so blieb ich bei dem Plan.

Stefanie SargnagelApollonia-Theresa-Bitzan

Stefanie Sargnagel

Stefanie Sarg­nagel, 38, ist ­österreichische ­Cartoonistin, ­Enter­tainerin und ­Schriftstellerin. Ihr Buch "Iowa" stand 2024 auf der Longlist zum Deutschen ­Buchpreis. Dieser Text erschien zuerst im Wiener "­Standard". Sargnagel spendet ihr Honorar an Sea-Watch.

Via Videocall wollte mich eine Psychologin auf den Einsatz vorbereiten. Es müsse mir bewusst sein, sagte sie, dass ich möglicherweise mit Bildern konfrontiert werde, die mich nicht mehr loslassen werden. Das Bezeugen eines Schiffbruchs und der Untätigkeit von Behörden könne traumatisch sein. Ich könnte Menschen beim Ertrinken sehen. Die größte Angst, die ich habe, sage ich ehrlich, ist die, einen falschen Witz zu machen, etwas Unsensibles zu sagen oder prinzipiell Verantwortung zu übernehmen. Ich meide die ernsten Seiten des Lebens so gut, wie es geht. Wie privilegiert von mir, dieses Privileg freiwillig aufgeben zu können.

Spätabends komme ich nach einer komplizierten ­Anreise in mediterranem Klima auf Lampedusa an und fahre mit der Medienbeauftragten L., die ich im ­weiteren Text "Betreuerin" nennen werde, in das Crew House. Hier sind die Leute des Airborne-Teams untergebracht, also ­alle, die an Flugzeugeinsätzen vor Ort mitarbeiten. Schüchtern betrete ich mit meinem Reiserucksack die ­Küche. Drei, vier Leute sitzen da an einem großen Esstisch, begrüßen mich, und man stellt sich vor. Ich schreibe ­meinen ­Freunden eine erste Nachricht: "Arg, das ist hier wie eine linke WG. Hoffentlich bin ich nicht zu rechts."

Als Humoristin mit Provokationszwang weiß man, manchmal muss man in linken Szenen auf ­Eierschalen gehen. Eine Schüssel Kichererbsensalat wartet auf Neuankömmlinge, ein Teller Butter und frisches Brot. ­Nervös sitze ich am Tisch und habe das Gefühl, alles falsch zu machen, eine gewisse Ehrfurcht habe ich vor diesem ­Aktivismus, und ich würge unmotiviert eine Erbse nach der anderen runter. Durch die ersten Gespräche erfahre ich, dass auch die anderen einander kaum kennen, denn man arbeite hier in einem ständig wechselnden Rad, angereist aus verschiedenen Städten. Niemand bleibe länger als ein paar Wochen auf der Insel.

Die Gruppe ist jung. Hier sitzen keine alten Rettungs­sanitäter mit jahrzehntelanger Erfahrung und Hornhaut­händen. Man schult sich gegenseitig. Ebenfalls gerade erst angekommen ist ein Berliner Sozialarbeiter, Anfang dreißig, unverstellte Art. Betreut den Haushalt, kocht Abendessen und fährt die Einsatzcrew zum Flughafen, packt eine Jause für das Team, schneidet Obst klein für Tupperdosen, legt neue Bettwäsche aus, hält alles in Schuss. Ob er auch mal ins Flugzeug steige, frage ich ihn. Er kenne die Horrorgeschichten seiner Jungs, die er in Berlin betreue. Jahrelange Misshandlungen auf Fluchtrouten, dazu brauche er nicht auch noch schreckliche Bilder. Dafür sei er zu sensibel.

Die Betreuerin nimmt sich ein alkoholfreies Bier aus dem Kühlschrank. Ein älterer Mann kommt jetzt in die Küche, grüßt mit französischem Akzent und holt sich ein Glas Wasser. Schmal, höflich, Glatze, Brille, ­gutbürgerliche Aura. Ein Pilot im Ruhestand. Er blickt in die Runde und sagt, er wisse ja noch gar nicht, wer als Nächstes ­mitfliege, und lacht. "Ich habe nur die Liste mit Körpergewicht ­bekommen." Dann schaut er den stämmigen ­Sozialarbeiter an und sagt: "85 Kilo: Das bist dann wohl du." Der ­Sozialarbeiter schüttelt den Kopf. Ich richte mich auf und räuspere mich: "Nein, das bin dann wohl ich." Das Butterbrot schiebe ich beschämt zur Seite. Muskeln, es sind Muskeln, denke ich mir. Wir waschen unsere Teller ab, dann gehen wir schlafen.

"Die Crew versucht, den Harndrang möglichst gering zu halten, die Flüge dauern bis zu acht Stunden"

Stefanie Sargnagel

Im Videobriefing vor meiner Anreise wurde mir gesagt, ich solle proaktiv im Haushalt mithelfen und nicht ­erwarten, dass mich jemand bediene, also koche ich am nächsten Morgen mit zittrigen Fingern demonstrativ ­Kaffee. Dann wasche ich irgendwas ab, damit alle sehen, dass ich kein Snob bin. Kaffee trinken hier immer nur die Leute, die keinen Einsatz fliegen. Die Crew, die ins Flugzeug steigt, versucht, den Harndrang möglichst gering zu halten, denn die Flüge dauern bis zu acht Stunden. Ich ­könne aber auch eine Windel tragen, hat man mir gesagt. Was, wenn ich mich da oben anscheiße, denke ich ­panisch. Was, wenn sie mich 900 Meter über dem ­zentralen Mittelmeer wickeln müssen? Unangenehm.

Heute fliege ich noch nicht, die Betreuerin zeigt mir erst mal die Insel. Die letzten Spuren der Hauptsaison prägen das Bild, die Straßen sind belebt, die Touristen sind vor allem Italiener. Dass man sich knapp an der tödlichsten Fluchtroute der Welt befindet, könnte man hier vergessen. Dass an dieser Küste vor zwei Monaten wieder zehn Tote geborgen wurden, würde man nicht vermuten. Eissalons, Arancinerias, Sonnenschirme, türkisblaues Meer, Strandboutiquen, la dolce vita.

Die Crew vor dem Abflug. Als Erstes gehts ans Fensterputzen. Das kann Stefanie Sargnagel (ganz links und im unteren Bild) "so mittel"

Am Hafen entschlüsselt die Betreuerin die Situation für mich. Über den angelegten Booten ist auf einer Hauswand die Szene einer Seenotrettung gemalt worden, darunter ­Fischer-, Kajüt- und Ausflugsboote. Die Betreuerin zeigt mir die Boote von Frontex, von der italienischen Küstenwache und der Guardia di Finanza, dem Zoll. Die Krise ist ein Wirtschaftszweig geworden. Der umstrittene ­Grenzschutz Frontex schafft Arbeitsplätze. Auch die NGOs beleben die Gastronomie außerhalb der Saison.

Lesetipp: Neue EU-Regelungen verschärften 2023 die Situation von Flüchtlingen. Was das bedeutet, erklärt Thies Gundlach von der Seenotrettungsorganisation United4Rescue im Interview.

Zurück im Haus folgt das Briefing für meinen Flug. Ein grinsender Brite mit Ohrring zeichnet das Schema, nach dem ich den Ozean absuchen soll, mit einem Bleistift auf. Ich lerne das Nato-Alphabet: "Alpha, Bravo, Charlie, Delta, Echo, Foxtrot . . ." Auf Fotos zeigt er mir verschiedene Wasser- fahrzeuge des täglichen Schiffsverkehrs. Küstenwachen, Handelsschiffe, Fischerboote und die Boote für die Flucht.

Jedes dieser Fluchtboote, erläutert er, ist eine ­eigene Art von Todesfalle. Am seetüchtigsten seien die Fiberglasboote, für diese Überfahrten zahle man am meisten. Motorisierte Holzboote seien am häufigsten. Oft haben sie zwei Decks. Wegen der Abgase der Motoren drohe im unteren Deck der Erstickungstod. Eine Überfahrt mit so einem Boot dauert, so sie gelingt, ungefähr fünf Tage, in denen man schutzlos den Naturgewalten ausgeliefert ist.

Die Navigation ist oft unko­ordiniert, oft haben die Geflüchteten nur einen Kompass. Schwimmwesten gibt es so gut wie nie, die Leute legen sich billige Autoschläuche lose um den Hals. Das auslaufende Benzin und das Salzwasser mischen sich im Bauch des Bootes zu einer ätzenden Säure. Ganze Hautfetzen lösen sich dann von den Beinen der Menschen, die entsetzliche Schmerzen haben. Schlauchboote würden die Überfahrt kaum schaffen. Ein spezieller Schlauchboottyp werde in China allein für Schlepper produziert.

Am übelsten aber sind Stahlboote aus Tunesien. Das Material rostet durch das Salzwasser, hat keinerlei Auftrieb, sobald zu viel Wasser in das Gefährt gelangt, sinkt es innerhalb von Sekunden tief ins Mittelmeer. Wir ­schauen mit den Ferngläsern aus dem Fenster, um ein Gefühl für die Schärfe zu bekommen. Die Flugzeugcrew besteht aus vier Personen: Pilot, Einsatzleiter, Medienperson, Spotterin. Alle beobachten das Meer. Die Spotterin bin in dem Fall ich. Der Einsatzleiter sagt mit Nachdruck: Wenn du nicht mehr kannst, kehren wir um, ich solle nicht ­zögern, man nehme Rücksicht auf das schwächste Glied. Für den Magen gebe es Tabletten. Ein Leben ohne Verantwortung, denke ich mir, ist doch eigentlich ganz behaglich. Abhauen wäre jetzt aber auch peinlich.

Die Flughafencrew ist heute auf Stand-by, man wartet Notrufe und Wetterverhältnisse ab, und die Leute sitzen vor ihren Laptops in der Küche. Dann die Absage: Heute werde nicht geflogen, die Wellen seien zu hoch. Aktuell ist das größte Schiff der NGO, die "Sea-Watch 5", für 20 Tage in einem Hafen in der Nähe von Rom festgesetzt. Die Begründung bezieht sich auf das unter Ministerpräsidentin Meloni erlassene Piantedosi-Dekret. Man hätte auf Erlaubnis von Libyen warten müssen, bevor man die Menschen rettet. Dies macht nicht nur überhaupt keinen Sinn, sondern es verstößt außerdem gegen EU- und internationales Seerecht.

Ist das jetzt ein "Fall"? – Nein, ein Handelsschiff. Konzentration ist wichtig – und schwierig, wenn man stundenlang nichts sieht, nur Wasser und Himmel

Abends gibt es auf dem Dach des Hauses vegane Bolognese. Zehn Leute sitzen unter freiem Himmel zusammen. Parmesan wird über den Tisch gereicht. Man lacht. Plötzlich unterbricht ein Surren die Runde. Alle schauen nach oben. Eine Drohne fliegt durch den Nachthimmel, nahe am Haus, dann bleibt sie in etwa vier Meter Höhe genau über unserer Tischrunde stehen, zieht einen Kreis und rauscht wieder ab. Alle verstummen. Was zur Hölle war das? Vielleicht hat jemand einfach seine Drohne ausprobiert, sagen die einen. Wir sind in einem militarisierten Gebiet, sagen die anderen, davon, dass wir überwacht werden, müsse man immer ausgehen. Nach einer halben Stunde wiederholt sich der seltsame Vorgang. Kauend starren wir in die Drohne, die uns aus der Vogelperspektive filmt.

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Am nächsten Morgen hören wir, ein Boot sei angekommen, aber von den Geflüchteten ist nichts mehr zu sehen. In den Hafencafés trinken die Leute Espresso und löffeln Granita. Es seien Menschen aus Syrien und Bangladesch gewesen, circa siebzig, 17 davon Kinder. Meinen Einsatz abwartend, trinke ich heute ebenfalls keinen Kaffee. Die Windel liegt schon wartend auf meinem Bett. Das häufigste Gespräch: Fliegt man heute, wann fliegt man, wie lange wartet man heute, ob man fliege. Es regnet, und alle schauen schweigend aus dem Fenster. Anstrengende Anspannung.

Als ich mutig vorschlage, Spiele zu spielen, ist die Betreuerin begeistert, die zwei ­anderen ­rea­gieren abweisend. Sie beginnen, von schlechten Brettspielerfahrungen ihrer Kindheit zu ­erzählen. Schwere Brettspieltraumata, es sei ihnen unmöglich, diese zu überwinden. Seltsam, denke ich mir, sie beobachten Menschenrechtsverletzungen und retten Ertrinkende, aber von "Mensch ärgere dich nicht" sind sie lebenslang erschüttert. Die Stunden ziehen sich. Schließlich wird die Bereitschaft abgesagt, der mit dem Flughafen vereinbarte Slot ist jetzt nicht mehr verfügbar. Vielleicht muss ich gar nicht fliegen und kann gar nichts dafür.

Am nächsten Morgen wache ich mit der Zuversicht auf, wieder nicht fliegen zu müssen. Mein Einsatzeifer weicht langsam Bequemlichkeit. Der Himmel ist bewölkt. Das sieht nicht gut aus. Ich wollte ja, aber die Umstände. Im Bett lese ich das Buch "My Fourth Time, We Drowned", einen Bericht der irischen Journalistin Sally Hayden über das Grauen libyscher Lager. Der Menschenhandel ist neben dem Öl Libyens größter Wirtschaftszweig.

Die Verstrickung der Milizen, die von der EU mit Waffen und Booten ausgestattet werden, in Menschenhandel und Erpressung ist bekannt. Werden Geflüchtete von dieser Küstenwache aufgegriffen, drohen ihnen Folter, Vergewaltigung, Sklaverei. Ganze Dörfer legen dann zusammen, um ihre Angehörigen wieder rauszubekommen. Die Menschen auf der Flucht sind Material, aus dem man immer und immer wieder Geld pressen kann.

"Es gab einen Notruf. Jetzt heißt es schnell sein."

Ein neuer Pilot ist angereist, ein junger Schweizer, Mitbegründer der Humanitarian Pilots Initiative, die seit 2017 mit Sea-Watch zusammenarbeitet. Eigentlich ist er Paragliding-Lehrer, aber nach einem Unfall, der ihn ans Bett fesselte, hatte er die Idee, eine NGO für Piloten zu gründen. Was für ein Plot.
Plötzlich macht eine Nachricht im Haus die Runde. Es gab einen Notruf. Jetzt heißt es schnell sein. Der Sozial­arbeiter hat schon unsere Sandwiches geschmiert wie ein Vater, den ich nie hatte. Ich gehe ins Zimmer und schlüpfe in einen feuerfesten orangen Overall, der viel zu eng ist, aber es ist zu spät, um einen neuen auszusuchen. Darunter die erstaunlich bequeme Windel. Den Ausweis, der extra angefertigt wurde, klippe ich an die Brust, und ich soll eine Kappe gegen die Sonneneinstrahlung tragen.

Wir hetzen zum Flughafen, und ich bin überraschend ruhig. Ein kurzer Sicherheitscheck, dann stehen wir auf der kleinen Rampe am Flughafen Lampedusa, und vor uns steht die "Seabird" bereit für den Einsatz. Alles ist durchge­plant. "Zuerst", erklärt mir der Einsatzleiter, "müssen wir die Scheiben gründlich putzen." Er macht es mir vor und drückt mir zwei Lappen in die Hand. Fenster putzen, das kann ich so mittel. Niemand darf verunglücken, weil ich die Fenster schlampig putze. Ich wische und rubble wie besessen. Am Ende habe ich vier Fenster gereinigt. Welcher Wahnsinnige hat mich hier eingeteilt?

Alle bekommen Kopfhörer und Funkmikrofone, über die wir ab jetzt kommunizieren. Wir gleiten Richtung Himmel. Es ist tatsächlich schön, so über die Insel zu fliegen, raus aufs offene Meer. Wir schauen gebannt aufs Wasser. Stundenlang nichts. Der Blick haftet fest am Fens­ter. Dann entdeckt die Fotografin ein leeres Holzboot. Wir fliegen ran, drehen uns seitlich, um Fotos zu machen. Ich schreie, erschrocken von der überraschenden Wendung. Keine Beschriftung, wahrscheinlich ein libyscher Pullback. Dann melde ich mich: "I see a big vessel. Looks like an industrial boat." – "Copy. It’s a merchant vessel." Ein Handelsschiff. Das Boot, von dem wir über einen Notruf erfahren haben, wurde mittlerweile von der italienischen Küstenwache aufgegriffen, weil es sich im italienischen Rettungsgebiet befand.

Lesetipp: Wer bin ich, wenn ich keine Heimatgefühle mehr habe? Was machen Krieg und Flüchtingsdasein mit mir? Darüber schreibt die ukrainisch-georgische Schriftstellerin Tamriko Sholi in der chrismon-Kolumne Transitraum

Vier Rettungszonen sind in dieser Mittelmeerregion festgelegt. Es gibt die maltesische Rettungszone. "Hier kommt niemand, wenn man Notrufe sendet, es wird einfach nicht richtig reagiert." Die italienische Rettungszone, in der Küstenwache und Zoll Boote bergen sollten. Die ­libysche Rettungszone: Hier versucht man, schneller zu sein als die bewaffneten Milizen, die höchstwahrscheinlich von Frontex-Fliegern informiert werden. "Wenn die Menschen am Boot die sogenannte Küstenwache erblicken, springen manche ohne Rettungsweste aus dem Boot. Schlechte Schwimmer, die lieber weit von den ­Küsten ins Meer springen, als verschleppt zu werden." Die neu festgelegte tunesische Rettungszone. "Auf Notrufe wird nicht reagiert. Die Küstenwache fängt manchmal Boote ab." Die EU hat angekündigt, Tunesien 105 Millionen Euro für den Grenzschutz bereitzustellen, obwohl bekannt ist, dass Behörden die Geflüchteten regelmäßig ohne Wasser in der Sahara aussetzen, wo sie qualvoll verdursten.

Funksprüche dringen immer wieder durch die Kopf­hörer. Dann kontaktiert uns Ärzte ohne Grenzen. Sie sind mit einem gecharterten norwegischen Forschungsboot, der "Geo Barents", unterwegs. Ihr Radar hat ein unbekanntes Objekt gemeldet, und sie möchten, dass wir mit dem Flugzeug das Gebiet absuchen. Wir fliegen hin, aber finden nichts. Fliegen immer weiter runter zur Meeresoberfläche, um ein eventuell gesunkenes Objekt oder Schiffbrüchige zu erkennen. Das Meer ist leer. Weil es unruhig ist, sieht man immer wieder Whitecaps, also den weißen Wellenschaum, den man mit Sichtungen verwechseln kann. Vielleicht war es doch ein Fehlsignal. Weiter geht es über Stunden. Die Zeit schien anfangs schnell zu vergehen, jetzt verschwimmt sie in der Monotonie der vor uns liegenden Weite. Irgendwann kann man den Himmel nicht mehr vom Meer unterscheiden.

"Einen Moment lang wirkt das Meer wie eine Wand, wird zweidimensional."

Stefanie Sargnagel

Einen Moment lang wirkt das Meer wie eine Wand, wird zweidimensional. Die Struktur wird nach Stunden immer abstrakter. Lila und luftig wie Heidelbeertopfen, denke ich mir. ­Rissig und grau wie der Verputz einer Wand. Auch die Wolken ähneln ­immer mehr einem Spitzengewebe als einem Wetterphänomen. Mein Kopf pocht. Die ­Sonne brennt durch das Glas. Wir sehen über Stunden ­keine Schiffe und kein Ende des ­Ozeans. Man verliert die Relationen. ­Meeresvögel wirken wie Bohrinseln. Dann eine echte ­riesige Bohrinsel, die ­wieder alles in die richtigen Verhältnisse rückt.

Wir essen unsere Sandwiches. Kündigen immer an, wenn wir den Blick vom Fenster abwenden. ­"Inside." – "Copy." – "Outside." – "Copy." Ich hole mir Pocket Coffee aus der Kühltasche. Die einfachen Boote treiben tagelang in diesem Nichts, ohne Ausrüstung, ­ohne professionelle Navigation, nur Horizont und nachts tiefe Dunkelheit. Menschen, die diese Fluchtroute über­leben, entwickeln eine tiefe Abscheu vor dem Meer. Als ein ­Unwetter aufzieht, fliegen wir wieder zurück.

"Outside. Copy." Soll heißen: Stefanie Sargnagel hat ihren Blick aufs Meer gerichtet

Die Leute in Lampedusa, sagt man mir, seien im ­Grunde nicht fremdenfeindlich. Sie kennen diese Lage seit Jahrzehnten. Fischer haben tote Kinder geborgen. Man sei wütend auf die Regierung, man sei erschöpft von der Belas­tung der Infrastruktur, man habe keine Lust, ein militarisiertes Gebiet zu werden, und das Sterben satt. ­Gegen die Geflüchteten selbst, so sagen die Leute der Crew mir, gebe es aber kaum Hass. Zu oft hätten die Ein­wohner direkt erlebt, was diese Überfahrt bedeutet. Als ich bei einem Stand ein fettiges, fleischgefülltes Arancino auf Englisch bestelle, um vom Vegetarismus der Crew Houses nicht geschwächt zu werden, fragt mich der Verkäufer, ob ich bei Frontex arbeite. Ich sage, ich sei mit Sea-Watch hier, und er lächelt, als fände er das gut.

Zu Hause versuche ich, die Windel im Badezimmer zu entsorgen, aber der Mülleimer ist zu klein. Also trage ich sie in einem Handtuch versteckt in die Küche, wo die gro­ßen Eimer stehen. Dort sitzen aber gerade zwei Leute aus dem Team, also trage ich die Windel wieder zurück. Ratlos verstecke sie unter dem Bett und hoffe, dass ich sie nicht vergesse. Aus dem Besprechungszimmer hole ich mir einen größeren Overall. Der heutige war nah am Platzen. Morgen starten wir um sechs Uhr früh zum nächsten Einsatz.

Sechs Uhr früh ist nicht meine Zeit. "Wir fliegen los", sagt der Pilot energisch, und ich bin hellwach. Beim ­gestrigen Flug habe ich bis auf ein großes Handelsschiff keine einzige Sichtung gemacht und zweifle ein bisschen an meiner Kompetenz. Heute sehe ich nach wenigen ­Minuten etwas, bin aber gehemmt, gleich ein ganzes Flugzeug in Bewegung zu bringen. Niemals zögern, hat man mir eingebläut. "I see a tiny white spot, it is not a wave. Maybe a bird. I’m not sure." – "We will check it out."

Wir fliegen runter, und tatsächlich treibt ein kleines weißes Holzboot verlassen auf dem Mittelmeer. Wieder wird ein illegaler libyscher Pullback vermutet. Jetzt bin ich von meinen Sichtungsfähigkeiten überzeugt. Dann sehe ich etwas Größeres unter der Tragfläche vorbeischippern. ­"I see a blue vessel", sage ich. "That’s a case!", ruft der ­Einsatzleiter, und mein Herz fängt an zu klopfen. "Fuck!", rufe ich, als ich ein langes Holzboot voller Menschen erblicke, und mir steigen Tränen in die Augen. Ein Bild, das man virtuell gut kennt, das ich aber hier, live vor Ort, kaum fassen kann.

Die Menschen haben im überladenen Boot Auto­schläuche um ihre Körper gezogen. So würde man Menschen in Österreich nicht einmal über den Traunsee ­fahren lassen. Die Fotografin analysiert, auf das Display blickend, die Situation. Das Teleobjektiv und die Bilder dienen auch ­dazu, genaue Auskünfte zu geben. "Zwei Motoren, nur ­einer läuft. Zwei Decks. Circa 30 Menschen." Später ­werden wir erfahren, dass es 97 Menschen waren, das bedeutet, viele von ihnen befanden sich im unteren Deck. Wir alarmieren alle zuständigen Seenotrettungsleitstellen, und die nahe gelegene "Geo Barents", die auch heute wieder unterwegs ist, reagiert auf den weitergegebenen Notruf, den Mayday-Relay. Wir bleiben noch eine Weile über dem Schiff. ­"Wissen die, was dieses Flugzeug ist?", frage ich ­naiv. "Wahrscheinlich nicht", sagt der Einsatzleiter.

Das Boot ist offenbar auf dem einigermaßen richtigen Kurs Richtung Italien. Die Fotografin sieht ein zweites Boot ähnlicher Ausführung. "Another case. I think, it’s a different boat." Wieder sinken wir tief ab, um die Situation zu erfassen. "Das Boot ist überhaupt nicht navigiert, es schippert im Grunde im Kreis." Wir fliegen weiter auf der Suche nach anderen Booten, bleiben immer in Kommunikation mit der "Geo Barents". Ich starre weiter auf das Meer auf der Suche nach Objekten. Dann sage ich: "I think, I see a flying object." Meine Augen konnten Himmel und Ozean nicht mehr unterscheiden, weil wir seit Stunden unterwegs sind. Was ich nämlich wirklich gesehen habe, war die "Geo Barents" am Horizont, die auf mich wie ein Hubschrauber am Himmel gewirkt hat.

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Die Bergung kann durchgeführt werden. Wir fliegen zurück zum im Kreis fahrenden Boot, um neue Koordinaten an die Boote in der Nähe und die staatlichen Seenotrettungsleitstellen durchzugeben. Langsam geht der Sprit zu Ende, und wir müssen zurück zum Flughafen. Sind wir zu spät dran, müssten wir in Palermo landen. Kurz fliegen wir noch über die tunesische Rettungszone. Dann geht es nach Lampedusa, mit dem schlechten Gefühl, nicht zu wissen, was mit dem zweiten Boot geschehen ist. Vom Flugzeug aus kann man nichts machen, außer Schiffe zu alarmieren und Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren. Auf dem Weg zurück nach Lampedusa essen wir unsere Sandwiches und Kekse aus der Kühlbox, trinken Cola. Unter dem Overall bin ich ganz verschwitzt.

Am Flughafen treffen wir auf zwei deutsche Männer um die fünfzig. Sie packen gerade ihr privates Flugzeug voll und sind leger gekleidet. St.-Pauli-T-Shirt, Converse-Schuhe. Norddeutsche Abenteurer. Ob wir von Sea-Watch seien und ob er ein Foto machen könne? Der Schweizer ordnet sie als Millionäre ein, die hobbymäßig durch die Welt fliegen. Es gehe nach Tunesien. Sie äußern Interesse, sich auch zu engagieren, Sea-Watch fänden sie klasse. Das zu offensichtliche St.-Pauli-T-Shirt weckt in allen den Verdacht, dass es Behörden in Zivil sind. Im Haus wartet die Nachbesprechung auf uns, aber wir beschließen, davor ­zumindest kurz ins Meer zu springen. Nachdem wir schnell unsere Badekleidung geholt haben, fahren wir zu einem Strand und springen ins Wasser.

"Ich sehe: Männer kauern am Rande, eine schwangere Frau liegt am Boden des Schiffes in einer Embryohaltung, kleine Kinder sind in Decken gewickelt"

Stefanie Sargnagel

Zehn Minuten schwimmen im Salzwasser, eine kurze Erholung, dann zurück zum Einsatzabschluss. Ich frage die Fotografin, ob ich die Fotos sehen könne. "Wenn du nicht weißt, ob sie gerettet wurden, schau dir die Gesichter nicht an, davon kriegst du nur Alpträume", sagt sie zu mir. Kurz danach erfahren wir, dass auch das zweite Boot evakuiert wurde. 110 Menschen befanden sich darauf. Auf dem Foto kann ich die Menschen jetzt genauer sehen, Männer kauern am Rande, eine schwangere Frau liegt am Boden des Schiffes in einer Embryohaltung, kleine Kinder sind in Decken gewickelt. Der "Geo Barents" wurde Genua als Hafen zugewiesen. Reines Kalkül.

Die Anreise zu dem norditalienischen Hafen ­dauert fünf ganze Tage, genau wie die Rückfahrt. Fünf Tage sind Verletzte und Kinder auf See. Zehn Tage lang wird das Schiff keine ­Rettungen durchführen können. Das sind an die 80 000 Euro an Sprit, erklärt man mir. Eine Woche später erfahre ich, dass das Schiff von den italienischen Behörden für zwanzig Tage festgesetzt wurde. Ein Schiff weniger, das man auf dem Mittelmeer kontaktieren kann, wenn man Menschen in Seenot entdeckt. Ein Schiff weniger bedeutet in einem Gebiet von der Größe Deutschlands oftmals: kein Schiff. Neben dem Sterben, das man damit in Kauf nimmt, ist es auch eine Zermürbungsstrategie gegen NGOs. So brennt man humanitäre Helfer gezielt aus.

Im Haus ist heute ein Filmteam spanischer Investigativjournalisten angekommen. Nach der Feuertaufe des Einsatzes bin ich gesprächiger, ein kollegiales Gefühl macht sich breit. Die Spanier fliegen morgen statt mir als Spotter mit. Ich werde heute das Haus verlassen und noch zwei Tage privat in einer kleinen Pension am Strand bleiben. Als ich meine Tasche packe, stehe ich wieder vor dem ­Windelproblem. Die Küche wieder zu belebt. Ich ­probiere es in einem anderen Badezimmer. Auch hier ist der Mülleimer zu klein. Am Ende packe ich die Windel in den Schmutzwäschebeutel und ziehe mit ihr um. Erst in Wien wird sie mir wieder einfallen. Ein Souvenir.

chrismon

Am nächsten Morgen lege ich mich zum ersten Mal kurz auf den Strand. Erst jetzt verarbeite ich die Eindrücke, die sich an der Szenerie reiben. Alle applaudieren einem vorbeifahrenden Boot. Ich schaue auf: eine Hochzeit. Dann spaziere ich durch Lampedusa. Theoretisch kann man die kleine Insel in vier Stunden zu Fuß umrunden. In der ­Nähe des Flughafens ist der Friedhof, auf dem man ­Gräber für Ertrunkene errichtet hat. Einfache Holzkreuze. Ein eingeschweißtes Foto von einem Baby namens Youssef Ali Kanneh wurde an einem Kreuz befestigt. 2020 gestorben auf der Mittelmeerroute. Er wurde nur sechs Monate alt.

Danach spaziere ich, begleitet von einem Straßenhund, die staubigen Straßen zum Hotspot. Das Aufnahmezentrum befindet sich abgelegen in den Hügeln Lampedusas. Am Weg liegt ein verrostetes Auto. Mitarbeiter des Roten Kreuzes fahren an mir auf Vespas vorbei. Hinter hohen ­Stacheldrahtzäunen ist das Grundstück nicht einsehbar. Hier sollen sich Tausende Menschen befinden, aber man hört und sieht davon nichts. Am Nachmittag könnte ich noch eine Fahrt mit dem Sea-Watch-Schiff "Aurora" ­mitmachen. Ein norddeutscher Seenotretter mit Goldene-­Zitronen-­T-Shirt hat es mir angeboten. Man müsse einige Kilometer über das Meer fahren, um nach der Wartung die Motoren auf verschiedenen Stufen einzulaufen, bis man mit den Trainings beginnen könne. Vielleicht gehe sich sogar ein Stopp auf der Insel Linosa aus, da sei es sehr hübsch.

Das 14 Meter lange, blau-rote Schiff ist ein ausrangiertes Schiff der britischen Seenotrettung und somit eines, das für Rettungseinsätze ­besonders gut geeignet ist. Man könne bis zu 25 Knoten fahren, also sehr schnell. Mit einer Hand soll ich mich ­immer festhalten. "One hand for yourself, one for the ship", lautet ein Sprichwort der Seefahrt. Ich plaudere mit der Schiffscrew. Wie man das alles mental verkrafte, frage ich. Ein junger Ingenieur, er sieht aus wie zwanzig, antwortet trocken: "Gar nicht." Dann verfolgt er weiter auf seinem Handy ein Fußballspiel.

Da das Schiff für mehrtägige Fahrten ungeeignet ist, könne man es nicht einfach auf weit entfernte Häfen verweisen. Sieben Crewmitglieder fahren hier mit. Immer versucht man, eine Ärztin an Bord zu haben. Es gibt eine winzige Krankenstation. Regale mit Babyfläschchen und Strampelanzügen. 70 Menschen würden auf das Schiff passen. Mit 100 sei man schon nachts nach Lampedusa gefahren. Vieles lernt man hier durch Erfahrung. Es gibt jetzt eine neue Liege zum Ausruhen am Schiff, alle legen sich probeweise drauf und seufzen. Man versuche, mit der "Aurora" immer früher vor Ort zu sein als "die sogenannte libysche Küstenwache".

Alle sprechen nur von der "sogenannten libyschen Küstenwache", weil sie die Mindeststandards einer ­Küs­tenwache nicht erfüllt und eher eine Ansammlung von Milizen ist. Es gab von ihr auch schon Schüsse auf Rettungsschiffe. Ich mache eine Probefahrt mit dem ­neuen Rettungsschlauchboot mit. Plumpse hinein. Rund um mich springen Thunfische auf und ab. Sogar ­Schildkröten sehe ich und Fliegende Fische. Eine Berlinerin, die den Großteil ihres Lebens als Skipperin auf Schiffen verbringt, zeigt auf einen weißen Vogel: "Das sind Sepiasturmtaucher. Die bleiben ihr Leben lang zusammen, leben dabei aber auf verschiedenen Kontinenten. Einmal im Jahr treffen die sich auf Linosa zur Fortpflanzung, da laufen dann überall so frisch geschlüpfte Federknäuel rum. Dann ziehen die Weibchen nach Südamerika und die Männchen nach ­Afrika. Im Herbst treffen sie sich dann hier wieder. Eigentlich ein tolles Beziehungskonzept, oder?" Sie lacht.

"Wir sehen stundenlang keine Schiffe und kein Ende des Ozeans. Man verliert die Relationen. Mein Kopf pocht."

Bei unserer Rückfahrt fährt zeitgleich mit uns ein Schiff namens "Nadir" ein. Es ist schon dunkel, die Lichter am Hafen leuchten. "Nadir" ist ein ­motorisiertes Segelschiff, das eigentlich nicht dazu gedacht ist, Menschen aufzunehmen. Trotzdem haben sie gerade 36 Menschen aus einem kaputten Schlauchboot geholt. Während wir am gegenüberliegenden Dock ankern, sehen wir, wie die Leute das Boot verlassen, und als wir dazustoßen, stehen die Geflüchteten schon mit Mundschutzmasken in einer Schlange vor einem Wagen des Roten Kreuzes. Sieht man nicht genau hin, könnten es auch Touristen einer Fähre sein. Ein kleines Mädchen mit zwei Zöpfen trägt eine Glitzerjacke. Die Menschen werden in Busse und in Fähren verladen und sind innerhalb einer Stunde spurlos verschwunden. Nur die Rettungswesten, die an der Reling des Segelschiffs hängen, zeugen davon, dass sie gerade noch hier waren.

"Dass an den EU-Außengrenzen Milizen mittlerweile auf Boote schießen, empört nur noch wenige"

Stefanie Sargnagel

Wir gehen noch auf ein letztes Getränk in einen Hinterhof auf der Via Roma. Von der Straße hört man die Musik. Am Tisch wird erzählt, dass heute libysche Milizen im Rettungsgebiet von Malta auf ein Boot mit Geflüchteten geschossen haben. Man habe es von der "Seabird" aus gesehen, dem Flugzeug, in dem ich gestern noch mitgeflogen bin. Die spanischen Dokumentarfilmer hätten alles mitgefilmt. Meine Erwartung ist ein Aufschrei in den internationalen Medien.

Doch dass an den EU-Außengrenzen Milizen mittlerweile auf Boote schießen, empört nur noch wenige, ganz im Gegenteil hält die Europäische Union diese Zustände für verhandelbar. Ein stiller Krieg gegen Unschuldige wird großzügig ausfinanziert. Es hält die Menschen nicht davon ab, weiterhin unter Lebensgefahr aufzubrechen, denn sie haben keine Alternative.

Das Schießen auf Geflüchtete ist nur einen kleinen Schritt vom Schießen auf andere Randgruppen entfernt. Ich werde auch in den kommenden Tagen keine Berichte dazu finden. Die NGOs leisten hier weiterhin Widerstand gegen die Verrohung und die Entwertung menschlichen Lebens auf dem Mittelmeer. Auf einem Plakat, das im Crew House über meinem Bett hing, stand es groß: "Don’t forget them at sea."

Update: Anfang Dezember 2024 hat der italienische Senat eine Gesetzesänderung beschlossen, mit der zivile Rettungsschiffe schneller blockiert und beschlagnahmt werden können. Damit wird versucht, die Aufdeckung von Europas tödlicher Migrationspolitik auf autoritäre Art zu verhindern.

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