Es blitzt nur kurz am Horizont, aber Manos Radisoglou hat es gesehen. Er zieht die Propellermaschine, die er seit über drei Stunden steuert, ein wenig nach links. Schweißperlen stehen ihm auf der Stirn. Vor der libyschen Küste hat es Ende Oktober noch knapp 30 Grad, auch mehrere Hundert Meter über dem Meer. "Target auf zehn Uhr", knarzt es über den Bordfunk. "Drei weiße Punkte." Neben ihm beugt sich sein Co-Pilot Ruben Neugebauer mit dem Fernglas nach vorn. "Fischerboote", sagt er. "Sie fahren Richtung Küste. Könnte sein, dass sie heute Nacht Flüchtlinge nach draußen gezogen haben."
Radisoglou wartet, bis die Boote unter den Flügeln der Maschine verschwinden, dann zieht er scharf nach links, auf das offene Meer. Tiefes Blau bis zum Horizont. Der Motor wummert. Radisoglou drückt das Fernglas an die Augen. Er weiß: Wenn er jetzt nicht aufpasst, sterben vielleicht Menschen.
33 800 Tote seit dem Jahr 2000, über 3000 davon 2017, das Mittelmeer: ein Massengrab. Eine der meistgenutzten Routen nach Europa führt von Libyen in Richtung Norden. Fast täglich legen Boote ab. Schlepper pferchen oft Hunderte Menschen in ein einziges Schlauchboot. Manchmal kommen sie bis nach Lampedusa, meist aber nehmen Kriegsschiffe, etwa aus Frankreich oder Deutschland, oder zivile Seenotretter die Geflüchteten vorher an Bord – wenn sie die Boote finden.
Manos Radisoglou, 29 Jahre, braunes Haar, Stoppelbart, will dafür sorgen, dass möglichst alle gefunden werden. "Es kann nicht sein, dass vor unseren Toren Tausende Menschen sterben." Eigentlich überwacht er als Fluglotse vom hessischen Langen aus den Luftraum über Westdeutschland. Aber er hat auch einen Pilotenschein. Manchmal fliegt er einen Pharmamanager im Privatjet durch Europa, ab und zu bringt er Fallschirmspringer in die Luft.
Aber sooft es geht, kommt Radisoglou nach Malta, unbezahlt. Er fliegt dann die Moonbird, das Propellerflugzeug der Seenotrettungsorganisation Sea-Watch und der Schweizer Pilotenvereinigung Humanitarian Pilots Initiative. Vor der Küste Libyens suchen Radisoglou und sein Co-Pilot von der Luft aus nach Flüchtlingsbooten. Deren Positionen gibt er weiter an das MRCC (Maritime Rescue Coordination Centre) in Rom, das der italienischen Küstenwache untersteht. Seit dem Frühjahr 2017 ist die Cirrus SR22 im Einsatz. Wenn das Wetter passt und das Flugzeug mitmacht, täglich. 25 Piloten und Freiwillige zählt das Team.
5.57 Uhr, Flughafen Malta. Beginn der Startvorbereitungen
Es ist noch dunkel, als Radisoglou und Neugebauer die Propellermaschine aus dem kleinen Hangar ziehen. Im Hintergrund dröhnen die Turbinen der großen Passagierflieger, die Lichter der Startbahn blinken im immer gleichen Takt. Radisoglou streift die Schutzhülle vom Motor und dreht am Propeller. Routinecheck vor dem Start.
Seit Tagen ist kein Schlauchboot mehr gesichtet worden. Doch heute soll es ein klarer Tag werden. Die Wellen sind niedrig, der Wind weht auf das Meer hinaus. Gute Bedingungen für die Schlepper. "Die haben Druck, die Lager leerzukriegen", sagt Radisoglou und streift sich seinen orangefarbenen Anzug über, darüber eine Schwimmweste. "Kann sein, dass heute etwas los ist." Im Cockpit lehnt sich Radisoglou zurück, setzt seine Fliegerbrille auf: "Malta Tower, we are ready for departure." Der Motor heult auf, Minuten später ist die Maschine über dem offenen Meer.
Seit die Organisation Sea-Watch im Sommer 2015 mit einem Fischkutter in die Gewässer zwischen Libyen und Lampedusa fuhr, hat sich die zivile Seenotrettung professionalisiert. Über ein Dutzend ziviler Schiffe kreuzte neben den europäischen Kriegsschiffen zwischenzeitlich vor der libyschen Küste, Privatinitiativen etwa aus Spanien oder Italien, auch große NGOs beteiligten sich. Hunderttausende Geflüchtete haben die Helfer nach eigenen Angaben gerettet. Doch die Operationen sind riskanter geworden.
Die Europäische Union und einzelne Mitgliedsstaaten fördern den Aufbau der libyschen Küstenwache mit Millionen, damit diese das Geschäft der Schleuser beendet.
Seitdem begegnen sich zivile Seenotretter und die libysche Küstenwache regelmäßig. NGOs berichten von Warnschüssen auf ihre Schiffe, eine spanische Organisation soll in Richtung libysche Küste gedrängt worden sein. Und es gibt Hinweise darauf, dass sich hinter der libyschen Küstenwache Milizen verbergen, die vorher im Schleppergeschäft tätig waren. Die libysche Zentralregierung beherrscht nur einen kleinen Teil des Landes. Und sie ist ein zweifelhafter Partner der EU.
Viele Seenotrettungsorganisationen haben ihre Arbeit eingestellt. Zu gefährlich seien die Einsätze geworden. Das Suchgebiet ist mehrere Hundert Kilometer lang. Umso mehr sind die Schiffe, die noch unterwegs sind, auf Informationen aus der Luft angewiesen.
Jonas Seufert
Tyson Sadler
7.11 Uhr, über dem Mittelmeer. Start der Suche nach einem Schlauchboot
Eine halbe Stunde nach dem Start bekommt Co-Pilot Neugebauer eine E-Mail. Die Seefuchs, ein Schiff der Regensburger Organisation Sea-Eye, hat aus Rom die Position eines Schlauchboots erhalten. Die Crew der Moonbird soll sie überprüfen, denn sie ist schon mehrere Stunden alt. Radisoglou neigt das Flugzeug nach rechts und ändert die Route.
Die Sonne blitzt durch die Wolken, ab und zu zieht unter den Flügeln ein Tanker oder ein Militärschiff vorbei. Im Hintergrund lässt sich die gräulich-gelb erscheinende libysche Küste erahnen. Dort, in diesem gescheiterten Staat, warten laut Bundesregierung bis zu eine Million Flüchtlinge auf ihre Überfahrt. Eingepfercht in Lagern, gefoltert, misshandelt, vergewaltigt, als Sklaven verkauft. So berichten es Nichtregierungsorganisationen und Reporter.
Manchmal, wenn er aus dem Cockpit über das Mittelmeer blicke, sagt Radisoglou, müsse er an die Sommerurlaube auf dem Segelboot in Griechenland denken, der Heimat seines Vaters. "Unter uns sterben die Leute", sagt Radisoglou, "im selben Meer." Wenn er nach den Einsätzen auf dem Dach seiner Unterkunft im Hafen von Malta sitzt und über die Luxusjachten blickt, fragt er sich oft, warum das alles passieren muss. Hier die Reichen, dort die, die gar nichts haben, gerade mal eine Flugstunde entfernt.
Manos Radisoglou kämpft über dem Mittelmeer nicht nur gegen das Ertrinken der Flüchtlinge, sondern auch gegen die eigene Hilflosigkeit. "Ich bin nun mal kein Arzt und kann nicht direkt helfen", sagt er. "Aber ich mache wenigstens irgendetwas, auch wenn das an den Ursachen nichts ändert." Dann krächzt eine tiefe Männerstimme über den Funk. Die Luftraumüberwachung in Libyen. "Salam alaikum, Tripolis", sagt Radisoglou, "hier ist HB-KMM, wir beginnen jetzt mit der Suche."
Sechs Monate zuvor, 20 Seemeilen vor der libyschen Küste, Höhe Zuwara
Ostersonntag 2017: Dutzende Flüchtlingsboote in Seenot, Einsatz rund um die Uhr, über 8000 Menschen nehmen die Seenotretter an diesem Wochenende an Bord. Auch die Moonbird fliegt, seit ein paar Tagen erst, Testphase. 2000 Euro kostet ein Flug, 200 000 Euro hat das Flugzeug selbst gekostet. Alles finanziert über Spenden und durch die Unterstützung der evangelischen Kirche. Das Geld ist damals wie heute knapp, sie fragen sich: Ist es sinnvoll investiert?
Ist es. Von Bord der Moonbird aus entdeckt Neugebauer damals ein Boot, brechend voll. Beide Schläuche waren am hinteren Ende geplatzt. Vom Flugzeug aus zählen sie sieben Leichen. Das nächste Rettungsboot ist über zehn Meilen und damit mehrere Stunden entfernt, also fliegen Neugebauer und sein Pilot zu einem Fischerboot in der Nähe. Sie umkreisen das Boot, erst in 60 Metern Höhe und fliegen zurück. Keine Reaktion. Dann in 20 Metern, zurück zum Schlauchboot. Der Fischer versteht. "Wir haben im Cockpit geheult vor Freude", sagt Neugebauer. "Natürlich macht das was mit dir, wenn unter dir Leute ertrinken. Wenn wir nicht da gewesen wären, wären vielleicht 100 Leute gestorben." Trotzdem gibt es Vorwürfe. Abenteurer seien sie, auf der Suche nach dem nächsten Kick. "Es wäre gelogen, zu sagen, dass das keinen Spaß macht", sagt Neugebauer. Und Radisoglou: "Der Flieger ist cool, das Team ist cool, und ich kann kostenlos fliegen." Aber die Einsätze seien fliegerisch wenig anspruchsvoll, wer für den Kick käme, sei hier falsch. Den hat er bei den Fallschirmspringern in Deutschland – wenn er versucht, mit dem Flugzeug schneller am Boden zu sein als die Springer selbst.
8.08 Uhr, 42 Seemeilen vor der libyschen Küste, Höhe Abu Kammash. Das Boot ist gefunden
Als Radisoglou das Flüchtlingsboot durch sein Fernglas entdeckt, zieht er das Flugzeug nach links und gibt Gas. Nach einigen Minuten ächzt die Propellermaschine über das Boot hinweg, 30 Köpfe recken sich nach oben, ein Mann winkt. 258 Meter zeigt der Höhenmesser. Ein paar Mal kreist das Flugzeug über dem Boot. Neugebauer macht Fotos, notiert die Position und gibt sie nach Rom weiter. Dann funkt er die Seefuchs an.
Sie ist nicht weit weg, aber das Boot – es ist aus Holz – fährt von der Seefuchs weg, geradewegs auf die Flammen einer Ölbohrinsel zu. Radisoglou zieht noch weiter nach unten, er ist jetzt 100 Meter über dem Meer und fliegt von vorne über das Boot.
Er reißt das Steuer von links nach rechts, wackelt mit den Flügeln, mit der rechten Hand deutet er immer wieder nach vorne. "Da lang", sagt er. "Da lang!" "Ruhig, Manos", sagt Neugebauer. "Wir wollen nicht, dass da unten Panik ausbricht."
Eine Stunde später meldet die Seefuchs, dass sie den Kutter erreicht hat. 17 Männer, drei Frauen, zehn Kinder, gestartet am frühen Morgen in der Hafenstadt Zuwara, Gesundheitszustand gut. Die meisten kommen aus Nordafrika, zwei Nigerianer sind dabei und fünf Bangladescher, die aussagen, dass sie gegen ihren Willen in Libyen arbeiten mussten. Drei Tage und einige Transfers später werden die 30 Geflüchteten im kalabrischen Vibo Valentia ankommen. In Italien.
10.10 Uhr, 14 Seemeilen vor der libyschen Küste, Höhe Sabratha
15 Minuten fliegt Radisoglou nun schon in einem großen Bogen. Der Co-Pilot sucht mit dem Fernglas unentwegt die Wasseroberfläche ab. "Im Prinzip müssen wir hier schon sehr viel Glück haben, Flüchtlingsboote zu finden", sagt Radisoglou. Er sieht seinen Co-Piloten an, dann dreht er ab. Diesmal sind sie nicht fündig geworden.
Als rechts die Hochhäuser von Tripolis auftauchen, bringt Radisoglou die Moonbird auf Kurs Richtung Malta. Über den Bordfunk spricht da schon lange niemand mehr. Die Bilder im Kopf beginnen zu laufen. Die Hände, die Köpfe, das Dreieck, das der Außenborder in die Wellen zeichnet.
Am Flughafen von Malta wird Radisoglou in ein Passagierflugzeug zurück nach Deutschland steigen. Am nächsten Tag wird er wieder vor den Bildschirmen in Langen sitzen und andere Piloten durch den westdeutschen Luftraum dirigieren.
Eigentlich, sagt er, fragt er sich dann oft, warum er nicht länger geblieben ist. Diesmal aber ist er froh, heimgekehrt zu sein. Eine knappe Woche später wird die Moonbird eine Mitteilung aus Rom erhalten. Ein Boot ist gesunken, an Bord vor allem Frauen. Die Crew soll raus. Leichen zählen.
Wenn Sie allgemein die Aktivitäten von Sea-Watch e.V. unterstützen möchten, können Sie hier spenden:
IBAN DE 77 1002 0500 0002 0222 88
Konkret für den Betrieb des Überwachungsflugzeugs gibt es bei der Spendenplattform betterplace.org das Projekt "Sea-Watch Air"
Einwanderungsgesetz
Der Artikel von Jonas Seufert zeigt ein weltfremdes, ja naives "Gutmenschentum", das schon fast wütend macht. Sogenannte "Rettungsaktivisten", die mal kurz nach Malta jetten, um vom Flugzeug aus für 1,2 Tage Flüchtlingsboote orten und "wenigstens irgendetwas machen, auch wenn das an den Ursachen nichts ändert", und das "Fliegen und das Team cool finden" (zumal man kostenlos fliegen kann) überlassen anderen die Konsequenz ihres Handelns. Sie sind mitverantwortlich, wenn immer mehr Menschen in unserem Land das m.E. ganz wichtige Asylrecht für politisch Verfolgte abschaffen wollen und deswegen AfD wählen.
Wenn es nach den "Rettungsaktivisten" ginge, sollten möglichst alle, die "mühselig und beladen sind" und aus wirtschaftlichen Gründen nach Europa kommen wollen, dies auch tun können. Diese Gruppe beträgt z.Zt. weltweit etwa 2,5-3 Milliarden Menschen! Was wir schnellstens brauchen ist ein Einwanderungsgesetz, bei dem wir die Kriterien aufstellen und bestimmen, wer in unser Land kommt.
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