Spiritueller Missbrauch
Rausgeboxt
Sie wuchs in einer strengen Freikirche auf. Ihre Eltern nutzten die Religion, um sie zu kontrollieren. Unsere Autorin hat lange gebraucht, um zu verstehen: Das war spiritueller Missbrauch
Ulrike Heitmüller in der Heilig-Kreuz-Kirche in Berlin-Kreuzberg
Ulrike Heitmüller in der Heilig-Kreuz-Kirche in Berlin-Kreuzberg. Dort ist sie 2019 wieder in die Kirche eingetreten
Paula Winkler/Ostkreuz
Paula Winkler/Ostkreuz
13.08.2024
10Min

"Ich bin der festen Überzeugung, dass es Gottes Wille für dich ist, dass du an dieser französischen Hochschule Theologie studierst." Das sagte mein Vater zu mir, als ich 18 Jahre alt war und überlegte, was ich nach dem Abitur machen wollte. Wir gehörten zu einer evangelikalen Freikirche, und Gott hatte einen Plan für mein Leben.

Nun ja, Gott hatte diesen Plan wohl zuerst meinem Vater offenbart – ich selbst wollte eigentlich als Au-pair die Welt erobern. Aber wenn Gott der Herr, Schöpfer von Himmel und Erde, für mich, die 18-Jährige, einen Plan hatte – wer war ich, dem zu widersprechen?! Ich vertraute meinem Vater und fühlte mich von Gott berufen.

Ich war nicht die Einzige, die so glaubte. Eine Grundeinstellung, die für den modernen Menschen absurd klingt, war – und ist – im konservativen beziehungsweise evangelikalen Christentum durchaus verbreitet: Gott kennt und liebt nicht nur jeden Menschen, Gott hat für jeden einzelnen Menschen auch einen ganz bestimmten Lebensplan. Und der Mensch muss an jeder Kreuzung seines Lebens dafür beten, dass Gott ihm diesen Plan offenbart. Jedes andere Leben bedeutet Ungehorsam gegenüber Gott, ist ein verfehltes Leben und führt ins Unglück. Mit dieser Grundeinstellung, dass Gott für jedes Leben einen Plan hat, kann man manipuliert, "spirituell missbraucht", werden, indem jemand behauptet, diesen Plan Gottes zu kennen.

Das ist nur ein Beispiel für "spirituellen Missbrauch". Dieser Begriff meint ganz allgemein den Missbrauch religiöser Macht, indem jemand gezielt mit Gott, der Bibel und dem Glauben argumentiert, um Menschen unter Druck zu setzen und zu einem bestimmten Verhalten zu zwingen. Ich bin in der Freikirche aufgewachsen. Wenn Kinder in solche Verhältnisse hineingeboren werden, haben sie oftmals keine Chance, etwas anderes kennenzulernen.

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Produktinfo

Kathrin Kaufmann, Laura Illig, Johannes Jungbauer: Sektenkinder. Über das ­Aufwachsen in ­neureligiösen ­Gruppierungen und das Leben nach dem Ausstieg. Köln 2020.

Echter-Verlag: ­Lebendige Seelsorge, Heft 3/2023, ­Spiritueller ­Missbrauch.

"Artikel 4" heißt ein Verein von Sektenaussteigern und ­ehemaligen ­Fundamentalisten: www.artikel-4.de

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