Ich wurde im Mai 1958 geboren, meine Schwester war 2 Jahre alt. Eine Erinnerung daran, dass meine Eltern je zusammengelebt haben, habe ich nicht.
Im September 1961 kauften meine Eltern ein Haus am Niederrhein – voller Entsetzten stellte meine Mutter sehr schnell fest, dass mein Vater in einer Großstadt schon eine Anstellung angenommen und sich eine kleine Wohnung gemietet hatte und nicht im Traum daran dachte, mit ihr und uns Kindern in das Haus einzuziehen.
Warum waren alle anderen Väter zu Hause, nur meiner nicht?
Meiner Mutter ging es sehr schlecht, durch eine zweifache Haushaltführung war das Budget eng, außerdem schämte sie sich, "ohne Mann da zu stehen". Sie hatte eine gute Partie gemacht, mein Vater war promovierter Volkswirt, sah gut aus und kleidete sich elegant. Wenn die Nachbarn fragen, wo denn ihr Mann sei, antwortete sie immer: auf Reisen, geschäftlich sehr viel unterwegs, außerdem verfolge er ein Buchprojekt.
Dieser Text ist Teil einer Serie zum Thema Familiengeheimnisse, in der wir auch Zuschriften von Leserinnen und Lesern veröffentlichen
Ich hatte große Sehnsucht nach meinem geliebten Papa und fragte meine Mutter auch, warum alle anderen Väter zu Hause seien, nur meiner nicht. Es kamen solche Antworten; "Du weißt doch, er schreibt ein Buch" dafür müsse man sehr viel Ruhe haben und die gab es bei uns "drei Weibern" offenbar nicht.
So viel vorab: Ein Buch wurde nie geschrieben.
1966 musste sich meine Mutter einer Unterleibsoperation unterziehen, mein Vater nahm sich Urlaub und kümmerte sich um meine große Schwester und mich. Wie fast alle Kinder konnte ich abends mal nicht schlafen und tapste die Treppe zum Wohnzimmer herunter, um mir beim Vater ein paar tröstende Wort zu holen. Aber die Wohnzimmertür war abgeschlossen.
Das hatte es noch nie gegeben!
Ich drückte ungläubig mehrfach die Klinke und mein Vater rief aus dem Wohnzimmer heraus, er käme gleich; dann hörte ich, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte und mein Vater stand vor mir im geblümten Schlafrock meiner Mutter. Ich wusste sofort, dass das etwas bedeutet, aber ich war acht Jahre alt und konnte es nicht benennen.
Als ich im Studium war, lud mich mein Vater zu sich nach Haus ein – keiner aus unserer Familie hatte je gesehen, wo er wohnte, wir hatten seine Adresse und Telefonnummer, aber es war noch nie jemand bei ihm gewesen, schon gar nicht meine Mutter. Es war eine verbotene Zone.
Mein Brief wurde nie beantwortet
Ich fuhr also von Münster zu ihm in den Erftkreis, er wohnte in einem großen anonymen Haus mit 14 Etagen. Die Wohnung war völlig verkommen, aber er war guter Dinge und freute sich, mich zu sehen. Im Bad traf mich der Schlag, überall lag Schminke, Kimonos hingen an den Wänden. Ich war nun 23 Jahre alt und stellte ihn zur Rede, er habe ja wohl eine Freundin. Vehement stritt er alles ab, fast verzweifelt.
An dem Nachmittag gingen wir noch spazieren und ich sprach ihn darauf an, dass ich das Gefühl hätte, meine "Ankunft" sei der Auslöser für seinen Fortgang gewesen. Noch nie sah ich ihn so verzweifelt und hilflos, immer wieder beteuerte er, dass das nicht die Wahrheit sei.
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Als ich wieder in Münster war, schrieb ich ihm noch einen Brief mit meinen vielen Fragen zu seinem Weggang. Drauf bekam ich nie eine Antwort.
Wochen später besuchte mich mein Onkel Herbert in meiner kleinen Studentenbude, ich erzählte ihm von meinem Brief und der Verwirrung, die die vielen Frauenutensilien, die ich in der Wohnung meines Vaters vorgefunden hatte, bei mir ausgelöst hate.
Er wurde ernst und schweigsam.
Seine Stirn bekam riesige Denkerfalten.
Dann sagte er ruhig: Hör mal zu, ich sage Dir jetzt etwas über Deinen Vater: Er ist ein Transvestit.
Ich war wie vom Donner gerührt.
Die folgende Stille war dröhnend.
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Es gab noch kein Internet, also bin ich in die Buchhandlungen gegangen und habe mir vieles angelesen.
Geraume Zeit später war ich in unserem Haus bei meiner Mutter. Ich sagte ihr, was ich über unseren Vater wusste, aber nicht von wem.
Sie brach auf der Stelle in Tränen aus.
Sie habe die ganze Zeit geschwiegen, mit wem hätte sie zu der Zeit auch darüber sprechen können?
Meine Mutter war ihrem Ehemann immer treu
Auch sprach sie davon, wie sehr sie sich geschämt hatte, geboren 1922 waren alle Jungs aus ihrer Klasse im Krieg geblieben, und dann hatte sie "in der schweren Zeit" auch noch so einen guten Mann "abgekriegt" – der sich dann aber nicht gesellschaftsfähig verhielt, indem er unter dem Anzug einen Büstenhalter trug und zu Hause in roten Lackpumps rumlief.
Sie weinte und sagte, sie wäre auch gerne nochmal von einem Mann in die Arme genommen worden; aber sie habe jeden Abend für das Leben und Seelenheil meines Vaters gebetet und sei ihm immer treu geblieben.
Heute bin ich 66 Jahre alt, meine Eltern sind lange tot. Sie mussten beide einen sehr schweren Weg gehen. Aber auch für meine Schwester und mich war es schwer, es lag "etwas in der Luft".
Meiner Schwester, damals Medizinstudentin, erzählte ich auch von meinen Erkenntnissen, sie sagte wörtlich: "Das ist alles? Ich dachte, er hat jemanden umgebracht."
Das Schicksal hat mich in die Nähe von Köln versetzt, an einem sonnigen Nachmittag bin ich zu der mir über Jahre bekannten Adresse gefahren: Cäsarstraße 28 in Köln. Ich stand vor einem kleinen Haus in dem drei kleine Wohnungen waren, in einer davon hatte mein Vater alle meine Briefe bekommen und jeden Abend mit uns telefoniert. Zu uns nach Hause wären es keine 30 Minuten gewesen… Das habe ich erst mit 50 Jahren verstanden.
Die Autorin möchte anonym bleiben. Ihr Name ist der Redaktion bekannt.