Nancy Hundeloh (mit schwarzem Shirt) mit ihren Großnichten und -neffen
Privat
Familienforschung
"Endlich gehöre ich dazu"
Nancy Hundeloh wurde als Kind oft beschimpft, denn ihr Vater war ein Schwarzer US-Amerikaner und in Deutschland stationiert. Hier sagt sie, wie sie ihren inneren Frieden gefunden hat
18.05.2024
6Min

chrismon: Ihre Mutter ist deutsch, Ihr Vater war Soldat und hat afroamerikanische Wurzeln. Welche Fragen können Sie nicht mehr hören?

Nancy Hundeloh: Sind deine Locken echt? Kann ich die mal anfassen? Kommst du aus Brasilien oder Kenia? Und wenn ich dann sage, dass ich aus Wiesbaden komme: Aber wo kommst Du wirklich her? Einmal wurde ich auch gefragt, welche Abstammung ich habe. Als wäre ich ein Pferd. Es macht viel aus, wie jemand fragt.

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Nancy Hundeloh

Nancy Hundeloh wurde 1966 in Wiesbaden geboren. Ihren Vater, der 1965/66 dort als GI-Soldat stationiert war, hat sie nie kennengelernt. Sie lebt in Nordrhein-Westfalen, arbeitet als Förderschullehrerin, ist verheiratet und hat drei erwachsene Kinder.

Welche Rolle spielte Ihre Herkunft in der Kindheit?

Es war ein Stigma. Im Kindergarten und in der Schule gab es richtige Herkunftshierarchien. Ich als farbiges GI-Kind war in der untersten Liga, danach kamen Gastarbeiter aus der Türkei, dann Italiener. Ich wurde "Nigger", "Bimbo", "Soldatenbastard" genannt, wurde bloßgestellt, auch von Erziehern. Kinder haben mir aufgelauert und mich verprügelt. Ich hatte immer das Gefühl, ich gehöre nicht dazu, obwohl ich hier lebe.

Wie haben Sie diese Zeit durchgestanden?

Ich war still, habe versucht mich klein zu machen, obwohl ich groß war. Funktioniert hat das nicht. Für die anderen bin ich trotzdem herausgestochen. Ich habe mir immer gewünscht, kleiner und blonder zu sein und einen typisch deutschen Namen zu haben. Ich hätte gerne Elke geheißen.

Wie sind Ihre Eltern mit der Situation umgegangen?

Meinen Vater habe ihn nie lebend kennengelernt. Meine Mutter hat mich und meine drei älteren Brüder, die einen nordafrikanischen Vater haben, allein großgezogen. Sie hat mit Putzjobs versucht, uns satt zu kriegen, und ihr war wichtig, dass wir sauber und gepflegt sind. Aber sie hat mich nicht satt bekommen in der Sehnsucht nach meinem Vater.

Was wissen Sie von ihm?

Er war amerikanischer Soldat, der 1965/66 in Wiesbaden stationiert war. Meine Mutter sagte, dass er ein ganz liebevoller, sanfter Mensch war. Das habe ich auch auf dem Foto wahrgenommen, das von ihm bei uns im Regal stand. Meine Mutter hat oft zu mir gesagt, ich würde ihm sehr ähnlich sehen und dass meine Bewegungen sie an ihn erinnern. Viel hat sie aber nicht über ihn erzählt. Er wurde 1941 geboren, kam aus Ohio und musste in den Vietnamkrieg, als sie mit mir schwanger war. Sie haben sich dann noch Briefe geschrieben. Als ich wenige Monate alt war, erzählte eine Freundin meiner Mutter, dass mein Vater gefallen ist.

Dieser Text ist Teil einer Serie über Familiengeheimnisse. Lesen Sie hier weiter

Welche Rolle hat er für Sie gespielt?

Ich habe mir oft vorgestellt, wie er gestanden hat, wie seine Stimme war. Ich habe ihn mir fürsorglich und schützend vorgestellt. Ich hätte es gerngehabt, dass die anderen Kinder sehen wie mein Vater aussieht und dass da ein Papa ist, der vielleicht auch Eindruck macht. Die Amerikaner hatten ja einen guten Ruf. Sie waren nett und haben uns Kaugummi geschenkt. Ich habe gedacht, wenn da jetzt mein Vater dabei wäre, würde niemand mehr die Hand gegen mich heben.

Wann haben Sie versucht, mehr über Ihren Vater herauszufinden, als Ihre Mutter Ihnen erzählen konnte?

Mit 27 habe ich meine erste Tochter bekommen und dachte: Jetzt kannst Du Deinem Kind gar nicht erzählen, wo es herkommt. Ich habe dann die Jugendämter in Wiesbaden angerufen, das Rote Kreuz und die Kaserne. Die fragte nach der Bataillonsnummer und der Einheitsnummer. Als ich meine Mutter anrief, sagte sie, dass sie die Briefe gerade verbrannt hat. Ich soll mich nicht so in diese Geschichte reinsteigern, jetzt sei doch alles gut. Da hatte ich einen Nervenzusammenbruch. Danach habe ich eine Therapie angefangen.

Aber es hat Sie nicht losgelassen.

Zwei Jahre nach unserer Tochter kam unser Sohn auf die Welt; und der sah ganz anders aus als sie. Ich habe mich gefragt: Wo hat er das denn her? Das muss ja von mir kommen. So potenzierte sich das. Ich habe immer die Sendung von Jürgen Fliege geschaut, das ist ein Pfarrer, der vermisste Personen suchte. Dort habe ich mich beworben. Auch bei Julia Leischik in der Sendung "Vermisst" habe ich es versucht. Aber die haben mich nicht genommen.

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Wie haben Sie dann mehr über Ihre Familie herausgefunden?

Letzten Sommer habe ich einen DNA-Test gemacht. Über die Datenbank Ancestry hat mein Mann meine Halbnichte gefunden. Mein Vater war ihr Opa. Von ihr habe ich erfahren, dass er erst 2015 gestorben ist. Mein Mann sagte: "Wow, der hat noch bis 2015 gelebt. Bist du jetzt traurig?"

Und?

Nein, überhaupt nicht. Es war ein merkwürdiger Glückszustand. Ich dachte: "Den gab es wirklich! Ich bin halbe Amerikanerin!"

Schwester gefunden, Nancy Hundeloh mit ihrer Schwester DeDee

Wie ging es weiter?

Mein Mann puzzelte alles zusammen: Mein Vater hat zwei Töchter mit seiner ersten Frau, die in Ohio leben, und zwei Töchter mit seiner zweiten Frau, die in Texas leben. Dass es wirklich mein Vater ist, konnte ich erst richtig glauben, als ich ein Foto von ihm im Rollstuhl sah. Auf dem Bild sah ich den tätowierten Adler, den ich von einem früheren Bild kannte. Dazu hatte er die gleiche Handhaltung. Dann habe ich meiner Mutter in einem Brief davon geschrieben.

Wie hat sie reagiert?

Sie hatte eine ganz andere Stimme als sonst, fassungslos, überwältigt. Sie sagte, dass sie wusste, dass ihre Beziehung niemals eine Chance gehabt hätte. Wenn rausgekommen ist, dass Soldaten mit deutschen Frauen Kinder zeugen, sind sie sofort versetzt worden. Er ist damals fremdgegangen mit meiner Mutter. Er war verheiratet und hatte in Ohio bereits eine Familie. Sie hat gesagt, dass sie sich für mich freut, dass ich nun eine Antwort habe.

Und dann?

Ich musste an dieses Grab. Ich musste meinen Lebenszirkel schließen. Meinem Mann war das sofort klar. Uns war wichtig, dass eins der Kinder mitkommt. Unsere jüngste Tochter Emily hat sofort ja gesagt. Dann wurde ein richtiges Familientreffen daraus.

Wie war das?

Wir sind unendlich herzlich empfangen worden und haben in den Osterferien zehn wundervolle Tage mit meinen Schwestern und ihren Familien verbracht. Bei meiner Schwester Diana sind wir im Spalier erwartet worden, mit Amerikafähnchen. Dann standen wir einfach da, alle irgendwie braun, mit diesen dunklen Augen. Auf dem T-Shirt meiner Schwester stand: "Side by side or miles apart, sisters will always be connected by heart". Hammer. Sie hat mir auch so ein T-Shirt geschenkt. Ich habe gedacht: Ihr seid so schön und ihr seid alle echt!

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Wie war es am Grab Ihres Vaters?

Mein Mann, meine Tochter und ich haben an einer Tankstelle drei rote Rosen gekauft. Wir sind erstmal sehr lange an über 88.000 Grabsteinen vorbeigefahren. Als wir das Grab dann gefunden hatten, war ich gar nicht bei mir. Ich wollte gleich Fotos machen. Meine Tochter hat dann gesagt: "Mama, lass uns doch einfach mal hinstellen. Ich kenn den doch gar nicht." Sie erzählte dann später, dass sie sich ihm erstmal innerlich vorgestellt hat. Als sie fertig waren mit ihrer Gedenkminute, wurde auch ich ruhiger. Auf der Rückfahrt hat Emily dann gefragt: "Mama, bist du traurig?" "Jaaaaa!", kam es aus mir heraus. Und dann konnte ich richtig weinen. Und das war soo gut. Weil ich das erste Mal wirklich trauern konnte.

Was hat die Reise für Sie verändert?

Meine Wünsche im Leben hatten sich auch vorher schon erfüllt. Ich habe einen tollen Mann und tolle Kinder. Aber es hat viel Selbstreflexion und Therapien bedurft, um gut leben zu können. Jetzt, durch den Kontakt zu meiner Schwester Diana spüre ich eine Verbundenheit, die ich nie hatte. Wir haben fast jeden Tag Kontakt, und ich denke immer wieder: Boah, die tickt wie ich! Wenn ich mich im Spiegel sehe, ist da nun dieses tiefe Gefühl: Jetzt macht alles Sinn. Ich stehe anders, kann mich groß machen, gehöre wozu. In Texas bin ich das erste Mal in meinem Leben nicht aufgefallen und habe nicht ständig darüber nachgedacht, ob ich gleich wieder gefragt werde, wo ich herkomme. Wenn mich jetzt jemand fragen würde, würde ich sagen: Ich bin Deutschamerikanerin. Die rechte und die linke Seite hat jetzt eine Wurzel. Meine Sehnsucht nach innerer Ruhe befriedigt sich jetzt.

Nancy mit ihren Kindern Nick, Emily und Tracy