Meine Eltern heirateten im Dezember 1950, im April 1951 kam meine Schwester zur Welt. Damals hatten es unverheiratete und geschiedene Mütter noch sehr schwer. Aber wäre meine Mutter nicht glücklicher geworden, wenn sie sich anders entschieden hätte? Hatte ihre Entscheidung vielleicht mit den traumatischen Erlebnissen am Ende des Krieges zu tun? Davon habe ich erst spät von meiner Tante erfahren, da waren meine Mutter und Großmutter schon lange gestorben.
Meine Mutter wurde Geboren 1929 in einem brandenburgischen Dorf geboren. Sie fühlte sich von ihren Eltern geliebt. Leider hat sie ihren Vater nicht lange erlebt, er starb an Magenkrebs, bevor sie in die Schule kam. Meine Großmutter musste dann arbeiten gehen, um für den Lebensunterhalt zu sorgen. Als sich ein Bauer aus einem Nachbardorf nach einer Frau mit etwas Geld umsah (meine Großmutter hatte die Waisenrente meiner Mutter gespart), sagte sie nicht nein, eine Witwe mit Kind hatte keine große Wahl. Die Schwiegermutter führte dort das Regiment, meine Großmutter und meine Mutter mussten viel arbeiten. Meine Mutter zog auch ihre drei jüngeren Geschwister mit groß.
Ingrid Hirte
Am 1. September 1939 begann ein neuer Krieg. Meine Großmutter fand das schrecklich, sie hatte den Ersten Weltkrieg mir seinem Hunger und Leid nicht vergessen. Ihr Mann freute sich über die schnellen Siege der deutschen Armee, er war sogar in die NSDAP eingetreten, weil die Parteileute das Sagen hatten im Dorf. Meine Mutter wollte eigentlich Kindergärtnerin werden, sie war eine gute Schülerin. In der Kriegs- und Nachkriegszeit blieb für sie aber nur die Arbeit in der Landwirtschaft.
Im April 1945 wurden die völlig entkräfteten Häftlinge aus Sachensenhausen durch ihr Dorf getrieben, meine Mutter sah die Toten, die auf der Straße liegen geblieben waren. Ende April kamen die russischen Soldaten. Meine Mutter war ein schönes junges Mädchen. Irgendjemand musste ihr Versteck verraten haben. Ein Russe nahm meine Mutter mit ins Schlafzimmer. Meine Großmutter musste hilflos daneben in der Kammer hocken und hielt es nicht mehr aus. Sie konnte ihre Tochter nicht beschützen. Im Stall legte sie sich einen Strick um den Hals. Meine Mutter hat nach ihr gesucht, als der Russe von ihr abgelassen hatte. Sie kam gerade noch rechtzeitig. Es wurde danach nicht darüber gesprochen. Jeder hatte wohl mit seiner Scham und seiner Schuld zu tun.
Zum Glück wurde meine Mutter nicht schwanger, aber die Vergewaltigung hat sie sehr verändert. Die gleichaltrigen Jungen aus dem Dorf hielt sie immer auf Abstand. Die älteren Jahrgänge waren weg, nur wenige Männer kamen in den nächsten Jahren aus der Gefangenschaft zurück.
Hatte es mit den traumatischen Erlebnissen zu tun, dass sich meine Mutter gerade mit meinem Vater eingelassen hat? Er war 1947 nach fünf Jahren Kriegseinsatz und drei Jahren Gefangenschaft in Amerika zurückgekehrt und suchte eine Frau, die auch in einer Wirtschaft arbeiten konnte. Eine Stiefschwester meiner Großmutter machte meine Eltern miteinander bekannt. Meine Mutter erzählte meiner Großmutter unter Tränen, dass sie schwanger sei. Obwohl meine Großmutter nicht auf eine Heirat gedrängt hat, entschied sich meine Mutter dafür - ein uneheliches Kind zu sein, war damals noch ein Makel.
Nach der Hochzeit erlebte meine Mutter dasselbe Schicksal wie meine Großmutter. In der kleinen Ackerbürgerwirtschaft meines Vaters brauchte man sie vor allem als Arbeitskraft. Die Schwiegermutter hatte das Sagen, und seine unverheiratete ältere Schwester machte meiner Mutter das Leben besonders schwer. Ohne Kind hätte sie es sicher nicht lange dort ausgehalten. Doch nach meinem älteren Bruder, dem Stammhalter, kamen ungewollt auch noch ich und mein jüngerer Bruder zur Welt. Eine Abtreibung, für die es damals Adressen in Westberlin gab, kam für meine Mutter nicht infrage, sie war sehr gläubig.
So beeinflusst uns die Vergangenheit der Eltern
Ohne uns Kinder hätte meine Mutter wohl auch den Hof ihrer eigenen Eltern übernommen, als diese ihn 1964 abgeben mussten. Einer ihrer Brüder war schon als Kind gestorben, die anderen beiden Geschwister wollten nicht auf dem Dorf bleiben. Allein haben die Großeltern die Arbeit nicht mehr geschafft, in der LPG Typ 1 (Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft, so nannte man in der DDR die landwirtschaftlichen Großbetriebe) mussten sie das Vieh allein versorgen und wurden auch noch zur Arbeit im Feldbau bestellt.
Als meine Großeltern krank wurden, sorgte der LPG-Vorsitzende dafür, dass sie die Wirtschaft verkaufen mussten. Sie waren nur noch geduldete Gäste auf dem eigenen Hof. Meine Mutter hätte das ihrer Mutter gern erspart. Noch härter traf es die Familie, als mein Onkel 1969 Selbstmord beging. Er hinterließ nicht mal einen Abschiedsbrief.
Meine Mutter war auch schon vorher wegen Magenproblemen im Krankenhaus, nach dem Suizid ihres Bruders ging es ihr gesundheitlich immer schlechter. Sie konnte nicht verstehen, warum sich der lebensfrohe, geliebte kleine Bruder ihr nicht anvertraut hatte. Wenn sich meine Mutter mit Schmerzen hinlegte, sagte mein Vater zu ihr, dass sie nur zu faul wäre zum Arbeiten. Von meiner Tante bekam sie zu hören, dass sie selbst schuld sei, wenn sie sich so viele Gören anschaffen würde.
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Meine Mutter erhielt im März 1970 die Diagnose Magenkrebs und starb zwei Monate später. Mein Vater schien nicht um sie zu trauern, Krieg und Gefangenschaft hatten bei ihm sicher ihre Spuren hinterlassen. Den Haushalt übernahm seine Schwester, die uns Kindern nie besonders zugewandt war.
Ich trauerte sehr um meine Mutter. Unser Vater war emotional für mich nicht erreichbar. Nur von meiner Großmutter fühlte ich mich geliebt. Ich konnte sie aber nur in den Ferien besuchen. Meine Großmutter hat noch drei Enkelhochzeiten und fünf Urenkel erlebt. Sie starb mit 77 Jahren.
Meine Schwester und ich haben ein Leben geführt, wie es sich meine Mutter gewünscht hätte: selbstbestimmt und finanziell unabhängig. Auch auf ihre zehn Enkelkinder wäre meine Mutter sicher stolz gewesen, inzwischen gibt es schon 14 Urenkelkinder. Ich bin sehr dankbar, dass ich in dieser Zeit und in diesem Land leben kann. Den Krieg kennen wir nur aus Fernsehbildern, auch wenn er jetzt näher gerückt ist, als ich es für möglich gehalten hätte. Ich weiß heute, dass auch wir Babyboomer den kommenden Generationen ein schwieriges Erbe hinterlassen werden. Aber noch können wir alle etwas tun für die Zukunft unserer Kindeskinder.