Soldaten der SS in ihren Uniformen
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Vererbtes Trauma
Ganz zuletzt kam alles Schlimme hoch
chrismon-Leserin Christine Richter fand heraus, dass ihr Onkel in der SS war, bevor er ums Leben kam. Ihre Mutter erlitt dadurch ein Trauma, das sie an ihre Tochter weitergab. Wie kann man mit dieser Last umgehen, ohne sie zu vererben?
16.05.2024
7Min

chrismon: Vor fünf Jahren waren Sie dabei, als Ihre Mutter kurz vor ihrem Tod von ihrem Trauma eingeholt wurde. Wie haben Sie das erlebt?

Christine Richter: Sie war wie weggetreten, wimmerte, schrie. Ich konnte aber nicht verstehen, was sie sagt. Es waren schlimmste Laute, die ich von ihr nicht kannte. Meine Tochter hörte das durchs Telefon und sagte: Was ist das? Das hört sich ja an wie ein Tier, das verletzt wird. Auch die Ärztin hörte das und fragte mich, ob sie Traumata erlebt hat. Das musste ich bejahen.

Trauma ist ein Wort, das teilweise inflationär benutzt wird. Was versteht man darunter?

Ein Trauma wird durch eine schmerzliche Situation ausgelöst, auf die die Psyche nicht vorbereitet ist. Man erstarrt, das Gehirn spaltet die Erfahrung ab und funktioniert nur noch auf Reptilienniveau. Einen Knall verbindet man dann zum Beispiel nicht damit, dass man etwas Schlimmes erlebt hat, sondern nur der Körper reagiert darauf. Ein Trauma, das nur verdrängt wird, kommt irgendwann wieder. Und dann ist es, als wäre man genau jetzt in dieser Situation. Man nennt das auch Gehirnfahrstuhl. Man fährt wie in einen Keller. Wenn über solche seelischen Verletzungen nicht gesprochen wird, können sie sogar über mehrere Generationen weitergegeben werden.

Privat

Christine Richter

Christine Richter, Jahrgang 1956, ist Sozialpädagogin mit mehreren Zusatzausbildungen wie Mediatorin und Traumaberaterin. Ein Schwerpunkt ihrer Arbeit ist Gewalt und Opferschutz.

Wie war das bei Ihnen?

Als Kind war Essen für mich ein Ausgleich für die Spannungen, die es in der Familie gab. Essen hat mich beruhigt. Mein Vater hatte eine Essstörung. Er konnte nicht aufhören zu essen und zu trinken. Nur Nudeln gab es nie. Das konnte mein Papa nicht ertragen und wir durften es auch nicht hinterfragen. Das Thema war ein Tabu.

Wie kam es dazu?

Mein Vater war nach dem Zweiten Weltkrieg in Kriegsgefangenschaft in Russland. Wir wussten, dass er dort gehungert hat und zu wenig zu trinken bekam. Er gerade so überlebt mit Nudeln in Wasser.

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Was passierte, wenn Sie Fragen gestellt haben, die er nicht beantworten wollte?

Er wurde wütend und damit ging es mir gar nicht gut. Das geht mir heute noch so, wenn ich merke, ich habe den anderen zu sehr angerührt. Dann muss ich schauen, dass ich mich selbst reguliere. Ich habe dann ein großes Schuldgefühl und die Angst, dass mich der andere zurückweist. Traumata sind oft verbunden mit Angst, Schuld und Ohnmacht. Auch von meiner Mutter wurde ich viel kritisiert. Dadurch entwickelte sich bei mir das Gefühl: Ich bin nicht ganz okay, ich bin nicht wirklich liebenswert, sonst würden meine Eltern mich anders behandeln.

Dieser Text ist Teil einer Serie über Familiengeheimnisse. Lesen Sie hier weiter

Warum haben Ihre Eltern nicht über ihre seelischen Verletzungen geredet?

Meine Eltern sind ganz schwer beschädigt worden durch den Krieg, doch in der Nachkriegszeit hat das niemanden interessiert.

Welches Trauma hat Ihre Mutter erlebt?

Meine Mutter ist 1929 geboren und erzählte, dass sie in einer sehr liebevollen Familie groß geworden ist. Ein Foto zeigt sie in einem Kinderwagen und ihre drei großen Brüder um sie herum, von denen sie abgöttisch geliebt wurde. Durch den Krieg wurde alles anders. Ihr jüngster Bruder Ewald wurde eingezogen, und im März 1945 erreichte ihre Familie ein Telegramm, dass er den "Heldentod" gestorben sei. Er war der Stolz der Familie. Groß, blond, fröhlich, ein Vorzeigekind. Das änderte sich auch nach dem Krieg nicht. Die Erzählung war, dass er gegen seinen Willen in die SS eingezogen wurde und er nie etwas Schlimmes gemacht hat. Ende des Jahres starb dann auch noch der mittlere Bruder Alfons. Er war an Diabetes erkrankt und hatte sich zu wenig Insulin gespritzt, weil es nicht genug davon gab. Er ist elendig gestorben.

Und dann?

Ab dem Jahr des Schreckens war alles vorbei, was meine Mutter als schön erlebt hat. Ihre Eltern waren gebrochen, haben viel geweint und nur schwarze Sachen angezogen. Sie hätte gerne etwas gelernt, musste nun aber alle Arbeiten auf dem Hof übernehmen. Der verbleibende Bruder konnte nicht mithelfen, weil er durch eine Blutvergiftung einen verkürzten Arm hatte. Meine Mutter war sozusagen der Esel, der vor den Karren gespannt wurde, der eigentlich viel zu schwer für sie war. Ihre Trauer über den Tod der Brüder hatte keinen Platz in der Familie. Der erste Bruder hat dann geheiratet und bekam den Hof. Meine Mutter ging leer aus. Ihre Rolle änderte sich von sehr gewollt in nur noch geduldet. Ihr Lebensmotto wurde: Leben ist Leiden.

Wie hat sich das geäußert?

Sie war nicht depressiv, aber sie hat viel gejammert. Die Kinder sind nicht richtig, der Mann ist nicht richtig. In der Therapie sagt man auch: Jammern gehört zur Verarbeitung dazu. Wichtig ist, dass man dabei nicht in der Opferrolle bleibt. Sie hat oft nicht geschafft zu schauen, was das mit ihr zu tun hat.

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Wie ging es Ihrem Vater?

Mein Vater hatte eher etwas Aufbauendes. Im Krieg dachte er, dass er sterben müsse. Seine einzige Hoffnung war, die Familie wiederzusehen. Er hat meiner Mutter dann gezeigt, dass man kein Erbe braucht, um etwas zu erreichen. Vor ihren seelischen Verletzungen durch den Krieg haben sich die beiden gegenseitig geschützt. Verarbeitet haben sie sie beide nicht.

Die Eltern

Wann wurden Ihnen klar, dass die Darstellung Ihres Onkels Ewald, der gegen seinen Willen in die SS eingezogen wurde und nie etwas Schlimmes gemacht hat, nicht stimmen kann?

Im Oktober 2023, als ich eine Israelreise machen wollte. Ich wollte wissen, ob ich eine Täterfamilie habe. Dann kam der Terroranschlag, der mir nochmal vor Augen geführt hat, was Menschen mit Menschen machen. Und wie verletzlich das Leben ist.

Was haben Sie dann herausgefunden?

Ich habe mir die Fotos von Ewalds Uniform genauer angesehen. Darauf war ein SS-Abzeichen mit Führerbinde. Er war also besonders dem Führer unterstellt. Ich habe nachgeschaut, in welcher Division er war und wo er gestorben ist und fand heraus, dass er im 3. SS-Panzergrenadier-Regiment "Der Führer" war, eine berüchtigte Division mit Totenkopf, die auch am KZ Buchenwald beteiligt war. Ich habe ganz viele Dokus gesehen. Seine Division ist an die Ostfront verlegt worden und hat "Säuberungen" gemacht.

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Ihre Mutter wollte nicht wahrhaben, dass ihr Bruder etwas Schlimmes gemacht hat. Warum?

Aus Sicht meiner Mutter war es tragisch, ihre beiden Brüder zu verlieren und zu erleben, dass die Eltern sich davon nicht erholten. Mehr Trauer ging nicht und da half dann die Verklärung. Er war der Beste in ihren Augen. In meinen Augen war er einer der Schlimmsten. Aber es war ein Tabu, das meine Brüder und ich nicht angerührt haben. In meiner Familie ging es immer darum, nach vorne zu gucken. Meine Mutter war immer am Tun, hat jedes Jahr einen Riesengarten angelegt, bis zuletzt. Im Alter wurde sie immer empfindsamer und verletzlicher. Es wäre ausgeschlossen gewesen, sie damit zu konfrontieren.

Ewald in SS-Uniform

Warum war Ihnen diese Auseinandersetzung wichtig? Sie könnten ja auch sagen, ich habe mit Nazi-Deutschland nichts zu tun.

Ich fühle mich schuldig, obwohl ich es nicht bin. Nun schaue ich, wie ich das in mein Leben integrieren kann. Als ich mit meiner Mutter im Sterbezimmer war, wurde mir klar, dass ich meine eigenen Traumata nicht nochmal wiedererleben möchte.

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Konnten Sie ihr damals helfen?

Die Ärztin sagte, dass sie Morphium bekommen kann, aber wahrscheinlich nicht mehr aufwachen wird. Es war mir wichtig, dass sie in Ruhe gehen kann. Ich habe ihre Hand gehalten. Sie ist ruhig eingeschlafen, aber ohne meine Hand nochmal zu drücken.

Wie haben Sie sich selbst mit Ihrem Trauma auseinandergesetzt?

Fragen helfen: Was triggert mich oft an? Was regt mich auf? Wo bin ich sofort emotional? Welche Themen tauchen immer wieder auf? Kann ich Glaubenssätze herausfinden? Was stört mich? Wo wäre ich lieber anders? Welche Gefühle spüre ich körperlich wo? Ich nenne das persönliche Detektivarbeit. Es ist eine Beobachtung seiner Selbst, seiner Psyche, seiner Gedankenwelt, seiner Körperlichkeit. Da das schmerzlich ist, ist eine verständnisvolle empathische Beraterin in diesem Prozess von Vorteil.

Konnten Sie auf eine gewisse Art Frieden mit der Nazi-Vergangenheit ihrer Familie machen?

Durch die vielen Filmmaterialien habe ich das geschafft. Ich habe richtig gute Filme darüber gesehen, wie Hitler war, wie Himmler war. Es hat mir sehr geholfen, besser zu verstehen, wie die Manipulation eines ganzen Volkes gelungen ist. Ich finde es wichtig zu lernen: Das hat mit dir nichts zu tun, aber du musst das wissen. Vater und Mutter waren vier und acht, als Hitler an die Macht kam. Sie haben nichts anderes gekannt. Nun, da ich mir angeguckt habe, was die Nazis alles gemacht haben und was die Menschen davon wussten, kann ich es ein Stück weit loslassen.

Sie setzen sich nicht nur selbst mit Ihrem Familientrauma auseinander, sondern arbeiten auch seit mehr als zehn Jahren als Traumaberaterin. Was hilft beim Überwinden?

Eine andere Perspektive einzunehmen. Nicht denken, ich bin verrückt, sondern, das Leben ist verrückt. Es hilft, wenn man den Zeitgeist kennt. Ich kann verstehen, dass mein Vater wegen seiner Geschichte keine Nudeln mochte, aber deswegen kann ich ja trotzdem Nudeln essen. Man muss nicht alles übernehmen, was die Familie einem mitgibt. Es ist wichtig, das Denken und Fühlen wieder zu verbinden.

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Bitte sachlich bleiben. Vererben kann man ein Trauma, weil genetisch unmöglich, nicht. Weitergeben wohl. Zeugen und dann vererben (mit Absicht genetische Erkrankung) erzeugt Schuld, ohne dass dann der Empfänger schuldig ist.