Wie wählte "die" Jugend? Schon die Frage ist falsch
"Die" Jugend gibt es nicht!
Plötzlich sprechen alle über junge Menschen und deren Wahlentscheidungen und alle versuchen, die junge Generation zu verstehen. Ich meine: diese Entwicklung war absehbar
"Die" Jugend und die Wahlen
"Die Jugend" ist vielfältig. Kann man so einfach Schlüsse auf ihre Wahlentscheidung ziehen?
axelbueckert/Photocase
17.06.2024
5Min

Es scheint, als schauen seit den zurückliegenden Wahlen auf einmal viele auf "die Jugend". Wir versuchen zu begreifen, weshalb junge Menschen so gewählt haben, wie sie es taten, vor allem in Ostdeutschland. Ich nehme viel Verwunderung und Sorgen über die Wahlentscheidungen junger Menschen wahr. Genau darüber bin ich selbst jedoch ziemlich verwundert.

Denn wie so oft gilt: die Situation sollte deutlich differenzierter betrachtet werden. Allein über die Verallgemeinerung "die Jugend" kann ich vermutlich aus dem Stand einen Vortrag halten. Junge Menschen sind vielfältig in ihren Jugendkulturen, sozialen Milieus, Aufwachsensbedingungen, materiellen Lebenslagen, Bildungswegen, biografischen Chancen, familiären Kontexten, Zukunftsängsten etc., dass sie sich schlicht nicht als eine Gruppe zusammenfassen lassen. Zudem haben nicht alle die AfD gewählt. Zahlreiche sogenannte Kleinstparteien mit einem beachtenswerten Wahlprogramm haben ca. 28% der Stimmen der jungen Menschen erhalten.

Wer sich z.B. die Wahlprogramme der großen Parteien zu den Kommunalwahlen in Sachsen im Detail angeschaut hat, konnte feststellen, dass in aller Regel keine jugendgerechte Sprache verwendet wurde. Und dass sie - wenn überhaupt - zumeist nur dann im Wahlprogramm vorkam, wenn es um Kitas, Schulen oder Jugendclubs ging. Jung sein und Aufwachsen sind aber so viel mehr als die Bildungsorte Kita und Schule. Und Jugendpolitik ist so viel mehr als das Werben dafür, dass es nicht weniger Jugendclubs geben wird. Junge Menschen kommen in der Wahrnehmung Erwachsener zu selten vor, dass belegen die Inhalte der Wahlprogramme, der Politiktalksendungen, der Debatteninhalte in den Parlamenten etc. Darin sind sich Fachkräfte der Jugendarbeit und Wissenschaftler*innen weitestgehend seit Längerem einig. Es wird zumeist über, aber nicht mit ihnen gedacht.

Zum Nachsehen: Das Webinar mit Christian Kurzke und Lilli Fischer über die Wahlen und Wählen in den ostdeutschen Bundesländern

Nun haben die geänderten Wahlrechte der EU-Wahl und in einigen Bundesländern auch bei den Kommunalwahlen dafür gesorgt, dass Haltungen und Meinungen von noch mehr jungen Menschen mit einem Mal in Form von Wahlentscheidungen präsent sind, nachdem sie dies zuvor kaum waren. Jetzt scheinen die Erwachsenen mit den gesetzten Wahlkreuzen vieler junger Menschen nicht zufrieden zu sein, die Erwartungen wurden irgendwie nicht erfüllt. Haben die nicht eben erst alle ständig an diesen "linken" Demos von Fridays for Future teilgenommen? Nein, es haben eben nicht alle daran teilgenommen und es sind auch keine per se "linken" Positionen, sich für Klimaschutz einzusetzen. Und wie können so viele von denen "rechts" wählen, wenn wir doch viel politische Bildung in der Schule umsetzen? Erstens findet nur wenig politische und demokratische Bildung in den Schulen statt und zweitens dürfen junge Menschen trotzdem eine eigene Meinung haben.

Wir müssen realistisch bleiben: Ich kann keinen Grund erkennen, auch historisch nicht, weshalb junge Menschen im Durchschnitt völlig andere politische Haltungen haben sollten als Erwachsene. Bei aller politischen Bildung in den Schulen werden junge Menschen vor allem außerhalb der Schule von den Lebensrealitäten geprägt. Eine Stunde politische Bildung im Unterricht, eine gelegentliche Mitbestimmung im Schulalltag wie auch gelegentliche Demokratieprojekte wiegen die Gespräche und Lebenserfahrungen am heimischen Küchentisch und im Freundeskreis nicht auf. Denn auch die Anzahl der Erwachsenen, die sich für die AfD entscheiden, ist seit Jahren in Ostdeutschland stabil und eher ansteigend. Erwachsene sind Vorbilder.

Die Hegemonie neurechten und demokratiefeindlichen Gedankenguts vor allem im Ländlichen Raum wird in Wahlkampfzeiten sinnbildlich sichtbar, denn es hingen auch dieses Mal wieder vor allem Plakate der AfD in Massen in den Straßen. Auch dies suggeriert Normalität und Wählbarkeit. Dieser Zustand schwappt nun auch auf die Großstädte über. Der Zustand vieler Schulen, fehlende Lehrkräfte und Unterrichtsausfall, zu wenig Orte für die Freizeit, fehlender ÖPNV, eine ausgedünnte medizinische Versorgung, eine generationenübergreifende weitergegebene und konstante materielle Armutslage bei ca. einem Viertel der jungen Menschen, permanente junge Menschen betreffende Kürzungsdebatten in den Parlamenten, eine herausfordernde Wohnungssituation, die Erinnerungen an den Umgang mit jungen Menschen während der Corona-Pandemie und und und – das eine größere Anzahl von jungen Menschen sich kaum gesehen und beachtet fühlt ist nachvollziehbar. Es gibt ein Sehnen nach Anerkennung, gesehen werden, dazu zu gehören. Und das in der Folge vereinfachte politische Antworten attraktiv sind, ist ebenso menschlich nachvollziehbar. Vor allem dann, wenn wie im Fall der AfD dies strategisch an junge Menschen in den Sozialen Medien bewusst und erfolgreich herangetragen wird, während die demokratischen Parteien das eigene Auftreten dort seit Jahren entgegen aller Warnungen zu wenig verfolgen und junge Menschen zugleich fast nie direkt adressieren. Gleiches gelingt der AfD und den Freien Sachsen auch in der konkreten Begegnung mit jungen Menschen vor allem im ländlichen Raum.

Zum von mir eingeforderten Realismus gehört auch dazu, das Agieren der demokratischen Parteien zu kritisieren. Teilweise wird auf einen populistischen Sprachgebrauch zurückgegriffen, der insbesondere eine einzelne jahrzehntealte Partei als gefährlich und unwählbar stigmatisiert. Auch das Schimpfen über die sog. Ampel in Berlin hätte in der damit verbundenen Logik ja einen deutlichen Stimmenaufwuchs für CDU/CSU mit sich bringen müssen. Dem ist aber nicht so, die AfD profitiert, die Demokratie wird erkennbar geschwächt. Das U18-Wahlrecht hat das Wahlergebnis keinesfalls in besonderer Form zugunsten der neurechten Parteien verschoben. Auch diese Wahl ist keine Protestwahl gewesen, die Menschen sind überzeugt von der AfD und deren Wertekanon, zugleich ist es auch ein Vertrauensentzug in unsere demokratischen Mechanismen, der vom zuvor beschriebenen Populismus zudem genährt wird.

Die AfD ist angekommen, dass ist die Normalität, die endlich ohne erneute Ausreden angenommen, aber keinesfalls akzeptiert werden muss. Auf der kommunalen Ebene zeichnet sich bereits jetzt ab, dass es jungen Menschen zum Nachteil werden wird, dass die AfD in den kommunalen Parlamenten gestärkt aus den Wahlen hervorgeht. Demokratieprojekte, Förderungen von Teilhabe, Inklusion, Integration und Kultur sind nun massivem Kürzungsdruck ausgesetzt. Wir werden sehen, welche weiteren politischen Akteure diese jugendungerechten politischen Ziele mittragen anstatt zu verhindern. Verhindern heißt, alles darauf auszurichten, dass auch junge Menschen Demokratie immer wieder neu erlernen und erfahren, dass junge Menschen Partizipation erleben. Dafür bedarf es einen nachhaltigen Willen, dass wird sich nicht im Verlauf eines Schuljahres mal eben neu ausrichten. Die aktuellen Kürzungsdebatten der Bundesregierung für den Haushalt 2025 zeugen teilweise vom Gegenteil.

Die Möglichkeit, mit 16 oder 17 Jahren bereits wählen zu dürfen, ist Teil eines partizipativen gerechten Demokratieverständnisses. Ein Recht, dass die AfD in ihrem Wahlprogramm den jungen Menschen im Übrigen abspricht.

Die Kommentarfunktion ist nur noch für registrierte Nutzer verfügbar. Um einen Leserkommentar schreiben zu können, schließen Sie bitte ein Abo ab, schreiben Sie uns eine Mail an leserpost@chrismon.de oder diskutieren Sie auf Instagram, Facebook und LinkedIn mit.

Kolumne

Christian Kurzke

Christian Kurzke ist Studienleiter an der Evangelischen Akademie Sachsen. Täglich diskutiert er mit Menschen, die anders denken als er. Er will versuchen, sie zu verstehen, und schreibt über diese und andere Fragen in seiner Kolumne, alle zwei Wochen montags.