Rechte in Franken
Wie wird man Neonazi?
Annegret Liepold beschreibt in ihrem Debütroman eine junge Frau, die in den Nullerjahren in den Sog einer rechtsextremen Gruppe gerät. Im chrismon-Interview erzählt sie, was sie dazu inspiriert hat
Portrait von Annegret Liepold
Annegret Liepold ist Autorin des Romans "Unter Grund"
Daniela Pfeil / PR
14.05.2025
8Min

chrismon: Wie Ihre Hauptperson sind auch Sie im ländlichen Franken groß geworden, einer Region, die schon seit langem als Nährboden für Neonazis gilt. Wie viel davon haben Sie mitbekommen?

Annegret Liepold: Dass sich in unserer Gegend viele Neonazis herumtrieben, war unübersehbar. Es war beispielsweise bekannt, dass im Gasthof Göb, der Dorfkneipe in meinem Heimatort Gremsdorf, Parteiversammlungen der NPD abgehalten wurden und Rechtsrock-Konzerte stattfanden. Und genau wie in meinem Buch redete sich der Wirt mit Geldsorgen heraus. Zum Glück existierte auch eine Gegenbewegung: "Gremsdorf ist bunt". Man wusste also durchaus Bescheid. Aber das Ausmaß habe ich damals nicht begriffen. Dass diese Szene deutschlandweit vernetzt war. Und dass viele Namen aus der Region später auch im Kontext rechtsterroristischer Aktivitäten des NSU auftauchen würden.

Die rechte Szene war also auch für Sie als Schülerin sichtbar und keinesfalls nur im Untergrund tätig?

Sie war Teil der lokalen Jugendkultur. Es gab eben Leute, die Punk oder Indie-Rock hörten, zu denen ich mich damals eher zählte. Und andere, bei denen Rechtsrock lief. Man wusste von Leuten mit Hakenkreuztätowierungen, die sich in einschlägigen Gruppen tummelten. Ich selbst fand die rechte Szene total unattraktiv, nicht zuletzt, weil alles unerträglich männlich geprägt war. Als Dorfpunk mit einem Nietengürtel von H&M wurde man schon mal von den Nazis auf der Kirchweih angepöbelt. Ein Freund von mir war zum Beispiel sehr aktiv in der Antifa und hat sich mit den Rechten auch geprügelt.

Annegret Liepold

Annegret Liepold, geboren 1990 in Nürnberg, arbeitet für die Bayerische Akademie des Schreibens am Literaturhaus München. Vorher hat sie Komparatistik und Politikwissenschaften in München und Paris studiert. Die Autorin von "Unter Grund" wuchs in einer Gegend auf, in der Neonazis bis heute ihr Unwesen treiben und jüdische Grabsteine genauso zur Landschaft gehören wie Karpfenteiche und Fachwerkhäuser.

Beschränkten sich die Aktivitäten der Rechtsextremen auf Pöbeleien, Schmierereien und Konzerte?

Als ich begonnen habe, für den Roman zu recherchieren, bin ich auf unglaublich viele rechtsextrem motivierte Vorfälle in meiner Umgebung im Jahr 2006 gestoßen, dem Jahr, in dem ich die Handlung angesiedelt habe. Für den Roman musste ich also kaum etwas hinzuerfinden. Das reichte von monatlichen Aufmärschen der Neonazis vor dem Kriegerdenkmal im oberfränkischen Gräfenberg bis hin zu geschändeten Friedhöfen und einem rassistischen Brandangriff auf ein Wohnhaus. Und natürlich waren auch der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) und seine Helfershelfer zu dieser Zeit in Franken aktiv. Das erfuhr ich aber erst, als ich in München den NSU-Prozess besuchte. 30 Kilometer von uns entfernt liegt übrigens auch Schloss Ermreuth, in dem bis heute Karl-Heinz Hoffmann lebt, der Gründer der rechtsterroristischen Wehrsportgruppe Hoffmann, die von 1973 bis 1982 aktiv war. Ein Mann, den viele Neonazis bis heute als Helden verehren.

Sie erzählen Ihre Geschichte aus der Sicht Ihrer Hauptfigur Franka, also aus der Täterperspektive. Wie kam es zu dieser Entscheidung?

Ich wollte der Frage nachgehen, was so eine martialische Community ausgerechnet für eine junge Frau attraktiv machen könnte. Für meine Recherchen habe ich mit Extremismusforscher*innen gesprochen und viele Interviews mit Menschen gelesen, die in der rechten Szene unterwegs waren. Die Gründe für ihre Radikalisierung waren dabei meist schwer nachzuvollziehen. Oft begründeten sie den Einstieg in die Ideologie bereits mit Argumenten, die ebendieser Ideologie entsprangen. Gerade bei jüngeren Menschen, das zeigen etwa die Interviews der Studie "The Radical’s Journey", steht nicht etwa der Hass auf Ausländer am Anfang des rechten Engagements, sondern Probleme, wie sie viele Jugendliche umtreiben: Krisen im Elternhaus, Frustration in der Schule, instabile Freundschaften, der Wunsch, irgendwo dazuzugehören, sich mit etwas identifizieren zu können. Ich beschreibe eine Figur, die eigentlich keinerlei Abneigung gegen Ausländer verspürt und zunächst einmal überhaupt nicht wie jemand wirkt, der sich von einer menschenverachtenden Ideologie vereinnahmen lässt.

Leseempfehlung

Wird Franka also quasi aus Zufall rechtsextrem? Hätte sie genauso gut bei der Antifa landen können?

Zufall würde ich es vielleicht nicht nennen. Bei Franka spielt unter anderem die Herkunft eine Rolle. Dass sie seit mehreren Generationen in der Gegend verwurzelt ist, sich mit ihrer Heimat identifiziert. Und sie hat durch den frühen Tod des Vaters einen Verlust erfahren, der sie die Vergangenheit überhöhen und verklären lässt. Sie eckt im Gymnasium an, weil sie kein typisches Kind aus einem Akademikerhaushalt ist. Als sie sich dann auch noch mit ihrem besten Freund zerstreitet, stolpert sie zunächst in die rechte Szene hinein, einfach weil das Angebot besteht. Sie sucht einen Halt in der Gemeinschaft, und erst nachdem sie dort aufgenommen wurde, entsteht nach und nach der Hass.

Eine der Rechtsextremen, denen Ihre Hauptfigur begegnet, ist eine junge Frau namens Janna. Sie kommt aus einem ganz anderen Milieu als die Gymnasiasten, mit denen Franka sonst zu tun hat.

Janna ist zwar sehr derb, aber eben auch direkt und aktiv. Franka bewundert, wie Janna als Frau auftritt. Sie sagt ganz klar, was sie denkt, und sie wehrt sich gegen die männlichen Strukturen, unter denen sie leidet. So jemanden kannte Franka bisher nicht. Auch nicht das Gefühl von Schwesternschaft, das ihr Janna anbietet.

Sie stellen die jungen Neonazis, die Franka so faszinieren, als verwundbare Menschen mit starken Widersprüchen dar. Das sind nicht die eindimensionalen Widerlinge, die man oft im Kopf hat. Hatten Sie während des Schreibens keine Angst, mit Ihrem Buch Verständnis und Sympathie für die Falschen zu wecken?

"Vielleicht stellt man auch die eigene Familiengeschichte infrage"

Annegret Liepold

Wenn man aus der Täterperspektive erzählt, stellt man sich diese Frage andauernd, und man muss sich natürlich sehr genaue Gedanken darüber machen, welche Wirkung es hat, rechte Parolen zu zitieren. Wer mein Buch liest, folgt Frankas Geschichte und Perspektive. Aber im besten Fall rührt sich beim Lesen auch Widerstand: Warum sagt sie nicht "Nein"? Warum wird sie selbst gewalttätig? Vielleicht stellt man auch die eigene Familiengeschichte infrage oder macht sich Gedanken, wie man sich selbst in solchen Situationen verhalten würde.

Es ist ja gerade auch für die eigene Resilienz gegenüber den Strategien und Diskursen der Rechten wichtig, die persönliche Anfälligkeit und Verführbarkeit zu überprüfen.

Definitiv. Auch im Hinblick auf die NS-Vergangenheit. Wir müssen verstehen, wie geschickt man sich damals in die Köpfe der Menschen geschlichen hat. Auch und insbesondere mit den Mitteln der Kultur. Ich habe mir im Zuge meiner Recherchen den Nazi-Propagandafilm "Jud Süß" angesehen, der eine immense Wirkung hatte und den antisemitischen Hass ungemein befeuert hat, als er 1940 in die Kinos kam und in den Gemeindesälen auf dem Land gezeigt wurde.

Goebbels hat den Film als quasihistorisches Werk in Auftrag gegeben, das zeigen sollte, warum Juden schon im 18. Jahrhundert aus Städten verbannt wurden. Er handelt von der historisch verbrieften Person des Joseph Süß Oppenheimer, der als jüdischer Finanzberater vom württembergischen Herzog an den Hof bestellt wurde. Die Darstellung von Süß entspricht dabei allen antisemitischen Klischees: Er ist machtbesessen, selbstsüchtig und gierig. Obendrein vergewaltigt er im Film die Tochter eines Staatsbeamten und lässt ihren Verlobten foltern.

Der Film ist ein Schauermärchen und zugleich eine schreckliche Verfälschung aller historischen Tatsachen. Aber er hatte Hollywood-Qualitäten und ist filmisch so auf der Höhe seiner Zeit, dass er damals sogar von der Avantgarde gelobt wurde. Natürlich ist sich die Rechte auch heute noch der wichtigen Rolle von Kultur und Medien bewusst, wie das aktive Auftreten der AfD auf Social Media zeigt. Oder wie bewusst sie in die Kulturausschüsse drängt.

In Ihrem Buch werden verschiedene Zeitebenen verschränkt. Es kommen nicht nur Neo-, sondern auch Altnazis vor. Und man erfährt, dass es in vielen fränkischen Dörfern sehr starke jüdische Gemeinden gab.

In manchen Dörfern war ein Drittel der Bevölkerung jüdisch. Trotzdem habe ich in meiner Schulzeit nie einen jüdischen Friedhof besucht, und das, obwohl ich sogar im Geschichtsleistungskurs war. Wie viele jüdische Menschen im ländlichen Franken gelebt haben, begriff ich erst mit Anfang 20, als ich im Jüdischen Museum in Berlin einer Karte mit den Bevölkerungsanteilen vor dem Zweiten Weltkrieg gegenüberstand. Über jüdisches Leben in meinem Heimatdorf war einfach nie gesprochen worden. Eine Ausnahme war der jüdische Friedhof im Dorf meiner Oma. Der war bekannt, weil dort die Großmutter von Henry Kissinger liegt, und damit rühmt man sich dann eben doch gerne.

"Wir Deutschen sind zwar die Geschichtsaufarbeitungsweltmeister, aber im konkreten Einzelfall will dann doch keiner dabei gewesen sein"

Annegret Liepold

Eine zentrale Rolle in "Unter Grund" spielt die "Fuchsin", die Großmutter Ihrer Hauptfigur.

Sie repräsentiert das Schweigen über die Vergangenheit. Diese verdrängte braune Geschichte, die in den Dörfern wabert und natürlich einen Nährboden für Neonazis darstellt. Meine eigene Großmutter war eine ganz andere Frau als die Fuchsin, aber auch sie war beim Bund Deutscher Mädel, und in ihren alten Schulheften konnte ich lesen, wie sie indoktriniert worden war. Und mein Opa, der zeit seines Lebens unter der Vertreibung aus dem Sudetenland litt, war bis zu seinem Tod in extrem rechtslastigen, geschichtsrevisionistischen Vertriebenenverbänden unterwegs. Schon deshalb war es aufrichtiger, aus der Täterperspektive zu schreiben. Wir Deutschen sind zwar die Geschichtsaufarbeitungsweltmeister, aber im konkreten Einzelfall will dann doch keiner dabei gewesen sein.

Lesetipp: Buch "Völklische Landnahme" von Rechtsextremismusexperten Andrea Röpke und Andreas Speit

Glauben Sie, dass da etwas von einer Generation zur nächsten oder übernächsten weitergegeben wurde?

Es gibt eine Kontinuität, die sich aber nicht leicht nachzeichnen lässt. Mich interessiert diese Latenz. Wie kann sich etwas tradieren, obwohl es eigentlich verschwiegen wird? Wie wird so etwas weitergegeben? Das kann Literatur vielleicht besser vermitteln als ein wissenschaftlicher Aufsatz.

Es gibt in Ihrem Buch eine Szene, die auf bizarre Art das Thema Vergessen und Erinnerung auf den Punkt bringt. Im Pflegeheim stimmt die demenzkranke Fuchsin plötzlich mit Inbrunst das Horst-Wessel-Lied an.

Ich habe das von mehreren Leuten gehört, die in Altenheimen arbeiten. Dass die alten Lieder wieder auftauchen. Und Franka, die gerade neue Wege beschreitet und ihre rechte Vergangenheit hinter sich lassen will, spürt in diesem Moment besonders schmerzhaft, dass sich die Vergangenheit nicht einfach abschütteln lässt.

Sie beschreiben in Ihrem Roman einen besonders drastischen Fall von Geschichtsvergessenheit. Bei einer Gedenkveranstaltung für deportierte Juden werden Ende der 1990er Jahre die jüdischen Teilnehmer von einem Mob ortsansässiger Rechter beschimpft.

Annegret Liepold: "Unter Grund", Blessing-Verlag, 256 Seiten, 24 Euro

Es gab in Adelsdorf hartnäckigen Widerstand gegen die Umbenennung einer Straße: Viele Einheimische und Kommunalpolitiker hielten das Nachkriegsengagement des ehemaligen Nazi-Bürgermeisters und SA-Rottenführers, der als Lehrer an jüdischen Schüler*innen Rassenkunde gelehrt hatte, für bedeutender als seine Untaten im Dritten Reich. Auch wenn die Straße mittlerweile nicht mehr seinen Namen trägt und es eine Gedenkstelle für die Deportierten gibt, bin ich mir nicht sicher, inwieweit man von einer aufrichtigen Erinnerungskultur sprechen kann.

Wie hat sich die Situation in der Region seit 2006 verändert?

Meine erste Lesung aus "Unter Grund" fand in genau diesem Ort, Adelsdorf, statt, und nach der Veranstaltung habe ich noch mal bei dem Denkmal vorbeigeschaut – der Platz war zugemüllt und ungepflegt wie eh und je. Mir macht das Angst. Wir verwenden "Nie wieder ist jetzt" als eine Floskel, auf die kein Handeln folgt. Die Neonazis, die ich in meinem Roman beschreibe, sind mittlerweile in der Partei "Der Dritte Weg" vor allem in Unterfranken aktiv, gerade erst wurden Schulen in Franken vor deren Umtriebe gewarnt. Und die AfD ist in Umfragen gleichauf mit der CDU. Wir bewegen uns eher zurück als vorwärts.

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