Interview - Corona und Schulen
Interview - Corona und Schulen
Maja Hitij / dpa / picture-alliance
"Unsere Kinder sagen: Ich hasse Corona!"
Der Lockdown ist verlängert, die Schulschließung auch. Was bedeutet das für Schülerinnen und Schüler aus bildungsfernen Familien? Ein Interview mit der Augsburger Erzieherin Eylem Emir.
Julia KarnickPrivat
21.01.2021

chrismon: Frau Emir, was war Ihre erste Reaktion, als Sie gehört haben, dass die Schulen nun bis Mitte Februar geschlossen sind?

Eylem Emir: Das erste Wort, das mir über die Lippen kam, will ich hier nicht wiederholen. Mein erster Gedanke: Das kann nicht wahr sein! Ich hatte gehofft, dass wenigstens die Grundschulen öffnen dürfen. Meine Gefühle: Wut, Hilflosigkeit, Verzweiflung. Vor allem wegen der Kinder und ihren Eltern. Aber auch wegen meiner eigenen Situation und all meinen Schulkolleginnen und -kollegen.

Unter welchen speziellen Bedingungen arbeiten Sie?

Die Schillerschule in Augsburg ist eine Grund- und Mittelschule, an der über 95 Prozent der Kinder einen Migrationshintergrund haben. Es gibt auch viele Geflüchtete unter unseren Schülerinnen und Schülern. Die meisten aus Afrika und dem Irak, aber auch aus Syrien. Viele dieser Kinder sind nicht nur benachteiligt in dem Sinne, dass sie in der einen oder anderen Hinsicht schlechte Voraussetzungen haben. Ihnen fehlt oft das komplette Fundament, wenn sie zu uns kommen. Weil sie aus Kulturen mit völlig anderen Wertvorstellungen stammen und die Eltern – gerade die Mütter – nur wenige Jahre zur Schule gegangen oder sogar Analphabetinnen sind. Die meisten Kinder sind sehr lieb, aber sehr, sehr leistungsschwach. Das war schon vor Corona so. Mit Corona hat es sich drastisch verschlimmert.

Inwiefern?

Erst hatten wir den Lockdown im letzten Frühling. Dann kamen auch schon die Sommerferien. Als die Kinder im September endlich wieder in zur Schule gehen durften, stellten wir fest: Sie hatten katastrophale Rückschritte gemacht. Sie hatten reihenweise verlernt, was längst selbstverständlich schien. In Mathe etwa wussten ganz viele nicht mehr, wie man mit 'verliebten Zahlen' rechnet, also zum Beispiel: Wie viel muss man zur 7 dazuzählen, um auf 10 zu kommen? So war es auch beim Lesen. Wir mussten mit vielem von vorne anfangen und die Kinder waren gerade dabei, diese Rückschritte aufzuholen. Da kam der zweite Lockdown, der nun auch noch verlängert wurde.

Eylem EmirPrivat

Eylem Emir

Eylem Emir, Jahrgang 1978, arbeitet als Erzieherin in der Ganztagsbetreuung einer Augsburger Grund- und Hauptschule mit extrem hohem Migrationsanteil. Sie engagiert sich zudem ehrenamtlich als Stadtteilmutter des Deutschen Kinderschutzbundes und hat selbst vier Kinder zwischen 21 und sechs Jahren.
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Julia Karnick

Julia Karnick, freie Journalistin und Autorin, lebt und schreibt in Hamburg - sehr gerne Interviews zu gesellschaftspolitischen und psychologischen Themen, aber auch Kolumnen und Bücher: julia-karnick.de.

Worin genau besteht Ihre Arbeit, wenn Präsenzunterricht stattfindet?

Ich bin zusammen mit einer Lehrerin für die einzige offene Ganztagsklasse an unserer Schule zuständig. Offen bedeutet: Der Unterricht durch die Lehrerin findet immer vormittags statt. Ab mittags wird diese zweite Klasse unter meiner Aufsicht betreut. Wir – ich als pädagogische Fachkraft, eine weitere Betreuerin und ein Praktikant – essen mit den Kindern, helfen bei den Hausaufgaben und machen danach pädagogische Angebote: Das sind kleine Kunst- oder Theaterprojekte, oder wir diskutieren eine philosophische Frage oder beschäftigen uns mit einem religiösen Thema. Die Kinder in dieser Klasse profitieren enorm von der Ganztagsbetreuung. Leider kann sie trotz des großen Bedarfs nicht ausgeweitet werden, weil dazu die Räumlichkeiten fehlen in unserem völlig veralteten Schulgebäude. Seit acht Jahren kämpft unser Schulleiter dafür, dass die beschlossene Sanierung samt Erweiterungsneubau auch realisiert wird. Bisher vergeblich.

"Viele Eltern verstehen uns nicht, und wir verstehen sie nicht"

Und wie sieht Ihr Arbeitsalltag unter Lockdown-Bedingungen aus?

Sehr hart. Wir alle geben uns große Mühe, die Kinder weiter zu erreichen. Aber mit vielen Eltern können wir kaum oder gar nicht auf Deutsch kommunizieren: Sie verstehen uns nicht, und wir verstehen sie nicht. Manchmal können alle nur noch raten, was der andere meint. Unter diesen Bedingungen auch nur die technischen Voraussetzungen für Online-Unterricht zu schaffen, war für die Lehrkräfte im vergangenen Frühling ein wahnsinniger Kraftakt. Manchen Familien, die Arabisch oder Türkisch sprechen, konnte ich zum Glück helfen. Dabei bin ich selbst eine Technikniete, die mit diesem ganzen digitalen Kram eigentlich nichts zu tun haben wollte.

Wie läuft es zurzeit?

Ich unterstütze die Lehrerin, die täglich online unterrichtet. Am Dienstag- und Donnerstagvormittag vermittelt sie neuen Stoff. Montags und mittwochs kümmert sie sich um die Förderung einzelner Kinder, während wir Betreuerinnen mit den anderen in digitalen Kleingruppen Lesen üben. Dienstagnachmittags spielen angehende Erzieherinnen online Lernspiele mit den Kindern. Wir sind außerdem im ständigen Kontakt mit den Eltern, wenn sie Fragen oder Probleme haben.

"Der Vater war richtig verzweifelt"

Rund um die Uhr?

Ja, eigentlich ständig. Viele Familien begleite ich auch weiter, obwohl die Kinder gar nicht mehr von mir betreut werden. Die Eltern kennen mich aus früheren Schuljahren und haben meine Nummer, und wenn sie sich melden, helfe ich natürlich. Und ich frage auch aktiv nach. Eben habe ich mit einem Vater gesprochen, dessen Sohn in die dritte Klasse geht. Die Familie kommt aus Nigeria, der Junge zeigt sehr schwache Leistungen in allen Fächern. Der Schulleiter hatte mit meiner Unterstützung eine tägliche, kostenlose Nachhilfe für ihn organisiert. Die hat ihm sehr geholfen, konnte aber seit dem neuen Lockdown nicht mehr stattfinden. Der Vater war richtig verzweifelt. Er kann seinem Sohn nicht helfen, hat sich aber auch nicht getraut, sich bei uns zu melden und zu sagen: 'Es geht uns schlecht!' Ich werde jetzt versuchen, eine Onlinenachhilfe zu organisieren.

Kommt es häufig vor, dass Eltern sich bei Problemen nicht von selbst melden?

Ja. Auch weil sie manchmal gar nicht wissen, dass ihr Kind ein Schulproblem hat. Neulich war ein irakisches Mädchen eine ganze Woche lang abgetaucht. Sie hat nicht am Online-Unterricht teilgenommen und keine Hausaufgaben gemacht. Auf die Kontaktversuche der Lehrerin haben die Eltern nicht reagiert. Da hat sie mich um Hilfe gebeten. Es kam heraus: Den Eltern war nicht klar, dass noch Unterricht stattfindet. Sie hatten die Informationen dazu überhaupt nicht verstanden, sondern gedacht, dass die Schule im Lockdown ausfällt. Die allermeisten unserer Eltern sind derzeit völlig überfordert.

Sie selbst auch?

Überfordert nicht, aber schon sehr belastet. Unsere Zweitjüngste geht in die vierte Klasse, sie braucht meine Unterstützung auch. Und die Kleinste besucht noch den Kindergarten und ist nun den ganzen Tag zu Hause, wo ich und ihre größere Schwester online arbeiten müssen. Es ist schwer, sie ruhig zu halten. Ich erlaube ihr Dinge, die ich normalerweise niemals erlauben würde: stundenlang Fernsehen gucken zum Beispiel.

"Mit jeder Woche Lockdown gibt es größere Lernrückstände"

Welche langfristigen Folgen wird dieser verlängerte Lockdown Ihrer Einschätzung nach auf die Kinder haben?

Mit jeder Woche Lockdown gibt es größere Lernrückstände. Die können nur aufgeholt werden, wenn später für eine entsprechend intensive Förderung gesorgt wird. Falls das nicht stattfindet, sehe ich schwarz für die schulische Zukunft der Kinder. Aber noch mehr fürchte ich, dass der Lockdown die Entwicklung ihres Sozialverhaltens stark beeinträchtigt.

Worauf beruhen Ihre Befürchtungen?

Wir Erzieherinnen versuchen in der Nachmittagsförderung, eine enge und vertrauensvolle Bindung zu den Kindern aufzubauen. Wir bringen ihnen bei, wie man sich in andere einfühlt und ihnen rücksichtsvoll und tolerant begegnet. Viele unserer Schüler müssen das erst lernen. Denn das wird ihnen in ihren Familien nicht unbedingt vorgelebt. Dass dieser so kostbare persönliche Kontakt zu den Kindern nun fast fehlt, ist meiner Meinung nach der allergrößte Verlust. Das sehen auch die Kinder so. Sie dürsten sehr nach unserer Zuwendung und Anerkennung.

"Die Kinder sind traurig und wütend"

Die Kinder vermissen die Schule?

Aber ja. Und wie! Neulich war ich kurz zum Kopieren in der Schule. Da habe ich zwei Zweitklässlerinnen getroffen, die die Notbetreuung besuchen. Sie hatten eine Frage zu einer Hausaufgabe. Wir haben ihrer Lehrerin zusammen eine Nachricht geschickt, und die hat auch sofort geantwortet, ebenfalls mit einer Sprachnachricht. Als die Mädchen ihre Stimme hörten, haben sie vor Freude geklatscht. Sie haben gerufen: 'Wir wollen Frau R. wiedersehen, wir halten es nicht mehr aus ohne sie!' Unsere Kinder wünschen sich so sehr, wieder zur Schule gehen zu dürfen. Sie sind zu jung, um wirklich zu verstehen, warum sie zu Hause bleiben müssen, obwohl sie gesund sind. Sie sind traurig und wütend. Sie sagen immer wieder: 'Ich hasse Corona! Wann ist das endlich wieder weg?'

Und was wünschen Sie sich gerade?

Wenn ich drei Wünsche frei hätte an die Politik, dann diese: Erstens müssen die Grundschulen wieder geöffnet werden. Zweitens: sofort. Und drittens: sofort. 

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