chrismon: Frau Wöllenstein, funktioniert Homeschooling bei Ihren Schülern?
Julia Wöllenstein: Es ist sehr schwierig. Unsere Schüler haben in der Regel keinen Computer und keinen Drucker zu Hause, an dem sie arbeiten können. Zum Glück habe ich mir beim ersten Elternabend von den Eltern meiner 7. Klasse die schriftliche Erlaubnis eingeholt, dass ich mit den Kindern über Whatsapp kommunizieren darf. Das ist Lehrern eigentlich verboten. Darüber tauschen wir uns jetzt aus. Aber viele Schüler haben Handys mit gesplitterten Bildschirmen, auf denen sie schlecht lesen können. Ich werfe vielen die Unterlagen mit den Aufgaben in den Briefkasten. Den Hauptschülern, die ich in der 7. Klasse unterrichte, fällt es schwer, sich zu organisieren. Sie müssen engmaschig betreut werden mit kleinen Aufgabenpaketen. Da kann ich nicht mit Wochenplänen kommen.
Können die Eltern helfen?
Die wenigsten Eltern meiner Hauptschüler können jetzt beim Lernen helfen. Weil sie nicht so gut Deutsch können oder selbst Probleme mit dem Lesen und Schreiben haben. Oder weil sie in Supermärkten oder als Reinigungskräfte arbeiten und superviel zu tun haben. Eine Mutter arbeitet in einer Firma, die Hygienemittel herstellt, und soll jetzt auch noch samstags arbeiten. Sie schreibt ihrem Kind mittags um 12 Uhr eine Whatsapp: Du fängst jetzt bitte an zu arbeiten! Geh nicht an die Playstation! Wir haben ausgemacht, dass auch ich jeden Tag eine Whatsapp schreibe: Hallo, du musst arbeiten! Wir versuchen, den Schülern ein bisschen Tagesstruktur zu geben und ihnen klarzumachen, dass sie keine Ferien haben. Aber wir sind weit davon entfernt, inhaltlich weiterzukommen. Wir haben die Anweisung, dass wir nur wiederholen. Aber selbst das ist schwierig.
Julia Wöllenstein
Kann man über Whatsapp Aufgaben und Lösungen vermitteln?
Vieles läuft über Sprachnachrichten. Manchmal zeichne ich etwas auf, fotografiere es ab und schicke es. Einmal am Tag sollen die Schülerinnen und Schüler abfotografieren und schicken, was sie gemacht haben. Wenn wir nichts von ihnen hören, rufen wir an und fragen nach, was los ist. Alles, was wir im Moment machen können, ist, den Kontakt zu halten. Das ist auch den Jugendlichen wichtig. Die schicken die Aufgaben zurück und hängen noch drei Herzchen dran. Wenn wir schaffen, dass sie sich eine Stunde am Tag auf die Schule konzentrieren, ist das viel.
Ich begleite seit Jahren ein Mädchen aus einer palästinensischen Familie. Die Schule ist für sie die einzige Möglichkeit, überhaupt aus dem Haus zu kommen.
Das erlebe ich auch. In die Schule dürfen diese Mädchen gehen, weil es Pflicht ist. Wenn ich ihnen jetzt Anleitungen der Sportlehrerin weiterleite, schreiben sie zurück: Ich darf gar nicht raus. Und die Aufgaben kann ich auch nicht machen, weil ich auf meine Cousins aufpassen oder der Mutter helfen muss. Da versuche ich, mit der Mutter zu telefonieren und zu verdeutlichen, dass das keine Ferien sind. Dann schicken sie mir zum Teil um 22 oder 23 Uhr Aufgaben zurück. Aber auch viele Jungs sitzen die ganze Zeit drin. Ich mache mir Sorgen, dass am Ende alle bildschirmsüchtig sind und körperliche Probleme haben.
Ist das Schuljahr verloren, wenn die Schulschließungen anhalten?
Ich fürchte, dass die Krise die soziale Spaltung in der Bildung vertieft. In manchen Schulen geht man mit dem Stoff einfach weiter und verlässt sich auf die Mitarbeit der Eltern. Die Kinder aus den bürgerlichen Familien werden jetzt 1:1 betreut, das ist ja jetzt fast noch besser als mit 25 anderen in einer Klasse.
Viele Menschen sind wegen Kurzarbeit zu Hause und langweilen sich. Könnten die Ihren Schülern helfen?
Das ist schwierig wegen des Kontaktverbots und auch, weil viel Vertrauen nötig ist. Das kann man nicht so einfach übers Telefon herstellen. Viele meiner Schüler haben auch keine Mailadresse. Ich versuche seit eineinhalb Wochen, ihnen dabei zu helfen, dass sie sich eine besorgen, damit ihnen zum Beispiel auch die Mathelehrerin etwas schicken kann. Aber bei vielen kostenlosen Anbietern muss man mindestens 16 Jahre alt sein. Sie brauchen also die Unterstützung der Eltern, um sich eine Adresse zuzulegen.
Wie wird sich die Krise längerfristig auf Ihre Schule auswirken?
Wir haben die Digitalisierung verschlafen. Die werden wir jetzt vorantreiben. Indem wir uns zum Beispiel eine Schul-Mailadresse zulegen. Dann hätte jeder Schüler eine Adresse. Wir wollen mit Lernplattformen arbeiten, wo man Aufgaben online stellen kann und die Rückmeldungen bündeln kann. Und gerade an den Brennpunktschulen bräuchten wir für jedes Kind Geräte, eine Art iPad, das sie sich am Anfang der Schulzeit ausleihen und womit sie in der Schule und zu Hause arbeiten können. Wir müssen die Kinder auch viel früher an die Digitalisierung heranführen. Vielleicht mit einem Computerführerschein in der 5. Klasse.
Der Titel ist so ermunternd !
Der Titel ist so ermunternd ! Man kann sich das Lesen des weiteren Textes sparen.
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E-Mail an die Lehrkraft einer 5. Klasse Mittelschule
Diese Mail habe ich auf Anraten meines Ex-Mannes nicht versendet. Ich möchte den Inhalt hier gerne anonymisiert öffentlich stellen, da ich glaube, es befreit mich in einer Art und vielleicht tröstet es ein wenig, zu wissen, nicht alleine mit dem Thema zu sein. Anmerken möchte ich noch, dass die Lehrer sehr engagiert sind und umgehend auf Fragen eingehen:
Sehr geehrte Frau xxxx,
Den 3. Tag infolge komme ich jetzt an meine Grenzen. Ich werde beschimpft, beworfen und mittlerweile getreten, da mein Junge weder mit noch ohne Druck seine Arbeiten zuverlässig erledigt.
Nach meiner Kurzarbeit bin ich mittags zuhause und versuche, mit ihm die Sachen durchzugehen, vorzubereiten und ihn anzuhalten, selbst tätig zu werden.
Aufgrund der Kontaktbeschränkung fordert er auch seine Freizeitbeschäftigung draußen mit mir ein.
Mit Haushalt, Beruf mit der ständigen Sorge um Erhalt des Arbeitsplatzes sowie homeschooling und Freizeitbeschäftigung bin ich gerade überfordert.
Wäre mit einem Kind, welches selbstständig und mit Freude seine Schulaufgaben erledigt, einfach leichter.
Ich muss mich jetzt aus der Schulsache rausnehmen. Er wird von alleine nichts machen, deshalb sehe ich diese Woche keine Möglichkeit, dass xxxx aktiv etwas arbeitet.
Lösung sehe ich im Moment keine.
Gerne höre ich von Ihnen.
Von meinem iPhone gesendet
Am 21.04.2020 um 14:34 schrieb Xxxxx(Mutter)
Sehr geehrte Frau xxxxx(Lehrkraft),
Ich habe eine Frage zu NT. Im Buch Seite 36 und 37 ist das Thema Bimetall und Brennerführerschein. Habe ich das falsche Buch?
Verzweifelte Grüße
Xxxxxx
Von meinem iPhone gesendet
Am 19.04.2020 um 11:33 schrieb Xxxxxx(Lehrkraft)
Liebe Eltern der Klasse 5xxxx,
im Anhang erhalten Sie die Arbeitspläne für die kommende Woche. Wir besprechen morgen früh um 9Uhr in der Skype-Konferenz die Arbeitsaufträge für Montag. Es wäre gut, wenn die Kinder die ausgedruckten Arbeitspläne neben sich liegen haben könnten, so dass sie sich Tipps/ Hinweise direkt notieren können. Wenn das nicht geht, bitte einen Block bereit halten.
Bei Fragen können Sie sich jederzeit melden! Ich freue mich darauf, viele Ihrer Kinder morgen zu sehen!
Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Sonntag und einen guten Start in die Woche!
Viele Grüße
Xxxxxx(Lehrkraft)
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Sehr geehrte Damen und Herren
Sehr geehrte Damen und Herren,
hiermit möchte ich mich auf das Interview zwischen Frau Keller und Frau Wöllenstein beziehen.
Zunächst war ich versucht, auf einzelne Punkte des Interviews einzugehen. Doch schlussendlich frage ich mich, warum überhaupt ein Interview mit einer Lehrerin, die ihren persönlich Eindruck wiedergibt, veröffentlicht worden ist. Der Erkenntnisertrag ist gering, außer wenn ein testimonial-Beitrag bzw. ein Beitrag einer Betroffenen geplant worden ist.
In Hessen gibt es für die Schulen ein sehr gutes Portal, LANis, über das man z. B. Schüler*innen und deren Eltern erreichen kann. Wenn Frau Wöllenstein gefragt wird, ob homeschooling bei Hauptschulschüler*innen funktioniert, dann hätte ich mir eine Antwort mit Lösungsorientierung gewünscht, z.B. das man lernen kann von Lehrkräften an Grundschulen: hier können die Kinder zu Beginn weder schreiben noch lesen, sind in der schulischen Nutzung des handys bzw. des Computers wenig erfahren. Dass Frau Wöllenstein auf die Frage nach den Auswirkungen der Krise mit dem Ausbau der Digitalisierung und einen Computerführerschein antwortet (etwas Ähnliches gibt es in Hessen bereits), finde ich erschreckend. Was diese Krise doch gerade zeigt, ist, dass digitale Medien ein Instrument für Wissensvermittlung sind, nicht aber die studierte Lehrkraft in ihrer Person, Menschlichkeit und Fähigkeit Kindern und Jugendlichen einen Sachverhalt zu erklären, ersetzen kann. Wenn jedes Kind aufgrund der Corona-Krise in das nächsthöhere Schuljahr aufrückt, dann stellt sich doch vielmehr die Fragen, wie das System Schule und in meinem Fall das evangelische Schulsystem, jede einzelne Schule, und jede einzelne Lehrkraft darauf reagiert, dass kein Kind verloren geht.
Mit freundlichem Gruß
Dr. Anke Holl
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