Wie beurteilen Sie die wirtschaftliche Situation, in die das Coronavirus eingeschlagen ist?
Moritz Schularick: Diese gesundheitliche Katastrophe trifft uns in einer Zeit, in der sich das Bankensystem ganz gut von der Krise von vor zehn Jahren erholt hatte. Aber die Bekämpfung der Banken- und Schuldenkrise hat bis heute angedauert. Wir merken das an den niedrigen Zinsen. Die Notenbanken haben alles getan, um die Wirtschaft mit billigem Geld anzukurbeln. Das hat dazu geführt, dass einige Vermögenspreise bei Ausbruch der Corona-Krise sehr hoch waren - besonders Immobilien, aber auch Produkte an den Finanzmärkten, Aktien und Anleihen zum Beispiel. Wenn ein Schock wie jetzt der durchs Virus kommt, kann das auch wieder die Banken gefährden, die viele Finanzprodukte in ihren Portfolios halten. Auf dem Immobilienmarkt haben wir dagegen nicht viel zu befürchten, weil die Zinsen absehbar niedrig bleiben, das führt erfahrungsgemäß zu einer hohen Nachfrage nach Häusern und Wohnungen. Und die Menschen werden weiter in die Städte ziehen wollen.
Moritz Schularick
Stimmen wie die von Gerhard Schick mahnen, die Finanzmarktkrise sei noch gar nicht aufgearbeitet worden.
Gerhard Schick hat recht, dass gerade im deutschen Finanzsystem vieles im Argen liegt. Aber wir haben das Glück, dass Deutschland an den Märkten einen guten Ruf hat und über viel Glaubwürdigkeit verfügt. Bundesfinanzminister Olaf Scholz kann sich zu guten Konditionen Geld leihen.
Im Nachtragshaushalt ist eine Neuverschuldung von mehr als 150 Milliarden Euro vorgesehen. Alle Maßnahmen zur Krisenbekämpfung in Deutschland können sich auf 750 Milliarden summieren - Stand jetzt. Woher kommt das ganze Geld?
Die Bundesrepublik leiht sich an den Märkten Geld. Das sind zum Beispiel auch Ihre Ersparnisse.
Wie bitte?
Falls Sie gerade 10.000 Euro auf einem Konto liegen haben sollten, geht Ihre Bank los und leiht der Bundesrepublik Geld. Eines Tages muss Deutschland diese Schulden begleichen, klar. Aber zurzeit sind Zinsen auf deutsche Staatsanleihen negativ. Sie zahlen noch drauf, wenn Sie dem Staat Geld leihen. Anders gesagt: Der Markt zahlt Herrn Scholz Geld dafür, dass er so nett ist und das Geld nimmt. Das muss nicht immer so bleiben, Zinsen können steigen, aber wenn man es heute geschickt macht und sich für lange Zeit das Geld leiht – sagen wir für 30 oder 50 Jahre -, dann sind die Risiken, die sich daraus ergeben, gering.
Wäre es angesichts der Lasten, die wir nun aufbringen müssen, um die Wirtschaft zu stützen, angebracht, über eine Vermögenssteuer nachzudenken?
Ich bin grundsätzlich offen, was eine Vermögensbesteuerung angeht. Wir haben erst kürzlich in einer Studie gezeigt, dass die reichsten 50 Prozent der Deutschen ihr Vermögen seit der Wiedervereinigung verdoppelt – die ärmsten 50 Prozent aber praktisch nichts hinzugewonnen haben. Wir hatten ja lange eine Vermögenssteuer in Deutschland, und die war nicht das Ende des Kapitalismus. Wir haben sie 1996 ja auch nur ausgesetzt. Aber: Wir können uns derzeit Geld zu negativen Zinsen leihen – warum sollten wir dann neue Steuern einführen?
Weil es gerecht ist?
Für mich ist die wichtige Frage dabei, was mit den Einnahmen passieren sollte. Wenn ich damit zum Beispiel Menschen mit sehr wenig Einkommen dabei unterstützen könnte, selbst Vermögen aufzubauen, wäre ich aufgeschlossen. Jetzt müssen wir aber erst einmal an anderer Stelle Solidarität zeigen, finde ich – dringend!
Woran denken Sie?
An eine faire Lastenverteilung in Europa. Die Bundesregierung - und besonders der Finanzminister - haben sehr schnell ein Paket geschnürt und damit in großer Unsicherheit eine gewisse Sicherheit geschaffen. Das ist auch die Aufgabe von Wirtschaftspolitik. Aber wenn wir eine europäische Familie sein wollen und uns ein italienisches Leben so viel wert ist wie ein deutsches, müssen wir jetzt solidarisch sein. Es kann nicht sein, dass Olaf Scholz viele Milliarden ausgeben kann, sein italienischer Kollege aber nur einen Bruchteil davon.
Warum kann Italien das nicht auch tun?
Weil das Land dann sofort Probleme an den Kapitalmärkten bekommt und hohe Risikozinsen zahlen muss.
Was tun?
Es gibt zwei Vorschläge. Erstens: Wir begeben gemeinsame Anleihen, Euro- oder Corona-Bonds. Gemeinsam mit anderen Wirtschaftswissenschaftlern schlage ich eine Billion Euro vor. Das klingt viel, das ist auch viel – aber angesichts der Wirtschaftskraft in Europa ist das zu stemmen. Wir haben es in der Ölkrise in den 70er Jahren erfolgreich geschafft, auch damals gab es eine gemeinsame Anleihe. Das ist die beste, gerechteste und solidarischste Lösung.
Es gibt aber noch eine zweite Lösung.
Das könnte der ESM sein, der Europäische Stabilitätsmechanismus. Diesen Weg ist man in der Eurokrise gegangen, um Ländern in Haushaltsschwierigkeiten zu helfen. Der ESM ist vom ganzen Geist her aber unpassend, weil Hilfen an Bedingungen geknüpft wären. Kreditnehmer müssten dann zum Beispiel Staatsausgaben kürzen, um an Geld zu kommen. Aber in der Corona-Krise geht es nicht um Auflagen. Es wäre doch ein schlechter Witz, wenn wir nun von Italien eine Verhaltensänderung erwarten würden. Es geht um Hilfe. Die Gemeinschaftsanleihen wären viel besser, der ESM wäre nur die zweitbeste Lösung.
Warum? Geld würde ja auch fließen ...
Aber jedes Land müsste für sich Gelder beim ESM beantragen. Das brächte ein Land wie Italien nun auch noch in die Rolle eines Bittstellers, das ist eine Stigmatisierung. Und die Verschuldung, die daraus erwächst, wäre dann eben allein eine italienische – und kein Gemeinschaftswerk.
Es gibt ja noch einen dritten Weg: Die EZB kauft Staatsanleihen der Länder, die besonders von der Corona-Krise gebeutelt wurden.
Das tut sie schon, die EZB bringt 750 Milliarden Euro auf den Markt, um mit dem Geld Anleihen von besonders verschuldeten Ländern zu kaufen, um die Zinsen von Staaten wie Italien nicht ansteigen zu lassen. Das wäre auf Dauer und als einzige Lösung alles andere als unproblematisch. Wir haben jetzt eine politische Aufgabe, keine geldpolitische. Die Idee, Geld zu drucken für spanische oder italienische Krankenhäuser, ist vielleicht verlockend. Aber das darf die EZB gar nicht. Fiskal- und Geldpolitik sind zu trennen. Ich finde: Wir haben nun ein gemeinsames Problem – das Coronavirus. Also leihen wir uns gemeinsam Geld, um die Folgen zu mildern. Es wäre ein tolles politisches Signal! Stellen Sie sich vor, in einem halben Jahr müssen wir erkennen: Alle Länder in Europa waren in dieser Krise allein, alle haben ihre Gesundheitssysteme geschützt und nur ihre Wirtschaft gestützt. Dann wären wir in einer der größten Krisen Europas keine Familie gewesen, die sich stützt – und dann könnten wir die Sonntagsreden von einem gemeinsamen Europa für Generationen vergessen, weil es null glaubwürdig wäre.
Glauben Sie, Sie und Ihre Kollegen werden gehört?
Heute beraten die EU-Staats- und Regierungschefs, wir werden sehen. Leider hakt es im Kanzleramt, nicht im Finanzministerium. Im Kanzleramt hat sich die alte Mentalität von Wolfgang Schäuble aus der Eurokrise stärker gehalten. Da gibt es eine starke Fraktion, die selbst in der Krise Angst davor zu haben scheint, sich mit Italien zu solidarisieren. In der Europapolitik gibt es von Angela Merkel seit Jahren eine laute Abwesenheit. Das ist schade. Ich bin sicher, wir werden auch diese Krise meistern, aber die Frage ist: mit welchen Kosten für das europäische Projekt?