Wenn die Seele krank ist
Depressives Kind? Schaut hin und fragt nach!
Alle sollen lernen, psychische Leiden bei Kindern und Jugendlichen früh zu erkennen. Das ist die Mission von Alix und Oliver Puhl. Sie haben einen Sohn durch Suizid verloren
Larissa Bertonasco
Tim Wegner
16.04.2025
11Min

chrismon: 2020 nahm sich Emil, eines Ihrer vier Kinder, mit 16 Jahren das Leben. Zwei Jahre später haben Sie mit Ihrem Mann das gemeinnützige Unternehmen "Tomoni mental health" gegründet. Sie wollen das Umfeld junger Menschen dafür sensibilisieren, Anzeichen von psychischen Erkrankungen früher und besser zu erkennen, damit alle wissen, was zu tun ist. Was hätten Sie damals gern von dem gewusst, was Sie heute wissen?

Alix Puhl: Alles. Uns fehlte jegliches Wissen über psychische Erkrankungen. Wir hatten keine Ahnung und fühlten uns, wenn wir überhaupt über dieses Thema nachdachten, immun, denn wir lieben ­unsere Kinder und sind immer für sie da.

Was kann da schon passieren?

Wir wussten nicht, dass psychische Erkrankungen jeden treffen können. Und vor allem nicht, wie wichtig es ist, Veränderungen im Verhalten unserer Kinder bewusst zu beobachten, richtig einzuordnen und entsprechend zu handeln. Junge Eltern lernen schnell, was bei Bauchschmerzen zu tun ist – aber nicht, worauf sie achten sollten, wenn ihr Kind seelisch leidet. Ich kann bei Freunden fragen: Mein Kind hat 39,5 Fieber, was würdet ihr machen? Diesen Rat holt man sich leider nicht, wenn es um mentale Gesundheit geht.

peal GmbH

Alix Puhl

Alix Puhl ist Juristin. Mit ihrem Mann Oliver Puhl hat sie 2022 die gemeinnützige "tomoni mental health" gegründet. "tomoni" bedeutet auf Japanisch "zusammen". Ihr Sohn Emil hatte sich zwei Jahre zuvor mit 16 Jahren das Leben genommen. Heute arbeitet ein Team von 25 Mitarbeitenden für "tomoni". Unterstützt von einem wissenschaftlichen und einem pädagogischen Beirat und zusammen mit betroffenen Jugendlichen erarbeitet tomoni Angebote, um Anzeichen psychischer Erkrankungen bei jungen Menschen früh zu erkennen. Davon profitieren Eltern und Menschen, die an Grund- und weiterführenden Schulen arbeiten. Das neuste Angebot ist der Podcast "Es braucht das ganze Dorf", in dem Jugendliche mit Fachleuten aus Psychologie und Therapie ins Gespräch kommen.

Kam Emil auf Sie zu und sagte: Mir geht es nicht gut?

Kinder und Jugendliche wissen oft selbst nicht genau, dass sie sich anders als andere fühlen. Sie kennen nur ihre Gefühle und keine Norm, wie es sein sollte oder sein könnte. So ging es Emil wohl auch; er fühlte sich anders, ohne es benennen zu können. Und alle Eltern, die mehrere Kinder haben, wissen: Jedes Kind ist anders. Wir haben gemerkt, dass Emil besonders ist. Aber uns fehlte dieser entscheidende Schubs: Schaut genauer hin und fragt nach!

Als Mutter oder Vater ist es nicht leicht zu erkennen, was eine Laune ist oder was zur Pubertät gehört. Wann sollten wir genauer hinsehen?

Immer dann, wenn Kinder und Jugendliche sich ver­ändern. Sich zurückziehen, sich isolieren. Oder ihr Essverhalten ändern: Plötzlich isst das Kind sehr viel oder sehr wenig. Oder es stellt seine Ernährung um, wird zum Beispiel vom Vegetarier zum Veganer. Da lohnt es sich, hinzuschauen und nachzufragen: Warum machst du das? Jede Verhaltensänderung hat einen Grund – und oft ist dieser Grund harmlos und nur Teil auf dem Weg zum ­Erwachsenwerden. Wie zum Beispiel, wenn das Kind beginnt, Mangas – japanische Comics – zu lesen.

Was ist falsch daran? Das tun viele!

Daran ist nichts falsch, aber es lohnt sich trotzdem, ­darüber ins Gespräch zu kommen. Denn manche Mangas sind sehr düster und beschäftigen sich mit verstörenden Themen. Gleiches gilt für körperliche Veränderungen: Was bringt ein junger Mensch damit zum Ausdruck? Sich die Haare wachsen lassen oder komplett abzurasieren oder zu färben – passiert das nur, weil es schick ist? Oder um irgendwie zu zeigen: Ich bin anders, ich verändere mich? Achten Sie auf den Schlaf: Schläft ein Kind ungewöhnlich viel oder kann es nur wenig schlafen? Auch das kann ein Hinweis sein, dass etwas in ihm arbeitet.

Also sollte man wirklich alles thematisieren? Kinder ­verändern sich ja ständig . . . 

Ein erster Hinweis sind Veränderungen, ein zweiter ­Hinweis ist der Leidensdruck. Leidet das Kind? Oder ­leidet das Umfeld des Kindes unter den Veränderungen? Und drittens stellt sich die Frage: Hält eine Veränderung über eine längere Phase an? Eine Laune ist oft relativ schnell ­abgehakt. Junge Menschen haben Liebeskummer oder Ärger im Freundeskreis, darauf reagieren sie. Aber Leiden muss länger andauern. Ein Beispiel: Ein Zustand wird als Depression diagnostiziert, wenn Symptome wie ­anhaltende Niedergeschlagenheit, Interessenverlust oder Freudlosigkeit, Antriebslosigkeit oder Erschöpfung über mindestens zwei Wochen fast täglich und durchgehend auftreten. Das klingt eindeutiger und einfacher, als es im Alltag ist. Wir müssen wirklich genau hingucken. Und dafür brauchen wir das ganze Dorf.

Welches Dorf meinen Sie?

Mit Dorf meinen wir das direkte Umfeld, das Kinder begleitet – die Familien, die Schulen, Freundinnen und Freunde, befreundete Familien, Klassenkameradinnen, Ehrenamtliche in Vereinen wie zum Beispiel Trainerinnen und Trainer. Sie alle sind wichtig und können ­helfen, psychische Erkrankungen frühzeitig zu erkennen, damit Kinder Hilfe bekommen.

Warum wenden Sie sich an so viele Gruppen?

Es ist nicht immer einfach, die Anzeichen für eine Erkrankung richtig zu deuten. Manchmal sind wir als Elternteil zu nah dran und sehen die Veränderung nicht. Oder wir wollen sie nicht sehen. Manche Kinder verbergen bewusst ihr Verhalten und ihre Gefühle vor den Eltern, weil sie denken: Ich will meine Eltern nicht damit belasten. Manchmal sind Eltern auch selbst betroffen und können es nicht sehen.

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Zu Emils Geschichte gehört, dass er unter einer Autismus-Spektrum-Störung litt, die lange unerkannt blieb.

Ich stelle es mir so vor: Emil war in einem Raum, in dem alle anderen eine Sprache sprachen, die er nicht immer verstehen konnte. Und trotzdem wollte er dazugehören, wollte alles richtig machen. Für Emil muss das unendlich anstrengend gewesen sein. Geäußert hat er das aber nie. Als Neugeborener kam er mit acht Stunden Schlaf aus. Das hat mich in den Wahnsinn getrieben. Mit dem Wissen, das ich heute habe, würde ich sagen: Behalte das im Hinterkopf! Er sprach sehr früh und sehr schnell. Später hatte er Spezialinteressen, lernte zum Beispiel Japanisch. Anderes fiel ihm schwer – einkaufen gehen, Fremde ansprechen. Damit das nicht auffällt, hat er seine eigene Strategie entwickelt: lustig sein, freundlich sein. Er war höflich, sagte immer: "Schönen Tag noch!" Alles Puzzlesteine, die auf eine Autismus-Spektrum-Störung hindeuten.

Wurde er depressiv, weil diese Autismus-Spektrum-­Störung Kraft kostete?

Das ist möglich. Es gibt sogenannte Komorbiditäten, ­also Erkrankungen, die häufig zusammen auftreten. Ob er durch die ständige Überforderung, die aus der Erkrankung resultierte, oder aus einem anderen Anlass akut an einer Depression erkrankte, wissen wir nicht. Zehn Tage, bevor wir erfuhren, dass er suizidale Gedanken hatte, erzählte er mir: "Hier ist alles so grau." Hätte ich gewusst, dass eine Autismus-Spektrum-Störung auch das Risiko für eine Depression erhöht, hätte ich ganz anders reagieren können. So dachte ich nur: Na ja, im Januar ist alles grau.

"Wir müssen wirklich genau hingucken. Und dafür brauchen wir das ganze Dorf."

Geht es Ihnen bei "Tomoni" immer um den Punkt: Wie können wir lernen, junge Menschen besser im Blick zu haben, die sich auf eine gefährliche Art und Weise schlecht fühlen?

Es muss gar nicht gefährlich sein, es müssen keine Suizid­gedanken im Raum stehen! Suizide sind wirklich nur die kleine Spitze des Eisbergs. Allerdings gehen 90 ­Prozent aller Suizide auf eine psychische Erkrankung zurück. ­Eine nicht erkannte Erkrankung muss ­natürlich nicht in den Suizid führen. Aber sie verhindert ein ­besseres Leben. Viele Menschen mit psychischen Er­krankungen greifen zu Alkohol oder Drogen, um mit ihrem Leidensdruck umzugehen. Doch wenn ­ein psychisches Leiden früh erkannt und behandelt wird, steigen die Chancen auf ein selbstbestimmtes und ­gesünderes Leben. Unerkannt psychisch Kranke sterben statistisch gesehen 15 Jahre früher als Menschen, die frühzeitig Unter­stützung erhalten haben.

Wie viele Menschen sind von psychischen Erkrankungen betroffen?

Die WHO, die Weltgesundheitsorganisation, geht davon aus, dass weltweit eine Milliarde Menschen psychisch erkrankt sind. Davon leben ungefähr 18 Millionen erwachsene Menschen in Deutschland. Das entspricht der Einwohnerzahl von Nordrhein-Westfalen. Und wenn man dann noch weiß, dass die Hälfte dieser Menschen schon im Kindes- und Jugendalter erstmals krank waren, wird einem klar: In jedem Klassenraum sitzen mehrere Kinder, die ­leiden und dies ein ganzes Leben lang tun werden, wenn sie nicht frühzeitig professionelle Unterstützung erhalten.

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Das ist furchtbar!

Ja, vor allem, wenn ich weiß, dass wir besonders jungen Menschen sehr gut helfen können. Eine Angststörung zum Beispiel muss man nicht mit ins Erwachsenenalter nehmen. Nach einer professionellen Diagnose und einer anschließenden Therapie lässt sie sich in der Regel gut behandeln. Eine Essstörung begleitet Menschen leider oft ein Leben lang. Aber wenn sie früh behandelt wird, kann der Umgang damit deutlich leichter werden. Bei Depressionen ist es ähnlich. Wenn ich nicht früh Hilfe bekomme, wird das Problem immer größer. 75 Prozent aller psychischen Erkrankungen treten bis vor dem 25. Lebensjahr auf. Deswegen ist es so wichtig, dass Eltern und alle, die mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben, wissen, welche Verantwortung sie haben, welchen Unterschied sie für das gesamte Leben eines jungen Menschen machen können.

Alle Eltern kennen es: Man fragt das Kind, wie es geht. Und dann kommt schnell ein leicht genervtes: "Gut!"

Ich kann ja mal versuchen, anders zu fragen, zum ­Beispiel: "Wie war es heute in der Schule?" Oder: "Was lest ihr im Deutschunterricht, wie findest du das Buch?" Kinder werfen oft kleine Köder aus, da müssen wir an­beißen. Sie erzählen von einer Freundin, und daran kann ich anknüpfen. Ich muss ja nicht fragen: "Wie war denn die Mathearbeit?" Sondern: "Wie hast du dich gefühlt bei der Arbeit?" "Wie gehts?", das reicht eben leider oft nicht. Aber ich kann sagen: Ich schäle uns gerade Karotten und würde mich über Hilfe freuen! Und dann kann ich auch selbst von mir erzählen. "Ich habe gehört, wie sich zwei Kollegen gestritten haben, das war so ätzend. Kennst du solche Situationen? Wie hättest du in meiner Situation ­reagiert?" Dann bin ich in einem ganz anderen Gespräch. Es geht darum, echtes Interesse zu zeigen – und zwar immer wieder. Ich darf mich nicht entmutigen zu lassen, wenn die erste Antwort dann doch wieder einmal lautet: "Gut."

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Das kostet aber Zeit, die viele Eltern nicht immer haben.

Aber das lässt sich als Familie verändern, indem sie ­Routinen schafft und zum Beispiel abends beim Essen fragt: Was war heute das Schönste, was war das ­Blödeste? Gemeinsame Mahlzeiten sind wichtig. Und wenn wir das nicht jeden Abend schaffen, dann vielleicht an ­jedem Sonntag. Mein Rat ist: Wenn ich als Elternteil ein ­Bauchgefühl habe, dass etwas nicht stimmt: Nachfragen! Und sich dann nicht abspeisen lassen. Kinder sagen oft: "Es ist schon in Ordnung, mir geht es gut." Dann kann ich sagen: "Und wenn es dir mal nicht gut geht, dann komm, ich bin für dich ansprechbar!"

In diesem Interview haben wir über einen Menschen berichtet, der Suizid begangen hat. Wenn du Sorgen hast oder deine Gedanken darum kreisen, dir das Leben zu ­nehmen, bietet die Telefonseelsorge Hilfe. Am Telefon kann man seine Sorgen und Verzweiflung teilen, rund um die Uhr, anonym und kostenfrei: 0800/111 0 111 oder 0800/111 0 222.

Speziell für Jugendliche und Kinder bietet die Nummer gegen Kummer Hilfe: 116 111 anonym und kostenlos vom Handy und Festnetz, montags bis samstags von 14 bis 20 Uhr. Man kann sich unter  www.nummergegenkummer.de auch online ­beraten lassen – per Mail oder Chat.

Unter  www.u25-deutschland.de findest du ebenfalls eine ­kostenlose und vertrauliche Mailberatung für unter 25-Jährige in (suizidalen) Krisen.

Und wenn dann ein Satz vom Kind kommt, der uns echt Sorgen macht?

Dann bitte nicht denken: Das habe ich jetzt nicht gehört! Oder genauso wenig: Das geht schon von selbst vorbei!

Sondern?

Das muss ich ansprechen, ins Gespräch kommen. "Was belastet dich?" Und je nachdem, was es ist: Hilfe holen. Wir als Eltern, Lehrkräfte, Freunde von anderen Familien – wir sind alle keine Diagnostiker oder Diagnostikerinnen und auch keine Therapeuten oder Therapeutinnen. Aber wir können Anzeichen sehen, wir können Veränderungen wahrnehmen. Und dann können wir gemeinsam mit den Betroffenen überlegen, was hilft. Ist es möglich, zum Schulsozialarbeiter oder zur Schulsozialarbeiterin zu ­gehen? Hilft es, dem Kind die "Nummer gegen Kummer" zu geben? Braucht es einen Termin bei einer Fachärztin oder einem Facharzt? Braucht es eine Diagnose? Oder reicht es schon, tief Luft zu holen und spazieren zu gehen? Und was wir alle wissen sollten: Was können wir ­präventiv gegen psychische Erkrankungen tun?

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Und das wäre?

Vier Dinge: gesund essen. Ausreichend und regelmäßig schlafen. Uns bewegen. Und soziale Kontakte pflegen. Wir Eltern sind ja ganz schnell dabei zu sagen: "Nun hör doch mal auf, schon wieder so lange zu telefonieren oder zu chatten, mach deine Hausaufgaben!" Falsch! Kontakte sind sehr wichtig. Ein Kind kommt nicht sofort nach dem Sport nach Hause? Super! Zeit mit Gleichaltrigen ist wertvoll. Das sage ich auch Eltern, die ihre Kinder zur Schule fahren. Lasst das sein, der Schulweg kann ein Glücksfall sein! Schule ist durchgetaktet, da ist oft gar keine Zeit zum Reden. Doch auf dem Weg dorthin passiert genau das: ­Gespräche, Lachen, Austausch.

Was ist mit den Großeltern, sind die auch Dorfbe­wohner?

Ja, klar! Die werden ja oft heiß geliebt von ihren Enkelkindern! Auf sie setzen wir auch deshalb, weil manche Kinder sehr viel Zeit mit ihnen verbringen. Die Aufklärungsarbeit über psychische Krankheiten muss deshalb ein Thema für alle Generationen sein. Zumal Großeltern aus einer Generation kommen, in der über psychische Erkrankungen kaum oder nur verschämt geredet wurde. Früher hieß es oft nur: "Ach, der verrückte Onkel" – mehr wurde darüber nicht gesprochen. Doch heute wissen wir, dass psychische Erkrankungen Teil des Lebens sind. Gerade Großeltern können dazu beitragen, dass Kinder sich ernst genommen und verstanden fühlen.

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Befreundete Eltern darauf aufmerksam zu machen, dass sie bei ihrem Kind genauer hinsehen sollten, ist nicht die leichteste Übung.

Ich kann sehr gut nachvollziehen, wenn jemand sich diesen Schritt nicht zutraut. Niemand möchte übergriffig wirken. Aber wenn wir alle wüssten, dass Angst­störungen, Depressionen oder Suchterkrankungen weitverbreitete Krankheiten sind – so wie Fieber und Grippe auch –, dann wäre die Gefahr weniger groß, dass so ein Gespräch schiefläuft. Beobachtungen oder Sorgen nicht ansprechen und hoffen, dass irgendjemand anderes es tut, ist keine Lösung. Deswegen bitte ich alle Menschen, den Mut aufzubringen und beispielsweise zu sagen: "Ich mache mir Sorgen, denn ich habe beobachtet, dass dein Kind im Hochsommer Pullover mit langen Ärmeln trägt." Als angesprochene Eltern sollten wir uns freuen, wenn wir Freunde haben, die mit uns hinsehen. Auch wenn das im ersten Moment nicht immer leicht ist. Und es gibt noch eine andere Gruppe, die helfen könnte, sich aus Loyalität aber oft nicht traut.

Welche Gruppe meinen Sie?

Oft vertrauen sich Jugendliche zuerst Gleichaltrigen an. Ein typischer Satz ist: "Ich erzähle dir was, aber du darfst es niemandem weitererzählen!" Unsere Kinder können in die Situation kommen, etwas über ihre Freunde zu ­wissen – traurige Gedanken, Angststörungen, Sorgen. Aber sie wollen es eigentlich für sich behalten, das haben sie versprochen. Dieser Konflikt ist für sie kaum auszuhalten. Es ist wichtig, Kinder auf solche Situationen vorzubereiten: Egal, was es ist, ihr könnt es uns erzählen, das ist kein Verrat oder Vertrauensbruch, wir helfen und es gibt Hilfe!

Welche Folgen hatte die Corona-Pandemie für Kinder und Jugendliche?

Diese Zeit hat das Thema mentale Gesundheit seither mehr in Fokus gerückt. Das ist positiv. Aber: Den jungen Menschen fehlt ein halbes Jahr mit sozialen Kontakten. Von hundert auf null war das Leben weg, und sie erlebten uns Eltern damals als hilflos und die öffentliche Meinung als zutiefst zerstritten. Dazu kam ein moralischer Druck der Gesellschaft: "Wenn ihr in die Schule geht, dann steckt ihr die Großeltern an und seid schuld, dass sie sterben." Die Folgen werden uns noch lange begleiten. Dringend gefragt sind Strategien, um psychische Erkrankungen zu erkennen. Sonst werden aus erkrankten jungen Menschen kranke Erwachsene und kranke alte Menschen.

Für Eltern kann es schon schwierig sein, eine Kinderärztin zu finden. Gibt es genügend Anlaufstellen für die seelische Gesundheit?

Kinder haben keine Lobby. Es gibt mehr als zweieinhalb Millionen psychisch belastete oder erkrankte ­Kinder und Jugendliche in Deutschland. Und die meisten ­Erwachsenen und die Politik gucken interessiert zu? Sorry, wo sind wir hier eigentlich! Es gibt zu wenige ­Therapeutinnen und Therapeuten und zu wenige Plätze in Kinder- und ­Jugendpsychiatrien. Und es gibt nicht genug professionelle ­Diagnostik. Umso wichtiger ist es, dass beispielsweise Lehrkräfte schon in ihrer Ausbildung genug über ­psychische Erkrankungen und die Erkennung von ­Anzeichen lernen. Nicht jedes Problem muss mit ­einer Therapie oder mit Medikamenten behandelt ­werden – aber wir müssen es als mögliches Problem erkennen, wenn wir früh handeln wollen. Auch Kinderärzte müssen besser ­darin ausgebildet werden. Und die Bildungspolitik muss sich verändern. Sport, Kunst, Musik sind gut für die ­Seele. Aber sie werden als "Nebenfächer" abqualifiziert. Für mich sind es Lebensfächer, in denen Kinder sich künstlerisch und sportlich ausdrücken können.

Infobox

2022 haben Alix und Oliver Puhl "Tomoni mental health" gegründet. "­Tomoni" ist Japanisch und bedeutet "zusammen": Das erinnert an ihren Sohn Emil Puhl, der sich mit 16 Jahren das Leben nahm. Emil liebte Japan.

Heute arbeitet ein Team von 25 Mitarbeitenden an Angeboten, um Anzeichen psychischer Erkrankungen bei jungen Menschen früh zu erkennen. Ein wissenschaftlicher und ein pädagogischer Beirat sowie betroffene und interessierte ­Jugendliche ­unterstützen sie dabei. Davon profitieren Eltern und Menschen, die an ­ Grund- und weiterführenden Schulen arbeiten. In dem Podcast von Tomoni Mental Health "Es braucht das ganze Dorf", kommen Jugendliche mit ­Fachleuten aus Psychologie und Therapie ins Gespräch. Mehr Infos, auch zu Spendenmöglichkeiten, unter  www.tomonimentalhealth.org

Alix Puhl war auch zu Gast in der ZDF-Sendung "Die letzte Bank".

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