Marietta sitzt im Biergarten, aufrecht auf einer Bank. Es ist in Berlins Mitte, unter lauschigen Kastanien, hippe Leute um sie herum, Marietta raucht. Ihr Gesicht etwas blass, die Haare schulterlang, fahlgrüne Augen und Marietta spricht, stundenlang, klar, direkt und selbstbewusst. Keine Frage bleibt unbeantwortet, kein Gedanke unversucht. Nicht nach den unzählbaren Selbstmordversuchen, sieben, zwölf, achtzehn? Nicht nach Details, geritzt hat sie sich beispielsweise mit abgebrochenen Filzstiften, doch entzündet hat sich das nie, denn sie schmuggelte Desinfektionsmittel in die geschlossene Jugendpsychiatrie.
Nur was ihre Mutter angeht, da wird Marietta wortkarg. Die Mutter: schwierig. Möglicherweise sich selbst ein Rätsel, so wie sich Marietta eines war. Sie will ihre Mutter vor ihren Erinnerungen bewahren.
Das grüne Schillern in den Augen zeigte den Therapeutinnen: Jetzt gehts wieder los
Denn Marietta ist jetzt hier und kann nach vorn blicken. Ich will Medizin studieren, sagt sie, und Neurologin werden oder Kardiologin. Und dabei leuchten ihre Augen. Marietta macht gerade ihr Abitur nach und schreibt Einsen. Bis vor kurzem hatte sie keinen Schulabschluss und wollte auch mal Fleischerin werden. Als der potenzielle Arbeitgeber ihre Unterarme sah, Marietta versteckt sie nicht, rief er: Da weiß man ja nie, ob du dir nicht ins eigene Fleisch hackst?
So erzählt das Mariettas Betreuerin. Die hat mich rausgeholt, sagt Marietta. Sicher auch mit ihrer direkten Art, ihrem Humor und ihrem durchdringenden Blick. Sie habe, sagt Ellen Atrott, in Marietta diese selbstbewusste, starke junge Frau gesehen. Da trug sie die Haare noch kreuz und quer geschoren, die Haut verkrustet und ihre Augen konnten jenes grüne Schillern annehmen, bei dem die Therapeutinnen wussten: Jetzt geht es wieder los, jetzt kommt die Psychose.
Marietta ist jetzt 23. Sie hat ihre Jugend in der Psychiatrie verbracht. Und ihr Leben davor im Nichts. Man könnte sagen: Sie war die ersten 20 Jahre ihres Lebens weg. "Im Negativen", so sagt sie das: Alles war negativ für mich. Nichts Gutes, nichts Schönes, kein Glück, keine Geborgenheit. Negativ.
Wenn man sie fragt, ob es nicht eine Sache gab, die sie als Kind zufrieden machte, und sei es die Bettdecke, die man sich über den Kopf zieht? – Dann schüttelt Marietta den Kopf und sagt: höchstens die Höhlen. Als Kind hat sie sich Höhlen gebaut, am Nordgraben. Am Rande der Stadt, wo die Menschen wohnten, ihre Mutter, ihr Vater und ihre sechs Geschwister. Der Vater war Busfahrer, die Mutter bekam Kinder. Vielleicht, um ihre innere Leere zu überleben, sagt Marietta. Und ihre Schwester Inga glaubt das auch.
Inga ist die Älteste, Marietta die Zweitjüngste. Die beiden waren sich immer nah. Inga hat Fotos von Marietta gemacht, um ihr näher zu sein; zwischen ihnen ein Objektiv. Inga sagt: Es hätte auch jedes andere Kind in unserer Familie erwischen können. Als wäre Marietta der Blitzableiter; als hätte Inga ein schlechtes Gewissen.
Inga sitzt im Biergarten neben ihrer Schwester, sie wollen beide reden. Inga hat rote Locken und Marietta das gleiche gackernde Lachen wie ihre 15 Jahre ältere Schwester. Inga strahlt Marietta an, so froh, als wäre ihre kleine Schwester aus der Unterwelt zurückgekehrt. Und das ist sie wohl auch.
Die Stimme spricht zu ihr, sie spricht ihr zu. Sie peinigt sie nicht, ist es die Vernunft?
Marietta ist als Kind mit fünf, sechs Jahren öfter von zu Hause abgehauen, um sich mit bloßen Händen in die Erde zu graben, in den Nächten und auch im Winter. Draußen hatte sie keine Angst, aber drinnen. Kälte war sie gewohnt. Wenn der Vater abends von der Arbeit heimkehrte, hat er sie gesucht. Und in der Höhle gelassen. Selbst wenn die Polizei kam. Er war gut zu mir, sagt Marietta und lächelt, mein Schutzengel. Der Vater ein Wesen, das zwischen Außen und Innen vermitteln konnte.
Sonst gab es nur das Negative. Und das Totseinwollen. Das war von Anfang an so, sagt Marietta, und dass sie sich an kaum etwas in ihrer Kindheit erinnern könne. Die Psyche muss den Menschen mitunter vor seinem Gedächtnis schützen.
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Die große Schwester hat noch ein anderes Bild vor Augen: von einem kleinen frechen Mädchen mit blondem Strubbelhaar und strahlenden Augen, so ein Erich-Kästner-Kind, sagt Inga. Doch plötzlich, mit sechs oder sieben, war es weg.
In der Dunkelheit im Zimmer hatte ich immer Angst, sagt Marietta. So sehr, dass sie die Nacht über wach lag und sich nicht einen Fuß weit hinaustraute.
Ich wollte nicht angefasst werden, Berührungen auf der Haut, fester Druck, Umarmungen. Ich hatte, sagt Marietta heute, sensorische Schwierigkeiten.
Draußen war alles laut, die Stimmen, die Menschen, die Geräusche, der Zementmischer, das Hupen, das Rauschen, das Geschrei. Zu laut. Zu viel, alles zu viel. Du willst dir die Ohren zuhalten. Als Jugendliche setzte sie Kopfhörer auf, mit lauter Musik, die alles andere übertönen sollte.
Aushalten. Ich muss aushalten, das sagte sie sich vor.
Gesichter: Marietta hat richtig geübt, sie zu lesen, sagt Inga. Denn sie wollte erkennen können, ob ein Mensch traurig ist oder wütend. Es ist aber nicht so, dass Marietta nicht wüsste, was das ist. Es ist, als empfände und fühle sie eher zu intensiv.
Da ist eine Stimme, die spricht zu ihr, sie spricht ihr zu. Du musst jetzt dies tun oder jenes. Sie peinigt sie nicht, es sind nicht viele, ist es gar die Vernunft? Halte aus!
Sie versuchte, sich umzubringen. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Drei Jahre lang
Die Kinder in der Schule und sogar die eigenen Geschwister waren anders als ich, sagt Marietta. In der Schule hatte sie keine einzige Freundin. Sie spürte, dass die anderen sie seltsam fanden. Sie sich auch.
Der einzige Schutz: der Vater. Viel älter als die Mutter, sie ist jetzt sechzig. Er hatte es am Herzen, er musste gepflegt werden. Es ging rau zu, sagt die Betreuerin. Die Mutter hatte Aussetzer, so sehen das Inga und Marietta. Mehr wollen sie nicht sagen.
Am 5. November 2007, als Marietta 15 ist, stirbt ihr Vater. Alle sind da, zu Hause, die ganze Familie. Zu Inga sagt er, sie möge auf seine Kinder aufpassen und auf sich. Marietta sitzt neben ihrem Vater und hält seine Hand als er geht, um 18 Uhr 36.
Von diesem Moment an verliert Marietta den Halt.
Wie sich das äußert, das beschreibt ihre Betreuerin so: Es kommt dieses ständige Kichern, und Mariettas Augen verändern sich. Ihre Aura auch, sie wird hoch, hell, flirrend.
Beim ersten Mal nahm sie alle Schmerztabletten, die von ihrem Vater übrig waren. Beim zweiten Mal Paracetamol, an was anderes kam sie nicht ran. Beim dritten Mal die Pulsadern, die Badewanne rot vom Blut, dann Stricke, Gifte, Gas.
Nataly Bleuel
Inga Alice Lauenroth
Sie kam in die Jugendpsychiatrie im Klinikum Berlin-Buch. Sechs Zimmer: vier mit drei Betten und drei Schränken, zwei Kriseneinzelzimmer mit Fenster in der Tür. Beobachtet durch die "Kanzel", mit den Erziehern und Betreuerinnen darin. Weiße Wände, Krankenhauskunst, Kritzeleien, Fenster und Türen geschlossen. Marietta sagt, sie fühlte sich wie ein eingesperrtes Tier. Sie ritzte sich, um sich von den seelischen Schmerzen abzulenken. Sie versuchte, es endlich zu schaffen, sich umzubringen. Sie wusste nicht, was sie sonst tun sollte, Wochen, Monate, drei Jahre lang. Dann schnitt man sich halt die Haare. Oder zog sich mit den Zähnen die Haut ab. Und randalierte und attackierte die Menschen. Marietta schrieb Tagebuch.
3. Oktober 2009: Der Druck hat sich in meinem Gehirn ausgebreitet und jetzt habe ich eine Art Kopfschmerzen. Außerdem will ich sterben. Ich habe ein starkes Gefühl danach, ich will gar nicht mehr selbstständig leben oder Verantwortung übernehmen, ich habe Angst davor.
7. Oktober: Der Ausschlag am Hals, den ich vom Strangulieren habe, ist schon besser geworden. Ich würde es so gern noch einmal versuchen.
21. Oktober: Heute Nachmittag war meine Mutter hier. Ich saß auf dem Flur, sie stand vor mir. Hatte auch noch Tränen in den Augen und hat einen Arm nach mir ausgestreckt. Erst habe ich gezögert. Dann bin ich aber doch aufgestanden. Ich habe es für sie getan. Es könnte nämlich so sein, dass sie mich das letzte Mal lebendig gesehen beziehungsweise umarmt hat.
10. November: Ich habe niemanden, an dem ich mich festhalten kann. Der Einzige, der mir Halt gegeben hat, die Person ist tot. Ich kann mich nirgendwo mehr festhalten. Deswegen falle ich immer wieder. In ein schwarzes Loch. Ganz tief. Da ist nichts. Schwarz, ohne Ende.
Sie war in sich verloren, sagt ihre Betreuerin.
Ich wollte nicht mehr aushalten, sagt Marietta und: Ich war mir selbst egal.
Inga sagte zu ihr: Ich kann verstehen, wenn du nicht mehr willst.
Eines Tages erhielt die Therapeutin Ellen Atrott einen Anruf aus Buch: Man hätte da einen Fall – und keinen Plan mehr. Marietta würde bald 18, da müsste sie eh raus. Aber wohin? Sie glaubt: Wenn diese Frau nicht gekommen wäre, säße sie heute noch und den Rest ihres Lebens in der geschlossenen Psychiatrie.
Atrott war mal Bauarbeiterin und Klinikclown, das sagt sie, wenn man sie fragt, was ihr Beruf sei. Jetzt ist sie Therapeutin bei einer Wiedereingliederungshilfe für schwierige psychiatrische Fälle. Als sie Marietta zum ersten Mal besuchte, im Aufenthaltsraum der Jugendpsychiatrie, sagte sie, mit ihrer anpackenden Art: Wenn du dich wieder umbringen willst, sag’s mir bitte gleich, ich komme nämlich, um zu bleiben!
Die Therapeutin sieht in Marietta diese selbstbewusste, starke junge Frau. Atrott glaubte daran, dass Marietta eines Tages allein in einer betreuten Wohnung leben könnte. Selbstständig Verantwortung für sich übernehmend.
Es wird ein langer Prozess, mit stabilen Phasen und mit entsetzlichen Rückschlägen. Mit einem Freund, mit einer abgebrochenen Ausbildung zur Altenpflegerin, mit psychotischen Phasen und wiederholten Selbstmordversuchen, mit Einweisungen und den Versuchen, ins Leben zurückzukehren. Mit einem Kind, mit 18 wird Marietta schwanger. Sie lebt mit dem Vater des Kindes, der Drogen nimmt, in einer Wohnung in Köpenick. Beobachtet von ihrer Betreuerin und ihrer Schwester.
An einem frühen Morgen im September 2015 klingelt Ingas Telefon. Marietta haucht nur noch. Inga rast zu ihrer Wohnung. Den Morgen überlebt auch Inga gerade so. Die Kohlenmonoxidkonzentration in Mariettas Körper betrug mehr als 50 Prozent. Als könnte man Geister austreiben.
Marietta bekam einige Diagnosen: ein Borderlinesyndrom, eine dissoziative Persönlichkeitsstörung und zuletzt das Asperger-Syndrom. Mit der Asperger-Diagnose kann sie sich erstaunlich gut identifizieren, das intensive Empfinden, die sensorischen Schwierigkeiten, die soziale Absonderung. Diese Diagnose, sagt sie, habe ihr geholfen, sich selbst besser zu erkennen. Als schälte sich ein Ich heraus.
Und sogar die Mutter scheint sich damit anzufreunden. Asperger ist vererbbar. Manche Menschen leben damit, ohne es zu wissen, sich selbst ein Rätsel, dissoziativ.
Dissoziativ heißt, dass Wahrnehmung, Bewusstsein, Gedächtnis, Identität und Motorik auseinanderfallen. Ich bin kein Individuum. Mein Ich ist keine unteilbare Einheit, mit Grenzen, es löst sich auf.
Vor einem Jahr hat Inga Marietta auf eine Reise in die Türkei mitgenommen. Seither ist sie aufgeblüht, sagt Inga. Sie war in einem warmen Land. Und willkommen in der Familie des jungen Mannes, in den sie sich verliebt hat. Sie ist sehr verliebt. Das hilft, sagt Inga und lacht laut.
Mariettas Sohn ist jetzt fünf. Er lebt bei seiner Großmutter. Jemand musste ihn zu sich nehmen, denn Marietta wollte ihn vor sich schützen. Inga hat es versucht, doch ihr Leben geriet ins Wanken. Jetzt schaut auch eine Familienhelferin nach ihm. Und die Mutter, sagen die Schwestern und die Betreuerin, habe sich zum Positiven verändert.
Wenn Marietta weiterhin so stabil ist, will sie ihr Kind wieder zu sich nehmen. Atrott hat ihr einen Platz in einem Übergangswohnhaus in Berlin-Mitte vermittelt. Da könnte sie auch mit ihrem Sohn wohnen. Marietta ist eine gute Mutter, sagt Ellen Atrott.
Mein Sohn und ich, wir kuscheln und reden viel, sagt Marietta. Und dass sie jetzt gelernt habe, dass das helfen kann. Und dass man nicht alles aushalten muss. Vor allem, wenn es dunkel wird. Und dann, sagt sie und blinzelt in die Kronen der Kastanien, lassen wir eben das Licht an.
Wer arbeitet, wer einen Job hat, eine Ausbildung macht, gewinnt an Selbstbestimmung. Auch wenn er krank oder behindert ist. Wer arbeitet, kann sein Leben selbst gestalten. Die Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege hatte einen Fotowettbewerb ausgeschrieben, der diesen Zusammenhang sichtbar machen soll. Das Preisgeld: insgesamt 24000 Euro.
Die Jury, zu der auch der renommierte Hamburger Fotograf Peter Bialobrzeski und Drk Artes, Art-Director von chrismon, gehörten, hatte aus 284 Wettbewerbsbeiträgen auszuwählen. Inga Alice Lauenroths Bilder von ihrer Schwester Marietta gehören zu den prämierten Einreichungen. Die Bekanntgabe der Preisträger und die Preisverleihung finden am 4. September in Hamburg statt. Danach sind alle prämierten Fotos auch online hier zu sehen.
Brief an Marietta
Liebe Marietta,
der Artikel hat mich sehr bewegt. Vor allem bin ich von Deinem Mut beeindruckt, dass Du der Veröffentlichung zugestimmt hast. Ich weiß, wie verletzlich man sich macht, wenn man in der Öffentlichkeit steht.Vielen Dank dafür.
Da ich meinem Leben vor Jahren auch einmal ein Ende setzen wollte, kenn ich die Verzweiflung. Und ich kenne die Kraft, die man braucht, um trotz riesiger Probleme verantwortungsbewusst zu leben.
Ich bin der festen Überzeugung, dass jeder Mensch unendlich wertvoll ist. Du bist ein lebendes Wunder. Ich bin sicher, dass Du die Melodie Deines Lebens hören wirst. Ich wünsche Dir dabei viele helfende Personen und kreative Weisheit.
Gott segne und behüte Dich!
Christiane
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