Dr. Liselotte Mahler ist Oberärztin von Station 37
Djamilla Grossmann
Psychiatrie
Eine ­heftige Woche
Psychiatrie gilt als schlimmer Ort, überall Zwang und Wahn. Oberärztin Lieselotte Mahler will auf ihrer Station möglichst ohne Beton­spritze und Fesselung auskommen. Ob das geht? Unsere Reporterin hat beim Besuch ein engagiertes Team kennengelernt – und temperamentvolle Schizophrene
13.10.2016
23Min

Eben wirkte alles noch so normal: Oberärztin Lieselotte Mahler, 40, trägt keinen weißen Kittel, sondern eine Bluse über der Jeans; sie hat keine Spritze in der Hand, sondern ein Telefon. "Wir wollen hier so viel Normalität wie möglich", sagt die Psychiaterin und Psychotherapeutin. Also gibt es im Speiseraum nicht nur Löffel, sondern auch Messer und richtige Gläser. Wollen die Patienten ihre Ruhe, schließen sie ihre Zimmertür per Chip. Vor einem Aquarium auf dem Flur stehen Sofas. Fast wie Hotel.

Station 37 nennt sich fortschrittlich. Deshalb habe ich mir diese psychiatrische Akutstation ausgesucht. Wir befinden uns im St.-Hedwig-Krankenhaus in Berlin-Mitte (Psychiatrische Universitätsklinik der Charité im St.-Hedwig-Krankenhaus). Ich will ein paar Fragen klären: Sind Psychotiker gefährlich? Kann man mit ­Menschen, die Wahnvorstellungen haben, überhaupt reden? Und geht Psychiatrie auch ohne Zwang – ohne Fesselung und die berüchtigte "Betonspritze"? Dafür bin ich eine Woche in der Psychiatrie.

Eben war alles noch so normal. Dann stehe ich im Stationszimmer. Ich schaue rechts: Da sitzen die Mitarbeitenden beim Frühstück zusammen. Ich schaue links, durch ein Fenster in der Wand ins Nebenzimmer: Dort liegt ein Mann auf dem Bett, er ist ge­fesselt, mit Gurten um Handgelenke, Knöchel und über der Brust.

Das Bundesverfassungsgericht erhob 2011 Einspruch gegen Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie, schließlich greifen ­Fixierung und Zwangsmedikation massiv in Grundrechte ein. In der Folge wurden Gesetze geändert. Nun sind Zwangsmaß­nahmen unter strengeren Vorgaben als vorher erlaubt – als ­Ultima Ratio, als letztes Mittel. Damit hängt es von den Psychiatrie­angestellten ab, wie viele vorletzte und also mildere Mittel sie sich einfallen lassen.

"Ich werde hier vergiftet!"

Was ist passiert auf Station 37? Der Mann war unter Einfluss von Crystal Meth in den Verkehr gelaufen, nackt und verwirrt. Die Polizei brachte ihn. Und hier sprang er dann mit dem Kopf gegen die Tür seines Zimmers. Man habe ihn fixiert, erklärt Oberärztin Mahler, um ihm Blut abnehmen zu können – man wollte herausfinden, ob er "vital bedroht" war. Ja, er war ausgetrocknet, hatte tagelang nichts getrunken. Er bekam dann Flüssigkeit per Infusion, außerdem fünf Milligramm Haldol gegen den psychotischen Zustand und ein Schlafmittel. Seitdem schläft der Mann. Er soll Lehrer sein.

Es ist eine "heftige Woche", in der ich zu Besuch komme, sagt Oberärztin Mahler später, eine Ausnahmewoche. Die "meist ­offene" Station ist diese Woche eine geschlossene Psychiatrie – weil gleich mehrere Patienten überhaupt nicht rausdürfen. Zudem ist unvorhersehbar von drei Stationsärzten nur eine da, nämlich die Psychiaterin Lee, 40.

Montagmorgenvisite in ihrem Zimmer. Eine gequälte Seele nach der anderen setzt sich neben den Schreibtisch. Die Ärztin begrüßt mit Handschlag, beugt sich vor, schaut den Menschen in die Augen: Wie geht es Ihnen? Eine Frau nach Suizidversuch: "Geht so." Ein sorgenvoller Mann: "Ich werde hier vergiftet. Auf dem Essen liegen durchsichtige Sträußchen, wie Angelschnüre." Eine Patientin schimpft: "Hier ist es wie im Knast!" Sie darf heute nur 15 Minuten alleine aus dem Haus, weil man sie nach dem letzten Ausgang betrunken schlafend im Aufzug fand. Sie murrt.

Eine junge Mutter mit lieblichem Gesicht sagt: "Entschuldigung!" Sie hat die Ärztin jüngst beschimpft. Diese Woche darf sie vielleicht ihr Baby im Arm halten. "Wichtig wäre", sagt Ärztin Lee, "dass Sie Ihre Medikamente nehmen, damit Sie nicht so ­wütend werden. Das erschreckt die Pflegeeltern, und es ist ja auch jemand vom Jugendamt dabei." Und ja, natürlich darf sie raus, um in einer Kirche für ihr Kind zu beten.

Nach sechs Stunden werden die Fixierungsgurte geöffnet

Stunden später, die Stationsärztin legt den Kopf auf die ­Arme: "Ich kann nicht mehr. Ich habe Hunger. Es ist so warm." Das Fenster lässt sich nur wenige Zentimeter öffnen. Damit niemand rausspringt. Dann gibt sie der nächs­ten Patientin die Hand, beugt sich vor und fragt: "Wie geht es Ihnen?"

Ich brauche eine Pause, setze mich in den Stationsflur. Eine Schwangere in geblümtem Kleid setzt sich dazu, nimmt die Sonnenbrille ab – zwei dunkellila geschlagene Augen. Das sei ihr Vater gewesen, sagt sie. Sie ahne Dinge voraus, neulich in der Fuß­gängerzone habe sie die Passanten gewarnt: "Verdünnisiert euch, gleich gibt’s hier eine Bombendrohung." Kurz darauf sei alles gesperrt worden.

Sie schaut mir tief in die Augen: "Ich bin ein Schutzengel." Was soll ich sagen? Ich kann ja schlecht "Unsinn" in diese Augen hinein sagen. Aber Fragen geht immer: "Und wer beschützt Sie?" Sie zeigt zum Stations­zimmer: "Die hier, die beschützen mich." Wir sind dann wohl beide ein bisschen gerührt.

 "Ich habe immer gerne mit Psychotikern gearbeitet. Sie verstellen sich nicht, das können sie gar nicht." Ina Jarchov-Jádi, PflegedirektorinDjamila Grossmann

Nur wenige Meter weiter, im "Krisenzimmer", öffnen Oberärztin und Stationsärztin gerade die Gurte, nach gut sechs Stunden. Sie besprechen die Fixierung mit dem Patienten. Fixiert zu werden kann eine erschütternde, sogar traumatisierende Ohnmachtserfahrung sein. Der Mann bleibt für heute in diesem kargen Raum. Wenn er nicht so müde wäre, könnte er mit Kreide auf die Wand malen, sie ist mit grüner Tafelfarbe gestrichen.

Nachts ruft er "Heil Hitler"

Mal eben in den Raucherraum. Ein junger Mann folgt mir. Riesige Sonnenbrille, verwegenes Auftreten. Den ganzen Tag tigert er den Flur auf und ab, schüttelt jedem die Hand, bedrängt manche Patientinnen regelrecht. Ob ich zum Team gehöre? Nö, Journalistin. Er steckt die Sonnenbrille in die Hemdtasche, zeigt ein Jungsgesicht. "Woll’n Sie ’ne Story?" Es geht um die Mafia. "Was zahlen Sie?" Nix, sag ich. Wütend geht er raus.

Dafür kommt ein anderer Mann herein, mit sanften Gesichtszügen und Pferdeschwanz. Was ich hier mache? Ich guck mir die Station an, soll gut sein. Ha! Die haben nicht mal ein richtiges Schlagzeug in der Musiktherapie! Ich hab viel Energie, das passt denen nicht! Ich bin sonst nicht so, das sind die Medikamente! "Aber", frage ich dazwischen, "sind die Medikamente nicht freiwillig?" Ha! Er ahmt eine Frauenstimme nach: "Wenn Sie keine Medikamente nehmen, wissen wir nicht, ob das mit dem Ausgang klappt." Er sei Pazifist, immer habe er sich dazwischen­gestellt, ganz alleine! Er hat Tränen in den Augen.

Später erfahre ich, dass er im Einkaufszentrum Flaschen nach Passanten geworfen hat, die ihm ausländisch vorkamen. Er hatte den Eindruck, dass sie ihn komisch angucken. Nachts ruft er "Heil Hitler", so dass sein ­Zimmernachbar, ein schwer kranker polnischer Student, um Verlegung in ein anderes Zimmer bittet.

Jeder Patient darf sich eine Bezugsperson aussuchen

Was habe ich jetzt gelernt? Dass man mit Psychosekranken reden kann – sie sind keine Aliens vom anderen Stern, wenn auch ein wenig rätselhaft. Und dass die Kranken hier nicht als Zombies über die Flure wanken. Was auch mit der niedrigen Medikation zu tun hat. Jahrzehntelang wurden Menschen in psychotischen Krisen überdosiert. 40 Milligramm Haldol waren durchaus üblich, heute liegt man weit darunter. Besonders radikal aber ist man hier: Zwei Milli­gramm reichen meist, so die Erfahrung.

Im Stationszimmer verteilt Schwes­ter Annegret die Abendmedikation. Die Patienten dürfen hier das Stationszimmer betreten, jedenfalls ein Stück weit. Was heißt "dürfen"! Sie tun es einfach. Manche wogen in Aufwallung auch weit in den Raum oder schnappen sich, ohne zu fragen, das Telefon. Mal wird das kopfschüttelnd geduldet, mal werden sie sacht Richtung Tür geschoben.

Der Händeschüttler nennt die 56-jährige Pflegerin "Mama". Und ein Mann mit grauen Dreadlocks, der eben noch wütend mit den Armen fuchtelte, ist auf einmal heiter. Er will von ihr seine Vitamine, sagt aber versehentlich "Amphetamine". Sie ­kichern beide. Er isst ihr sozusagen aus der Hand, oder? "Ja, komischer­weise", sagt Schwester Annegret, "und das war von Anfang an so." Hier darf sich jeder Patient eine Bezugsperson aussuchen, zu der er Vertrauen hat.

In Metropolen laufen besonders viele Verrückte herum

Pfleger Hans, 62, kommt zurück, er hat das ganze Gelände des Krankenhauses abgesucht: Frau Quille*, die heute nur 15 Minuten Ausgang bekam, ist bereits eine Stunde weg. Das ist schlecht, sagt der Pfleger, weil sie draußen von Reizen über­flutet wird, entsprechend verwirrt ist und dann jedem hinterher­läuft, ausbeutbar.

 "Manchmal kündigt die Polizei einen 'agressiven jungen Mann' an. Und dann liefern sie ein Häufchen Elend in Handschellen ab." Hans Niermann, Pfleger auf Station 37Djamila Grossmann

Am Dienstag versuche ich, mich unsichtbar zu machen, da ­einige Patienten meine Anwesenheit "wahnhaft interpretieren", wie mir die Oberärztin berichtet. Geheimagentin, CIA, KGB . . . Menschen in einer psychotischen Krise beziehen eben alles auf sich. Gute Gelegenheit, mal die Profis im Krankenhaus auszu­fragen. Mit der Pflegedirektorin treffe ich mich im Garten zwischen den roten Backsteingebäuden des Krankenhauses.

Stimmt mein Eindruck, dass in Berlin besonders viele Verrückte rumlaufen? Ina Jarchov-Jádi, 55, denkt nach und dreht sich dabei eine Zigarette. Könnte stimmen, sagt sie, weil Menschen, die ein bisschen ungewöhnlich sind, gern in Metropolen flüchten, da fühlen sie sich nicht so beobachtet. "Plakativ gesagt: Wenn jemand mit der Mülltonne diskutiert, beunruhigt das in Berlin keinen, im Odenwald sehr wohl."

Und was muss man tun, um in Berlin von der Polizei in die Psychiatrie eingeliefert zu werden? "Nur verrückt und skurril zu sein, reicht nicht aus", sagt die Pflegedirektorin. Auch wer seine Mitmenschen schwer nervt – indem er die Auslage eines Obsthändlers komplett umsortiert oder nachts lauthals und dringlich im Treppenhaus betet –, kann nicht gegen seinen Willen in der Psychiatrie untergebracht werden. "Letztlich muss etwas vor­fallen, was gefährlich wirkt", sagt Ina Jarchov-Jádi. Jemand rennt auf die Kreuzung und "regelt" den Verkehr; oder jemand bedroht die Nachbarn, weil er glaubt, dass sie ihn durch winzige Risse in der Wand mit Viren verseuchen.

"Chronisch"? "Unheilbar"? Gibt es hier nicht

Vielleicht kann mir die Pflegedirektorin ja sagen, was ich mit dem Händeschüttler tun soll, der mir unbedingt seine "Story" verkaufen will? Die Pflegedirektorin übt mit mir "wertschätzendes" Reden: "Ich glaube Ihnen, dass Sie eine Story haben, dass Ihr ganzes Leben eine Story ist. Das ist halt nicht mein Auftrag. Dass ich Nein sage, hat also mit Ihnen gar nichts zu tun." Am Nachmittag sage ich das dem Mann genau so. Er schaut mich groß an, lässt sich meinen Auftrag genau erläutern, dann dreht er sich um und ruft über die Schulter: "Gottes Frieden sei mit Ihnen!"

Lesen Sie hier, wie Sie Erste Hilfe bei psychischen Krisen bekommen können

Aber was sagt man, wenn jemand meint, einen Teufel auf dem Rücken sitzen zu haben? Hakan, 44, der selbst lange krank war und hier nun eine halbe Stelle als Genesungsbegleiter hat, macht es vor: "Ich sehe keinen Teufel auf Ihrem Rücken. Aber ich versuche, es zu verstehen. Und ich stelle es mir schwierig vor, immer einen Teufel auf dem Rücken zu haben." Das ist beschämungsarmes Sprechen. Hakan weiß, wie wichtig es ist, sich nicht alleingelassen zu fühlen, wenn die Welt nur noch fremd und bedrohlich erscheint.

Auffällig, wie sie auf Station 37 über die Patienten und Patientinnen sprechen. Ich habe keine abfälligen Bemerkungen gehört. Man sagt nicht: "Herr X ist heute aggressiv." Sondern: "Herr X ist gerade sehr angespannt." Was aggressiv ist, sei schließlich ­Interpretationssache. Manchmal kündige die Polizei einen "aggressiven jungen Mann" an, erzählt Pfleger Hans, und dann werde ein Häufchen Elend in Handschellen abgeliefert.

Es wird hier auch niemand als "chronisch" abgestempelt oder als "unheilbar" aufgegeben. Dazu haben die Mitarbeitenden, ­sagen sie, zu oft gesehen, wie Menschen nach langjähriger Krankheit genasen oder plötzlich Angebote annahmen, die sie früher strikt abgelehnt hatten, wie sie reiften trotz der Krisen. Oder gerade durch die Krisen.

"Die Patien­ten sind so ehrlich, sie tragen ihr Herz auf der Zunge!"

Man mag die Psychosekranken. Dabei arbeiten auf ­Station 37 viele, die sich die Psychiatrie niemals als Arbeitsfeld hatten vorstellen können. Dann führte ein Praktikum sie hierher oder ein Überbrückungsjob, und sie blieben. Was bloß kann man an Psychotikern mögen?

"Viele haben eine tiefe Anarchie in sich, sie begehren ständig gegen Regeln auf, das ist mir irgendwie sympathisch", sagt die Pflegedirektorin. "Und sie verstellen sich nicht. Das können sie gar nicht." Stationsärztin Lee ist fasziniert von der Sensibilität mancher Patienten: "Die sehen sogar, wenn ich geknickt bin oder wenn eine Mitarbeiterin schwanger ist." Und die Psychotherapeutin Angelika Vandamme, 29, strahlt, als sie sagt: "Die Patien­ten sind so ehrlich, sie tragen ihr Herz auf der Zunge!"

 "Das wichtigste ist, mit Erkrankten genau so zu sprechen wie mit Gesunden. Das deeskaliert." Rainer Welsch, Stationsleiter der 37Djamila Grossmann

Vandamme bietet "Gespräche" an. Viele Kranke nutzen die, um einfach mal erzählen zu können, was sie gerade an Furchtbarem erleben. Erst nach mehreren Krisen haben sie dann vielleicht den Wunsch zu verstehen: Warum ich? Was hat das mit mir zu tun?

So wie bei der Patientin, die nach einem Suizidversuch eingeliefert wurde. Früher, in schizophrenen Phasen, war sie eine beeindruckende Wüterin. Und immer gegen Medikamente. In einer langen Therapie arbeitete sie die Beziehung zu den überstrengen Eltern auf, sie sprechen wieder miteinander. Und trotzdem ist sie jetzt, mit Anfang 30, in eine tiefe Depression gerutscht. So traurig das ist, die Psychotherapeutin erlebt die Patientin klarer denn je. Vielleicht könne man jetzt gemeinsam aufarbeiten, warum sie jeweils einen psychotischen Schub erlitten hat.

Muss man vor Psychotikern Angst haben? "Nein", sagt die ­Psychotherapeutin, "nur wenn jemand gerade in großer Panik ist, würde ich ihm nicht sehr nahe kommen." Wer sich bedroht fühlt, wehrt sich, ob er nun psychotisch ist oder gesund. "Aber meist ist viel mehr Lärm, als dann tatsächlich passiert."

Jeden Tag das Risiko abwägen: Ausgang – ja oder nein?

Auch auf Station 37 ist gerade Lärm. Frau Quille, die ges­tern nicht wie vereinbart nach 15 Minuten zurückkam, sondern erst nach drei Stunden, darf heute nur in Begleitung raus. Sie will zu einer Hochzeit, aber die Angehörigen holen sie nicht ab. Jetzt geht sie laut schimpfend über den Flur. "Ich will meine Sachen und gehen!" Plötzlich steht sie mitten im Stationszimmer, sieht Stationsärztin Lee: "Ich will die nicht als Ärztin!" Lee weicht in die hinterste Ecke, steht ganz still. Die Patientin rauscht wieder raus. Stationsleiter Rainer Welsch, 41, schreibt erst noch auf, was der Spätschichtkollege vom Chinesen möchte: "17 F, knusprige Ente." Dann geht er der Patientin langsam hinterher: "Frau Quille, ­wollen wir eine Lösung finden? Eine Lösung finden wir nur gemeinsam." Er steht vor ihrer Zimmertür. "Frau Quille, wir wollten doch noch zusammen zum Drogeriemarkt gehen."

Eigentlich ist Frau Quille gerichtlich "untergebracht". Zu ­ihrem Schutz. Aber Eingesperrtsein verstärkt die Wut. So trägt die ­Psychiatrie selbst zu aggressivem Verhalten bei. Und für das Leben nach der Psychiatrie lernt man ohne Ausgänge auch nichts. Das Team auf Station 37 wägt bei jedem Patienten jeden Tag das ­Risiko ab. Die Gerichte tragen das Konzept mit.

Rainer Welsch kommt zurück, er lässt Frau Quille Zeit. Wie ­alle hier nimmt er zweimal im Jahr an einem Deeskalations­training teil. Das Wichtigste sei, mit Erkrankten genau so zu reden wie mit Gesunden. Und nie so laut wie der Mensch, den man in der Krise antrifft. Sondern zum Beispiel so: "Ich weiß ganz wenig über Sie, und deshalb mache ich mir Sorgen."

"Er fleht uns an: 'Macht, dass die aufhören zu töten'"

Herr Mikisch, das ist der Händeschüttler, schaut ins Stations­zimmer. "Wie soll man bei dem Krach gesund werden!" Dabei sorgt er selbst für viel Unruhe. "Ach Gott, mein Lieber", sagt Schwester Annegret entsprechend, "aber ich kann Sie verstehen."

So ganz komme ich nicht mit: Die Profis hier erzählen mir, man könne mit Psychosekranken reden, man wolle keinen Zwang ausüben, die Leute nicht fixieren und auch nicht einsperren. ­Und dann tun sie es manchmal doch.

Wie das kommt, soll mir am Mittwoch Gabi Quente erklären. Die 51-Jährige ist Stationsleiterin von Station 36, der benach­barten Psychiatriestation. "Gleich", sagt sie, als ich die Station betrete, "ich muss noch bei der Krise hier mitmachen." Der alte Mann, der vor ihr steht, ist in großer Not: "Die Kinder sind im Hof! Tot! Mit abgeschlagenen Köpfen!"

Der Mann ist seit gestern da, von seiner Wohnung ging ein Brand aus, es gab Verletzte, die Angehörigen haben ihn hergebracht, sie können nicht mehr. Eine Behandlung lehnt er bisher ab. Gabi Quente schlägt ihm vor, sein Bett aus dem Zimmer rauszurollen, direkt vors Stationszimmer. Der Mann nickt. Das Bett rollt heran, er legt sich erschöpft hinein. "Er fleht uns an: ‚Macht, dass die aufhören zu töten‘", erzählt mir Quente, "vielleicht hat er schlimme Gewalt erfahren." Die Ärztin habe jetzt über Amtsarzt und Gericht Zwangsmedikation beantragt, sonst kriege man ihn aus der Krise gar nicht mehr heraus.

"Mir liefen die Tränen"

Wie Fürsorge, Vertrauen und Zwang zusammengehen, will mir die Pflegerin am Beispiel einer 18-Jährigen aus dem Sudan erzählen. Eigentlich noch ein Mädchen, findet Gabi Quente. Das Mädchen war zusammen mit dem jüngeren Bruder von den Eltern losgeschickt worden. Der Bruder ertrank im Mittelmeer. Die Eltern machten ihr Vorwürfe: Warum hast du deinen Bruder sterben lassen? Warum bist nicht du gestorben? Sie kaufte sich eine Flasche Chlorreiniger und trank daraus noch auf der Straße.

 "Nach der Fixierung ging es uns allen schlecht. Mir liefen die Tränen." Gabo Quente, Leiterin von Station 336Djamila Grossmann

Das junge Mädchen raste vor Verzweiflung, als es in die Klinik kam. Immer wieder standen Pflegerin, Arzt und Übersetzer mit der Patientin im Kreis, hielten sich an den Händen, damit sie spürt, dass sie nicht allein ist, dass sie alle ein Team sind. Quente warf mit ihr im Sportraum schwere Bälle und brüllte mit ihr. Oder mummelte sie in eine Decke, stellte Entspannungsmusik an. Alles, damit das Mädchen aus der Anspannung rausfand, damit wieder ein wenig Vertrauen wachsen konnte.

Doch in einer schlimmen Krise schlug die Patientin so mit dem Kopf gegen die Wand, dass Gabi Quente himmelangst wurde. Auch zu mehreren konnten sie die zierliche Person nicht halten. Sie haben sie ans Bett gebunden. "Danach ging es uns allen schlecht. Mir liefen die Tränen." Und das Mädchen war wütend, sprach nicht mehr mit Quente. "Ich habe sie später gefragt: ‚Was hätte ich machen sollen? Ich habe Angst gehabt!‘ Da hat sie mich umarmt."

Ein früherer Patient hat sich Dienstkleidung gemopst

Andreas Gervink, Bereichsleiter der Psychiatriepflege, hat sich zu uns gesetzt. In Bewerbungsgesprächen, sagt er, frage er auch nach der Einstellung zur Fixierung. Manche sagen: "Das ist mein Job." Besser gefällt Gervink diese Antwort: "Das ist eine Ausnahme­situation. Wenn wir wirklich alles versucht haben."

Der heute 51-Jährige hat als Pflegeschüler noch Pfleger erlebt, die den Schlüsselbund lässig aus der Hand hochwarfen und so über den Flur gingen – sie fühlten sich als das Epizentrum der Macht. Dabei, das weiß man mittlerweile im St.-Hedwig-­Krankenhaus, entweichen mehr Patienten bei geschlossener ­Stationstür als bei offener Tür. "Da betritt zum Beispiel eine ­Reinigungskraft die Station, und der Patient drängt sich blitzschnell durch die Tür." Klar, wer sich eingeschlossen fühlt, will sich befreien, eine gesunde Reaktion. Auf Station 36 ist die Tür heute offen, nur ein Patient darf nicht raus. Neben der Tür spielt eine Helferin mit den Patienten Karten.

Gervinks Handy brummt, die Rettungsstelle. Herr Mutz, ein früherer Patient, hat sich Dienstkleidung gemopst, spielt nun in der Rettungsstelle Hebamme und gibt den Leuten Anweisungen. Weil Andreas Gervink ihn noch aus seiner Zeit als Pfleger kennt, wird er angemorst, wenn Herr Mutz mal wieder "Unfug" macht. Einmal rief Herr Mutz ihn an und sagte: "Andreas, ich hab das Krankenhaus übernommen, das Sekretariat wird ausgetauscht, du kannst dich erst mal ausruhen."

Warum wird der Händeschüttler nicht in sein Zimmer gesperrt?

Zurück auf Station 37, die Frühschicht übergibt an die Spätschicht und berichtet: Der Mann mit Pferdeschwanz, der sich für einen Pazifisten hält, aber Passanten angegriffen hat, wird entlassen, das Gericht hat die Unterbringung auf Anregung von Stationsärztin Lee aufgehoben. Er hat einer Depotspritze zugestimmt, die 14 Tage wirkt, und einer auf­suchenden Betreuung.

Erstaunliches berichtet die Psychotherapeutin: Die Psychosekranken haben sich in einer Gruppensitzung beschwert, dass der Händeschüttler, Herr Mikisch, nicht fixiert werde oder wenigstens in seinem Zimmer eingesperrt. Er bedränge sie und klaue Handys. Angelika Vandamme hat der Gruppe dann "das mit den Menschenrechten" erklärt. Fixieren und Wegsperren gehe nicht so einfach, und sie sei froh, in einer Psy­chiatrie zu arbeiten, wo man das sehr ernst nehme.

Das Team diskutiert, ob man Herrn Mikisch anzeigen soll. Schließlich ­redet Oberärztin Mahler ernst mit ihm. Er gibt alle Patientenwert­sachen heraus. Ja, sagt die Ärztin, Herr Mikisch mache vielen hier Stress, aber eigentlich sei er "total liebenswert". Nur eben in seinen manischen Phasen nicht. Derzeit sei er mit dem Auftrag unterwegs, den IS zu bekämpfen und für Weltfrieden zu sorgen. Und in dieser Selbstüberhöhung habe er das Gefühl, ihm gehöre eh alles.

Abends kann die Ärztin nur noch Seichtes im TV sehen

 "Ich sage dann zu dem Patienten: 'Ich sehe keinen Teufel auf Ihrem Rücken. Aber ich stelle es mir schwierig vor, immer einen Teufel auf dem Rücken zu haben.''' Hakan, psychiatrieerfahrener GenesungsbegleiterDjamila Grossmann

Es ist Abend geworden, Stationsärztin Lee ist immer noch da. Im Treppenhaus brüllt jemand. Der Mann, der seine schwangere Tochter niedergeprügelt hat, die Frau mit den dunkellila geschlagenen Augen. Die schmale Ärztin strafft sich und geht raus ins Treppenhaus. Sofort hört der Mann auf zu schreien. Er will seine Tochter sehen – darf er nicht. Und er will selbst aufge­nommen werden – dafür muss er in die Rettungsstelle gehen. Der Mann trollt sich. "Gespräche sind das Wichtigste", sagt die Ärztin, "aber ich habe oft zu wenig Zeit für Gespräche." Lee findet ihre Arbeit so aufregend, dass sie manchmal abends im Fernsehen nur noch "Seichtes" anschauen könne.

Pfleger Hans hat endlich Zeit für ein Gespräch mit dem Mann, der am Montag fixiert worden war, Herrn Tergit. Er ist ein höflicher Mensch und charmant. Er ist Berufsschullehrer, Deutsch und Sozialkunde. Er war. Er hat die Stelle verloren. Er will ­wieder. Crystal Meth helfe ihm, nicht so viele schwere Gedanken zu haben. Über Pegida, Syrien, den Klimawandel, diesen ganzen Wahnsinn. Er redet verwaschen. Crystal Meth ist eine zer­störerische Droge.

Und die Fixierung? "Ich war schrecklich", sagt der Patient, "ich muss mich entschuldigen. Aber ich habe mit der Tasche gegen die Tür geschlagen, nicht mit dem Kopf, natürlich nicht. Ich hatte so Hunger." Hm, sagt Pfleger Hans, "ich hatte Ihnen etwas zu essen und zu trinken angeboten, Sie haben es nur angeguckt, es war, hm, etwas bizarr." Aber es sei interessant, mit ihm zu reden, gern morgen mehr, auch über Politik.

Kaum war sie Oberärztin geworden, änderte sie ziemlich viel

Ich habe heute gelernt, dass manchmal mehr Geräusch ist als tatsächliche Gefahr. Und dass Zwangsmaßnahmen eher zu verkraften sind, wenn man hinterher darüber spricht. Nur eins weiß ich immer noch nicht: Wie wird man hier gesund? Morgen ist große Visite.

Donnerstag, auf der Wochentafel im Flur steht "Oberarztvisite". Die große Runde heißt so wie in allen Kliniken. Aber sie ist anders. Weil Oberärztin Lieselotte Mahler die klassischen Visiten unerträglich fand, die sie als Assistenzärztin erlebt hat. Beispiel: Patientin kommt ins Arztzimmer, direkt aus der Isolation, mit Haldol überdosiert und entsprechend erstarrt; Oberarzt begrüßt sie nicht, sondern sagt: "Viele Hunde sind des Hasen Tod – was heißt das?" Patientin starrt weiter stumm an die Decke. Oberarzt: "Sehen Sie, Frau Mahler, das sind formale Denkstörungen." Patientin wird rausgeführt. Alles Wichtige entscheidet man ohne sie: Medikamente, Verlängerung des Aufenthalts, Ausgänge.

Nach solchen Visiten sei die Stimmung auf Station regel­mäßig eskaliert. Kein Wunder. Die Patienten hatten den durchaus ­realistischen Eindruck: "Die haben sich gegen mich ver­schworen!" Kaum war Lieselotte Mahler Oberärztin geworden, änderte sie ziemlich viel, zusammen mit Pflegedirektorin ­Jarchov-Jádi. Sie nennen es das "Weddinger Modell", weil sie vor allem die ­Menschen im Bezirk Wedding versorgen.

Er knallt die Tür zu, kommt zurück, Tränen in den Augen

Visite ist am großen Tisch im Aufenthaltsraum. Als Erste kommt Frau Yildrim herein, deren Baby gerade bei Pflegeeltern ist. Die Oberärztin stellt ihr jede Person am Tisch vor: die Stationsärztin, die Ergotherapeutin, die Sozialarbeiterin, ihren Bezugspfleger, die Psychotherapeutin . . . Stationsärztin Lee berichtet: "Diese Woche war sehr aufregend für Sie. Sie haben Ihr Baby im Arm halten können. Und nun grübeln Sie, weil Sie denken, dass es dem Baby bei der Pflegefamilie besser geht." Frau Yildrim nickt. "Aber wir sehen, dass Sie sich sehr bemühen, Ihre Gefühle unter Kontrolle zu bekommen. Wir sehen, dass es Ihnen besser geht!" Frau Yildrim: "Ich war in einer ganz anderen Welt. Gott sei Dank bin ich zurückgekommen. Ich möchte wieder nach Hause, mit meinem Baby." Die Oberärztin schaltet sich ein: Eine weitere Woche hier wäre gut, damit man sicher sein kann, dass sie stabil genug ist, es stehe zu viel auf dem Spiel. Frau Yildrim nickt heftig.

Oberärztin Mahler will eine Visite, die hilft. Zu der suizid­gefährdeten Frau, die nach langjähriger Psychose nun in abgrundtiefe Traurigkeit gefallen ist, sagt sie ermutigend: "Dass Sie bilanzieren, an der Zukunft zweifeln, in der Identitätskrise sind, das ist keine Krankheit." Sondern eine normale Reaktion. Und sie müsse keine Medikamente nehmen, wenn sie nicht möchte.

Manchmal werden sich Kranke und Team schnell einig, manchmal ringt man hart um einen Kompromiss, manchmal wird es auch laut. Herr Mikisch, der jedem im Raum zunächst fröhlich die Hand schüttelt, wird sauer, als er erfährt, dass er heute Abend nicht auf eine Geburtstagsfete darf. Die Oberärztin erklärt ­ruhig, warum nicht: Man habe mit ihm mehrfach Ausgänge probiert – dann war er schnell reizüberflutet, nahm Drogen, geriet in ­Schlägereien. Aber morgen könne er in Begleitung seiner ­Schwester raus. Mikisch knallt die Tür zu. Kommt zurück, Tränen in den Augen, sagt: Okay. Ja, er brauche Hilfe.

Die "Betonspritze" gibt es nur noch "extrem selten"

Der junge Mann, der am Montag Angelschnüre auf seinem ­Essen sah, setzt sich an den Tisch. Sofort fühle ich mich überfordert, ich bewundere das Team. "Ich werde vergiftet", sagt er, "ich höre, wie sie vor der Tür sagen, dass sie mich umbringen wollen. Irgendwer tut mir was in den Kaffee." Stationsärztin: "Der Abstrich, den wir gemacht haben, war unauffällig." Patient vorwurfsvoll: "Aber man muss doch auch mal Stuhl und Urin untersuchen! Ich glaube, mir hat jemand Crystal Meth gegeben. Wie ich aussehe!" Oberärztin: "Wir können das nicht sehen."

Jetzt haben sie sich festgefahren. Die Ärztinnen wollen auf ­seine Untersuchungswünsche nicht eingehen, wie sie mir später erzählen, das würde seinen Wahn eher noch verstärken, nach dem Motto: "Jetzt schauen die schon nach, da ist also doch was!" Aber genauso wenig kann man derzeit mit ihm darüber sprechen, dass man hinter seiner Vergiftungsangst ganz andere Bedrängnisse vermutet, vielleicht unaushaltbare Trauer, weil vor kurzem Freundin und Schwester bei einem Unfall starben. Der junge Mann will nicht über seine Seele nachdenken, er will einfach nur "schnell wieder normal werden", sagt er. Und jetzt?

Eine Stimme vom anderen Rand des Tisches rettet das ­Gespräch. Ergotherapeutin Kathrin Bücke, 42, erinnert den Patienten daran, dass er es gestern an der Kletterwand als Einziger von drei Männern bis ganz nach oben geschafft habe. Der Patient lächelt plötzlich. "Mit handfestem Sport werde ich normal!" Die Oberärztin verspricht, nach noch mehr "Handfestem" zu schauen.

Jede Stimme zählt in dieser Visite. Die Hierarchie ist flach. Die Oberärztin hat Entscheidungsmacht abgegeben, auch Deutungsmacht, auch an die Kranken. Das kostet nichts und nützt doch viel, wie gerade eine erste Auswertung des "Weddinger Modells" ergab: Die Therapien helfen besser, weil sie passgenau sind. Weil man näher an den Patienten dran sei, müsse man nur noch halb so oft fixieren wie früher, sagt Lieselotte Mahler, und sowieso viel kürzer als in vielen anderen Psychiatrien.

Und was ist nun mit der "Betonspritze", über die sich Psy­chiatrieerfahrene in Foren austauschen? Das Medikament heißt eigentlich Ciatyl-Z, sagt die Oberärztin, es hemme für drei Tage die Motorik, wirke aber "kaum therapeutisch", denn Wahn und Angst tobten im Inneren des Menschen weiter, ohne dass er die Qual körperlich ausdrücken kann. Sie gebe das Medikament nur noch "extrem selten", etwa wenn sie eine tagelange Fixierung vermeiden wolle. Oder weil Patienten danach verlangen: "Ich brauch jetzt die Ciatyl-Spritze, sonst wird es gleich ganz, ganz schlimm."

Symptomfrei – aber alles andere liegt in Asche

Geht Psychiatrie nicht auch ganz ohne Zwang? "Das würden wir uns alle wünschen", sagt Oberärztin Mahler. "Es geht mit deutlich weniger Zwang als in vielen Psychiatrien üblich, aber nicht ganz ohne – wenn man sich auch verantwortlich fühlt für Menschen in absoluten Ausnahmesituationen, die sich selbst oder andere gefährden."

 "Die Patienten sind so ehrlich! Sie tragen ihr Herz auf der Zunge." Angelika Vandamme, Psychotherapeutin auf Station 37Djamila Grossmann

Nicht seltener geworden sind Zwangsmaßnahmen, wenn ein Patient von der Polizei gebracht wird. Da habe es vorher schon zu viel Eskalation gegeben, sagt Mahler, da könne ihr Konzept noch gar nicht greifen: dass man eine Beziehung aufbaut. Was mit drei Pflegenden in der Frühschicht und zwei in der Spätschicht knapp gelinge. Gut, dass man ein attraktives Krankenhaus sei und also Pflegeschülerinnen und Psychologiestudierende anziehe. Die zum Beispiel jemanden auf einem Ausgang begleiten können.

Erstaunlicherweise brauchen sie jetzt nur noch halb so viele Medikamente. Ohnehin wirken Neuroleptika bei einem Drittel der Patienten gar nicht, wie Studien zeigen. Bei den anderen beseitigen sie ganz oder teilweise die Symptome – Stimmen­hören und Verfolgungswahn etwa.

Aber vielen Patienten erscheint die Welt dann grau in grau, sie können ihr eigenes Leben nicht mehr erleben. Oder sie sind durch die Medikamente fettleibig geworden, dabei gerade 20 Jahre alt, sie möchten sich verlieben, wie alle. Dann ist man zwar symptomfrei, aber alles andere liegt in Asche. Symp­tomfreiheit ist keine Garantie für ­Lebenszufriedenheit.

Die Station ist wie verwandelt, so ruhig

Und wann ist man mit dem Leben zufrieden? Wenn man einen Wohnraum hat, wo man sich sicher fühlt, sagt Lieselotte Mahler, wenn man in Kontakt mit anderen Menschen ist und irgendwie gebraucht wird, "das ist doch für uns alle Lebensqualität". Deswegen halten die Patienten und Patientinnen oft ganz andere Hilfen für wertvoll als die Medikamente: dass die Sozialarbeiterin mit ihrer Hartnäckigkeit ihnen eine Wohnung organisiert; oder dass die Ergotherapeutin mit ihnen einen Kuchen backt, für den sie dann von den Mitpatienten Anerkennung bekommen.

Freitagmorgen, die Tür zu Station 37 ist zum ersten Mal in dieser Woche auf. Die Station ist wie verwandelt, so ruhig. In den Ergotherapieraum tröpfeln nach und nach neun Kranke, alsbald sitzen sie versunken um den Tisch. Wer etwas Einfaches machen möchte, bekommt von Kathrin Bücke Mandalas zum Ausmalen. Ein schwer kranker Mann entscheidet sich für einen Engel. Frau Yildrim, die ihr Baby nur dann wiederbekommt, wenn sie ihre Emotionen im Zaum hält, verändert ihr Bild von letzter Woche: In die Ecke all des frohen gelb-orangen Gewoges malt sie einen Elefanten, dann setzt sie ihm ein schwarzes Gitter vor den Rüssel.

Die suizidgefährdete Patientin, die nach langen Jahren der Psychose ihr Leben bilanziert und darüber todtraurig ge­worden ist, bittet um einen Zirkel. Sorgsam zeichnet sie Kreise, in ­einen schreibt sie nach langem Nachdenken ein Fragezeichen. Da ­sortiert jemand sein Leben.

Ich halte die Luft an: Der Mann mit den grauen Dreadlocks, der gern mal an Türen donnert und schreit, dass er sich hier von niemandem was sagen lasse, schlappt im Bademantel herein. Er setzt sich vor den PC der Therapeutin und öffnet ein Malprogramm. Nur noch konzentriertes Schnaufen ist von ihm zu hören. So ­haben sie ihn schon manches Mal aus einem Tobsuchtsanfall geholt. Ergotherapeutin Bücke öffnete ihre Schatzkammer und gab ihm Material. Eine Fixierung als "letztes Mittel" war nicht nötig.

Freitagnachmittag, Übergabe an die Spätschicht, das Team diskutiert über Herrn Mikisch, den Händeschüttler und Handyentwender: Er ist plötzlich so ruhig, bestimmt hat er sich wieder Drogen besorgt! Er hat auch so rote Augen! Wenn die Urinanalyse positiv ist, kann er nicht raus! Nur ein Pfleger wendet ein, dass ja vielleicht auch die Manie weg sein könnte. Da fischt Stations­ärztin Lee die eben eingestellte Urinanalyse aus dem Computersys­tem und liest vor: "Cannabis negativ, Kokain negativ. – Dann ist seine Manie weg!" Die Runde prustet los, wie befreit.

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Diese Reportage habe ich mit großem Interesse gelesen, sie bringt die Situation in der Klinik sehr anschaulich nah. Ein starker Kontrast zu einem kürzlichen Besuch im Bremer Psychiatrie-Museum, den ich als sehr schockierend empfand.

Ich habe sehr große Hochachtung vor dem, was die Ärzte und PflegerInnen dort jeden Tag leisten, nicht nur physisch, sondern auch psychisch. Bedrückend finde ich den Hinweis, dass in der Frühschicht nur drei, in der Spätschicht sogar nur zwei Pflegekräfte im Dienst sind. Gerade weil der Artikel aufzeigt, wie hilfreich es ist, wenn die Mitarbeitenden sich Zeit für Gespräche nehmen, aufmerksam Entwicklungen einzelner Patienten wahrnehmen, auf sie eingehen... ist mir unverständlich, warum nicht mehr Personal eingesetzt wird! Einen ausdrücklichen Dank an Frau Holch für diesen hautnahen Bericht, aber ganz besonders auch Dank und Hochachtung an alle Mitarbeiter der beiden vorgestellten Stationen.
Cornelia W.

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Liebe Frau Holch,

gerade habe ich Ihren Artikel in der aktuellen Chrismon über die Station 37 der Psychatrischen Klinik in Berlin gelesen. Da überkam es mich und ich möchte Ihnen Danke sagen! Danke für diese wunderbare Darstellung, für die einerseits witzige, unterhaltsame, andererseits ehrliche und gefühlvolle Beschreibung der Patienten und Ihrer Erfahrungen in dieser Woche. Selten hat mich ein Artikel so gefesselt und selten habe ich so laut gelacht, aber nicht über die Patienten sondern mit Ihnen, weil Sie es so wunderbar geschrieben haben!

Und auch wenn ich mit diesem Thema privat und beruflich bisher kaum in Berührung gekommen bin, hat mich Ihr Bericht sehr berührt. Ich finde es gut zu wissen, dass es Ärzte, Pfleger und Therapeuten wie die in der Berliner Klinik gibt, die jeden Menschen respektieren und Menschlichkeit leben (so sollte es ja eigentlich überall sein) und, dass darüber informiert wird! Ich habe größten Respekt vor der Arbeit der Menschen dort.

Vielen Dank für Ihren tollen, emotionalen und sehr lesenswerten Bericht!

Herzliche Grüße,

Christine Röhling.

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Sehr geehrte Damen und Herren,

im Folgenden möchte ich mich auf die Reportage „Eine heftige Woche“ von Christine Holch beziehen:

Christine Holch erhielt für ein paar Tage einen – interessant zu lesenden – Einblick in eine psychiatrische Station, indem sie sich dort mit Patient_innen und Mitarbeiter_innen unterhalten durfte. Allerdings befremden mich einige Fragen in ihrem Text: „Sind Psychotiker gefährlich? Kann man mit Menschen, die Wahnvorstellungen haben, überhaupt reden?“. Eine Seite weiter folgt: „Was habe ich jetzt gelernt? Dass man mit Psychosekranken reden kann – sie sind keine Aliens vom anderen Stern, wenn auch ein wenig rätselhaft“. Zwei Seiten weiter ist die Frage zu lesen: „Was bloß kann man an Psychotikern mögen?“.

Solche Fragen – auch wenn sie rhetorisch gemeint sein sollten – erscheinen mir unpassend, da sie das Bild des „gefährlichen Irren“ eher aufrechterhalten statt es zu dekonstruieren. Hier wäre m.E. ein konsequenter Verzicht auf solch subtile Fragestellungen vonnöten gewesen – nicht zuletzt deswegen, um sich für das Feingefühl angemessen zu bedanken, das ihr von hochbelasteten Patient_innen und engagierten Mitarbeiter_innen entgegengebracht wurde; denn was sollen diese und evtl. auch von ähnlichen Krisen betroffene Leser_innen wohl denken und fühlen bei solchen (leider klischeehaft das angeblich ‚Fremdartige‘ beschwörende) Fragestellungen?

Herzliche Grüße
Kristina Kraft, Bremen

 

Antwort auf von Leserbrief

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Sehr geehrte Frau Kraft,
danke für Ihre kritische Auseinandersetzung mit meiner Geschichte. Sie schreiben, Sie seien befremdet angesichts meiner Fragen, etwa der, ob "Psychotiker" gefährlich sind, was man an ihnen womöglich mögen, ob man sich mit ihnen unterhalten kann etc. Dass ich solche Fragen stelle, hat schlichtweg den Grund, dass die meisten Leute es für gesetzt halten, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen, zumal mit Schizophrenien, gefährlich sind und dass man sie weder verstehen, noch sich mit ihnen unterhalten kann. An diesem Punkt setze ich an. Dann entwickelt sich der Text, und jede/r LeserIn hat die Möglichkeit, über bisherige Annahmen hinauszukommen. Dass Sie solche Annahmen und Fragen gar nicht haben, zeichnet Sie aus. Aber ich denke, dass Sie damit eine gewisse Ausnahmefrau sind, oder nicht?
Herzliche Grüße
Christine Holch

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Sehr geehrte Damen und Herren von der Chrismon-Redaktion!

Seit vielen Jahren lese ich immer wieder Ihre Zeitschrift, heute bin ich zum ersten Mal richtig erschrocken.

Der Titel „Irre sind menschlich“ ist zwar ein nettes Wortspiel, aber er ist gleichzeitig alles andere als wertschätzend und widerspricht damit dem Inhalt des Artikels – der mir sehr gut gefällt - grundlegend.

Seit langer Zeit spricht man nicht mehr von Irren, sondern von Menschen mit psychischer Erkrankung. Damit ist gleichzeitig auch ausgesagt, dass diese Menschen sehr wohl menschlich sind, und dass sie mehr sind als ihre psychische Erkrankung. (Analog sprechen wir längst nicht mehr von Idioten - was ja irgendwann in den 50ern mal medizinische Terminologie war - , sondern von Menschen mit geistiger Behinderung.)

Ich freue mich über solche Artikel und noch mehr, wenn auch die Titel entsprechend passend formuliert sind. Reißerische Aussagen sind unter Ihrem Niveau!

Mit herzlichem Gruß,

Gabi Weiss, Freiburg

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Der reißerische Titel "Irre sind menschlich" ist offenbar als Wortspiel gedacht, aber leider völlig misslungen, denn er ruft (nicht nur) bei Betroffenen Empörung hervor. Zurecht möchte heute niemand mehr öffentlich als Irrer bezeichnet werden, auch nicht im Scherz. Zudem steht der Titel im krassen Gegensatz zum Inhalt des Artikels, der einfühlsam und treffend den Alltag auf einer vorbildlichen Station beschreibt. Dass die Autorin zwischendrin bewusst die Rolle eines unwissenden Lesers einnimmt und Fragen stellt wie "Muss man vor Psychotikern Angst haben?", finden wir hilfreich, denn genau solche Fragen sind es, die wir als Menschen, die seit Jahrzehnten im Bereich Psychiatrie arbeiten, des öfteren gestellt bekommen.
Rosa Geislinger und Rudolf Winzen, Mitarbeiter der unabhängigen Beschwerde- und Beratungsstelle KOMPASS, München.

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Liebes Redaktionsteam, liebe Frau Christine Holch,

Beeindruckend. Bewegend. Betroffen.

So lässt sich am besten zusammenfassen, was ich beim Lesen der Reportage über die Psychiatrie-Station 37 der Charité in Berlin empfunden habe.

Wie mutig ist es vom ganzen Team der Station, endlich neue Wege zu gehen, weg von Fixierung und hoher Medikation, hin zu Deeskalation, Gespräch, Wertschätzung und möglicher „Normalität“.

Wie gut kann ich nachvollziehen, dass Frau Holch nach dieser Woche nicht mehr smalltalken wollte und konnte. So eine Reportage rückt einiges ins rechte Licht und macht aufmerksam auf Dinge, die wirklich wichtig sind.

Freundliche Grüße

Andrea M. Hesse

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Sehr geehrte Damen und Herren,

mit Entsetzen sehe ich das Titelblatt des Novemberheftes von chrismon:

Das anscheinend witzig !!! gemeinte Wortspiel stellt einen unentschuldbaren Rückfall in frühere Sprach-und Denkmuster dar und wird von Betroffenen als kränkend empfunden. Es ist absolut unmöglich, im Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen in irgendeiner Weise die Begriffe "irr", "Irrer" etc. zu verwenden bzw. solchen  Assoziationen Vorschub zu leisten.

Psychisch kranke Menschen sind, wie jeder andere, Kranke, ggfs.Patienten, und als solche zu bezeichnen.

Seit Jahren kämpfen wir gegen die Stigmatisierung psychisch erkrankter Menschen. Mit Ihrer Titelüberschrift aber bauen sie wieder an der verhängnisvollen Hemmschwelle, die vielerorts Betroffene und Angehörige davon abhält, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Der Artikel im Heft hat diesen reißerischen Aufmacher nicht verdient!

Mit freundlichen Grüßen,

Gerlinde Glänzer, Marburg  

Antwort auf von Leserbrief

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Sehr geehrte Frau Glänzer,

Sie befürchten, dass mit der Titelzeile erneut die Stigmatisierung von Menschen mit psychischen Erkrankungen befördert wird. Das hoffe ich natürlich nicht, dass das eintritt! Es ist halt so, dass ein Titel auch allerlei vom Thema gänzlich unbeleckte Menschen zum Lesen verführen soll. Dafür ist nur eine Sekunde Zeit. Mit etwas Provozierendem wie dem Begriff "Irre" weckt man deutlich mehr Interesse als mit dem Ausdruck "von psychischen Krankheiten Betroffene". So funktionieren wir Menschen halt. Ok, Sie nicht, Sie sind aber auch mit dem Thema vertraut.Es folgt ja dann im Innenteil des Heftes ein differenzierterer Text. Aber Sie haben natürlich Recht: Ob diese Überschrift so richtig gut gelungen ist, dazu gibt es auch in der Redaktion unterschiedliche Meinungen.

Herzliche Grüße
Christine Holch/Redaktion chrismon

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Der Titel hat mich verletzt und empört. Dass Sie ihn rechtfertigen mit dem Hinweis auf den Blickfang finde ich nicht in Ordnung. Was ist wichtiger, Betroffene und Angehörige zu diffamieren und zu verletzen oder ein Heft zu verkaufen? Alternativtitel wären Ihnen bestimmt eingefallen.

Hallo Frau Kabisch,

das tut mir leid, dass Sie sich durch die chrismon-Aufmachung verletzt fühlen.

Übrigens: Die Beilage chrismon wird nicht verkauft, das Heft liegt Zeitungen wie FAZ, Süddeutsche, Zeit kostenlos für die LeserInnen bei. Wir wollen auch nicht Blicke fangen ohne Sinn, sondern wir wollen Menschen für ein Thema interessieren. Hier dafür, wie man eine gute oder jedenfalls bessere Psychiatrie machen kann.

Viele Grüße,
C. Holch

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Liebe Chrismon-Redaktion,
„Irre sind menschlich.“ Menschen sind sie freilich nicht, so weit möchte man dann doch nicht gehen. Aber immerhin, sie haben menschliche Züge. Bei genauem Hinsehen kann man erahnen, dass die da doch entfernte Ähnlichkeit haben mit uns, den Normalen. Und Sie haben ganz genau hingesehen. Eine ganze Woche lang haben Sie sich auf eine Vorzeige-Station gewagt und dort mit Menschen gesprochen. Sogar mit den Patienten. Wie mutig von Ihnen. Und jetzt? Was wollen Sie damit sagen?
Es ist gibt Psychiatrie-Erfahrene, die im Nachhinein Einsicht in ausgeübte Zwangsmaßnahmen zeigen. – Alles halb so schlimm also, und über andere Fälle, über Rahmenbedingungen, über die Gesetzeslage, über die Folgen, auch für Angehörige, sprechen wir besser nicht? Es ist möglich, mit Psychiatrie-Patienten freundlich umzugehen. – Wer hätte das gedacht? Und dann soll es sogar Menschen geben, die in der Psychiatrie arbeiten und das Beste für die Patienten wollen. – Welch unerwartete Neuerung?! Und überhaupt: Wenn es eine Station gibt, die weniger düster wirkt, als erwartet, brauchen wir weder über andere heutige Stationen noch über grundlegende Strukturen weiter nachzudenken?
Es ist mein Ernst, ich verstehe es nicht. Bitte erklären Sie es mir. Und dann ist da noch etwas, das ich gerne verstehen möchte. Nach Foucault, nach Goffman, nach „Ich hab dir nie einen Rosengarten versprochen“ und nach „Irren ist menschlich“ – Sie sehen den Unterschied? – sind es immer noch die alten Gleichsetzungen (Psychiatrie-Patienten = Psychotiker = Irre!) und die alten Gegenüberstellungen (arme Irre / freundliche Behandler). Wie kann das sein?
Als ich Ihren Titel gesehen habe, musste ich erst einmal zwei Tage lang meinen Mut zusammennehmen, um den Artikel überhaupt noch zu lesen. Was Sie gut auf den Punkt bringen: „Symptomfreiheit ist keine Garantie für Lebenszufriedenheit.“ (S. 24) Aber wer hat das letzte Wort, wenn es gilt, hierüber abzuwägen? Darüber schreiben Sie nichts. Und ein öffentliches Bewusstsein darüber wäre dringend notwendig!
Was ich mir von Ihnen wünsche: Nehmen Sie bitte Stellung zu meinen Fragen. Bringen Sie am besten eine Gegendarstellung, in der sie nicht nur eine einzige Station und deren Nachbar-Station beschreiben. Lassen Sie bitte auch Angehörige zu Wort kommen. Und vor allem, geben Sie das Titelblatt, das erste und das letzte Wort des Artikels nicht denen, die ohnehin die Deutungshoheit haben, sondern denen, die sonst kaum zu Wort kommen. Von ‚dem evangelischen Magazin‘ hätte ich das erwartet.

Sehr geehrte Frau Kabisch,

erst einmal Danke, dass Sie sich mit unserem Magazin auseinandersetzen, kritisch auseinandersetzen. Ob die Titelzeile wirklich glücklich gewählt ist, darüber kann man diskutieren, das tun wir auch. Wobei eine Titelseite durchaus ein Vorurteil aufgreifen kann, das ist eine Strategie, um Menschen für ein Thema überhaupt zu interessieren. Und daran lag uns: dass sich möglichst viele mit dem Thema Psychiatrie beschäftigen. Das ist ja nicht das Lieblingsthema der meisten Leute, oder?

Zu Ihrer Frage, warum ich nicht auch eine schlechte (mit viel Zwang arbeitende) Station besucht habe: Bei dem beschränkten Platz, den wir in unserem kleinen Heft haben, hielt ich das nicht für zielführend. Ich fand und finde es sinnvoller, zu zeigen, dass man auch auf einer normal ausgestatteten, also sehr spärlich mit Personal ausgestatteten, Station einiges besser machen kann. Und genau das versucht das "Weddinger Modell". Aus diversen Rückmeldungen an mich über eigene Erfahrungen mit Psychiatrien (selbst oder Angehörige) habe ich erfahren, dass LeserInnen das auch genau so verstanden haben: Die Behandlung auf einer psychiatrischen Station ließe sich relativ leicht sehr viel menschenfreundlicher und gesundungsfördernder gestalten.

Man erfährt in der Reportage ja auch durchaus davon, wie es andernorts zugeht: durch die Abgrenzungen, die die Oberärztin zieht. Es sind nur Details, aber sie sind schockierend, und sie zeigen sehr deutlich, wie die Lage vielerorts ist.

Die Debatte um die Urteile der höchsten Gerichte, um die nachfolgenden Gesetzesänderungen auf Bundes- und Länderebene sind mir selbstverständlich bekannt. Ich halte die aktuelle Gesetzeslage nicht für der Weisheit letzten Schluss, hoffe da auf klarstellende, korrigierende Rechtsprechung. Das können Sie aber nicht in einem Magazin mit 1,3 Mio. LeserInnen ausbreiten, da steigen die allermeisten vorzeitig aus dem Text aus, und damit wäre der Sache - einer menschenwürdigen Psychiatrie - nun auch nicht gedient. Interessant fand ich übrigens beim Lesen der Artikel und Stellungnahmen von 2011-2013, dass es auch Angehörigen-Stellungnahmen gab, die sich für die Möglichkeit von Zwangsbehandlungen und Einweisungen ausgesprochen haben.

Die Angehörigen kommen in der Reportage (die sich ja auf einen Ort beschränken muss) aus zweierlei Gründen nicht vor: Ein paar wenige Angehörige habe ich vor Ort gesehen, aber aus Gründen des Datenschutzes konnte ich vieles nicht erzählen; und: Viele PatientInnen hatten BetreuerInnen, interessierte Angehörige gab es nicht. Bitte verstehen Sie: Als Journalistin, die zu Gast auf einer psychiatrischen Station ist, kann ich nicht einfach so Menschen ansprechen. Es ist schließlich ein Krankenhaus, die PatientInnen und ihre Angehörigen sind in einer Krise, da will man nicht auch noch von einer Journalistin ausgefragt werden. Aus Respekt vor den PatientInnen musste ich mich dezent und rücksichtsvoll verhalten. Das sehen Sie sicher genauso.

Für das Hilfedossier auf unserer Homepage habe ich selbstverständlich auch mit dem Vorstand des Psychiatrieerfahrenenverbandes gesprochen, außerdem mehrfach auf den Angehörigen-Verband hingewiesen und seine hilfreichen Infoschriften. Den Text finden Sie hier: http://chrismon.evangelisch.de/psychiatrie

Nun hoffe ich, dass ich Ihnen damit wenigstens einige Ihrer Fragen beantworten konnte.

Mit freundlichen Grüßen
Christine Holch
Chefreporterin
Redaktion chrismon

Antwort auf von Christine Holch

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Sehr geehrte Frau Holch,
vielen Dank für Ihre schnelle und ausführliche Antwort! Das weiß ich sehr zu schätzen.
Ich musste erst einmal einige Tage darüber nachdenken. Denn ich möchte nicht nur kritisieren, wenn schon jemand dieses Thema aufgreift. Ich gebe Ihnen recht, man kann nicht in einem Beitrag alles zur Sprache bringen.
Übrigens glaube ich auch nicht an die Möglichkeit einfacher Lösungen und Schwarzweiß-Antworten beim Thema Zwang. Was mich schockiert: Wie in Fachbeiträgen und in persönlichen Gesprächen Argumentationen vorgetragen werden, die ethisch wie wissenschaftstheoretisch unhaltbar sind, ohne ein Problembewusstsein. Und bei einem Hinweis darauf wird so oft das Gespräch abgebrochen mit dem Hinweis, man wolle ja nur das Beste für die Patienten - was ich grundsätzlich gar nicht bezweifeln möchte. Mir scheint, dass Ihr Beitrag auch noch zu wenig erahnen lässt, dass Zwang im Rahmen eines Systems geschieht, in dem die Behandler am längeren Hebel sitzen. Selbst bei Verstößen gegen geltendes Recht haben betroffene und Angehörige kaum eine Chance, sich zu wehren. Soweit ich sehen kann, gibt es in der Psychiatrie keinen Schutz vor Machtmissbrauch. Und ich finde es nicht hilfreich, das auszusparen.

Was ich noch einmal sagen möchte, bitte nehmen Sie auch in der nächsten gedruckten Ausgabe Stellung zu dem Titel. Angemessen wäre meiner Meinung nach eine Entschuldigung auf der Titelseite!!
Eine solche Herabsetzung ist weder zweckdienlich noch wäre sie durch irgendeinen Zweck zu rechtfertigen. Sie drucken ja auch keine rassistischen Beleidigungen, um für ein friedliches Miteinander zu werben. Und Sie würden wohl auch nicht betonen, dass ältere Menschen noch menschlich sind. Und dass es - meistens - möglich ist, diesen Menschen freundlich zu begegnen. Nochmal danke für Ihre Antwort!

Antwort auf von Susann (nicht registriert)

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Als Grufti habe ich anderes im Sinn, als laut nach der Sprachpolizei zu rufen oder Entschuldigung zu fordern, wenn jemand so etwas sagt oder schreibt. Es ist mir im Gegenteil peinlich, wenn ich merke, dass sich die lieben Zeitgenossen vor lauter Sprachvorschriften nicht mehr trauen, normales umgangssprachliches oder flapsiges Deutsch zu reden, sondern von Best-Agern, Betagten oder Senioren zu faseln anfangen. Dadurch werde ich keinen Tag jünger, bekomme keinen Euro mehr Rente, die Altersheime werden auch nicht kuschliger und die körperlichen und sonstigen Verschleißerscheinungen verlangsamen sich auch nicht. Die immense Aufregung über die Formulierung "Irre sind menschlich" trägt auf jeden Fall nicht dazu bei, verbreiteten irrtümlichen Vorstellungen über das, was bei den sogenannten psychischen oder seelischen Erkrangungen vorliegt, beizukommen.
Eberhard Ruhsam

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Sehr geehrte Damen und Herren,

Das Chrismon-Heft vom November ist ganz große Klasse. Der Bericht über die Psychiatrie-Station, über die junge Mutter, die kaufsüchtig war und sich gefangen hat, über die  ersten Wohngruppen für verwaiste Kinder von Eva von Thiele-Winckler und das Interview mit Senta Berger, den Brief von Eckhart von Hirschhausen an Martin Luther, die Betrachtung, welcher Ethik Christen folgen – all das war einfach genau mein Geschmack. Die Geschichten  machen Mut und Hoffnung, geben zum Nachdenken und sind voller Humor, ohne oberflächlich zu sein. Richtig gut.

 

Freundliche Grüße

Karen Lill

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Im Artikel  „Eine heftige Woche“ werden Psychiatriepatienten als „Irre“ bezeichnet und gezeichnet. Ich sehe sie als Menschen, die in Lebenskrisen für sich Sorge tragen, indem sie sich Hilfe organisiert haben. Im Zusatzfeature auf Ihrer Homepage erwähnen und zitieren Sie einseitig extreme Psychiatriegegner. Schade!

Stationäre Behandlung ist aufgrund ihrer Intensität viel effektiver als langjährige ambulante Psychotherapie. Wegen des negativen Images trauen sich Menschen leider erst bei sehr großem Leid oder gar nicht in eine stationäre Behandlung.

In der Umgebung des St.-Hedwig-Krankenhauses trifft man regelmäßig auf verwirrte Psychiatriepatienten, die von Anwohnern den Weg zurück gezeigt bekommen. Ich betrachte das Absperren von Türen nicht als Zwang, sondern als Sicherheit für die Patienten, die sich als Schutzsuchende in die Verantwortung des psychiatrischen Personals begeben haben.

Katrin Prost,

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Sehr geehrte Redaktion,

der sensibel geschriebene Beitrag von Christine Holch "Irre sind menschlich" wird durch den unsensiblen Titel krass entwertet, wer auch immer den verbrochen hat. Natürlich ist der an den Spruch "irren ist menschlich" angelehnt, der selbst viel besser ist. Die Bekräftigung "Irre sind menschlich" impliziert, dass Menschen mit psychischer Erkrankung für inhuman gelten und man deshalb ihre Menschlichkeit betonen muss. Zudem identifiziert das abschätzige Substantiv "Irrer" den von Krankheit Betroffenen mit seiner Störung und wirkt somit doppelt diskriminierend.

So kann sich ein informativ-einfühlsamer Beitrag selbst ein Bein stellen. Sch...ade!

Diplom-Psychologe Peter Lechler,

Psychotherapeut und langjähriger Leiter psychiatrischer Einrichtungen in Mannheim a.D.

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Hallo und guten Tag,

der Artikel war sehr lehrreich und gut erzählt.

Die Journalistin war auch bei therapeutischen Gesprächen dabei. In dieser Situation gibt es immer mindestens ein Abhängigkeitsverhältnis, sodass auch ein mögliches Einverständnis fragwürdig ist.

Wie wurde das Problem gelöst?

MfG

A. Weiss

Sehr geehrte Frau Weiß,
 
über den Schutz der Daten und der Persönlichkeitsrechte der PatientInnen habe ich lange und immer wieder mit der leitenden Oberärztin nachgedacht. Auf der Station habe ich von mir aus niemanden angesprochen, wurde aber angesprochen und habe mich dann jeweils als Journalistin vorgestellt, wie Sie auch dem Text entnehmen können (Situation Raucherzimmer z.B.). Ich war bei der Visite der Stationsärztin und der Oberärztin dabei, das waren jeweils große Runden, ich wurde vorgestellt, die PatientInnen hätten mich explizit rausschicken können (was in der Situation natürlich, das sehen Sie sehr richtg, kaum jemand schafft); ich habe mich aber auch jeweils selbst vorgestellt und dazugesagt, dass ich mir die Arbeit der Profis hier anschaue und dass ich keinerlei Namen und Details von PatientInnen nenne. So habe ich es dann auch im Text gehalten. Die PatientInnen sind umfassend verändert. Am Ende haben dann die Oberärztin und die Justiziarin nochmal die Anonymisierung gecheckt. Mehr hätten wir nicht tun können. Sonst hätte ich gar nicht von solch einer psychiatrischen Station erzählen können. Angehörige, die zu Besuch kamen, habe ich übrigens aus Prinzip nicht angesprochen – was mir allerdings von einigen LeserInnen hinterher vorgeworfen wurde.
Mit freundlichen Grüßen
Christine Holch
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SEHR GEEHRTE FRAU HOLCH,
habe mit großem Interesse ihren Artikel gelesen, leider nicht in der Zeitung, so ist mir auch die viel kritisierte Überschrift nicht aufgefallen, sondern habe mich auf den Inhalt des Artikels konzentriert.
Enttäuscht bin ich darüber, dass Angehörige kein Interesse von sich aus bekundeten.Könnte der Grund dafür sein, dass Angehörige von Unsicherheit und Angst geplagt sind, ihre gesellschaftliche Stellung zu verlieren, wenn sie sich mit einem psychisch Erkrankten outen?
D.h. das Stigma läßt grüßen, um es flapsig auszudrücken. Fehlendes Selbstwertgefühl und Angst vor der Öffentlichkeit, die Angehörige gerne mit schuldig macht an einer Erkrankung,die nicht auf Verschulden basiert, sind die Ursache, dass immer noch zu Wenigen der Mut fehlt offensiv einzuschreiten. Dabei würde es der Seelischen Gesundheit von Betroffenen wie Angehörigen enorm nutzen.
Das ist sicher ein Thema, dass auch Wert wäre ins Gespräch zu kommen, vielleicht mit der Überschrift: "Auch Angehörige haben eine Seele"
64 Jahre, Mutter einer seit 20 Jahren an Schizophrenie erkrankten 40 Jährigen Tochter.(Ehrenamtlich Tätige - Psychoseseminar, Schulprojekt, Angehörigengruppe)