Psychiatriereform 1975
Die Bewohner wurden wie Vieh gehalten
Sie galten als aggressiv, kaum ansprechbar, hoffnungslos: So erging es vielen Menschen, die vor der Psychiatriereform 1975 weggesperrt waren – zum Beispiel in Blankenburg. Wie geht es ihnen heute? Wir haben sie besucht
Thomas Mische, ehemaliger Patient in der Langzeitpsychiatrie Kloster Blankenburg
Thomas Mische, ehemaliger Patient in der Langzeitpsychiatrie Kloster Blankenburg
Rafael Heygster
Rafael Heygster
M. J. Huber
Aktualisiert am 04.12.2024
7Min

Zum Duschen müssen sich die Männer nackt als Gruppe führen lassen. Nachts werden manche ans Bettgestänge gefesselt. Tags stehen sie im kahlen, dunklen Flur und wippen vor und zurück oder trippeln rastlos auf der Stelle. Dieses Verhalten, Hospitalismus genannt, entwickeln Menschen, wenn sie zu lange keine Zuwendung erleben, keine Ansprache, keine Anregung.

Das war der Alltag der Menschen in der psychiatrischen Klinik im Kloster Blankenburg bei Bremen. So zeigte ihn 1985 der Dokumentarfilm "Rückkehr aus dem Niemandsland". Und so ging es überall in Deutschland in der Langzeitpsychiatrie zu. Die Patienten und Patientinnen wurden verwahrt, nicht gefördert, kaum betreut, oft über Jahrzehnte. Als "elend" und "menschenunwürdig" beschrieb 1975 die "Psychia­trie-Enquete" diese Lebensbedingungen.

Dann kam die Psychiatriereform. Als erstes Modellprojekt wurde die Psychiatrie Blankenburg aufgelöst. Die 300 Bewohner und Bewohnerinnen, die meisten von ihnen geistig beeinträchtigt, zogen 1988 aus dem abge­legenen ehemaligen Kloster ins Zentrum der Stadt Bremen: in Wohngruppen der AWO, der Inneren Mission und anderer sozialer Träger.

Wie geht es den Menschen heute, gut 30 Jahre später? Der Fotograf ­Rafael Heygster und der Autor Manuel Stark haben viel Zeit mit einigen von ihnen verbracht. Die beiden können nicht nachvollziehen, wie diese Menschen je die Diagnose "hoffnungslos" be­kommen konnten, wieso viele als "aggressiv" oder "kaum ansprechbar" beschrieben worden waren.

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Der comic zum Artikel ....
.. hier ein link dazu
https://www.schwarzwaelder-bote.de/inhalt.rottweil-comic-mit-brisanz.d97a9680-94b5-4186-bdff-41b2177ab48b.html

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Guten Morgen an die Redaktion,
ein allgemeines Kompliment für Ihre redaktionell stets sorgfältige Fotoarbeit in Ihren Heften! Mein besonderes Kompliment gilt aber der Bildstrecke „Aufgeblüht“ von Rafael Heygster: eine derart einfühlsam gestaltete Porträtarbeit sieht man selten, so sorgfältig und geschmackvoll inszeniert, so ein bildschönes Licht. Dennoch wirken diese Bilder wie selbstverständlich aufgenommen und gemacht.
Viele Grüße an den Autor
Gottfried Jäger

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Sehr geehrte Redaktion, vielen Dank für diesen sehr schönen und anregenden Beitrag von Manuel Stark (Text) und den Porträtfotos von Rafael Heygster, zwei jungen Menschen, denen es wunderbar gelungen ist, die Einzigartigkeit der in dem Artikel beschriebenen Menschen in Wort und Bild sehr einfühlsam darzustellen.
Ich wünsche den beiden Autoren weiterhin so gute recherchierte Berichte und viel Erfolg dabei! Danke!

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Sehr geehrter Herr Heygster,
sehr geehrter Herr Stark,
vielen Dank für Ihren o.g. Artikel über die Gott-sei-Dank 1988 aufgelöste Anstalt im Kloster Blankenburg, das übrigens bei Oldenburg liegt, und später zu einem Asylantenheim umfunktioniert wurde.
Im Rahmen meiner Ausbildung zur Krankengymnastin (1983 - 1986) hatte ich auch in jenem Hause einen sechswöchigen Einsatz zu absolvieren, dessen Sinn sich für meine Ausbildung bis heute nicht erschließt.
Die albtraumhaften Zustände, die Sie in Ihrem Artikel beschreiben, kann ich nur bestätigen. Sie reichten von kahlen, kalten, unpersönlichen Schlafsälen, in denen manche "Insassen" den ganzen Tag ans Bett gefesselt alleine oder zu zweit dahinvegetierten, bis hin zu gefühlsarmem, ungeschultem Personal. Nur mit dessen ausdrücklicher Erlaubnis durften wir KG-Schüler diese Patienten mit einem Spezialschlüssel "befreien" und hatten sie nach der Therapie wieder ordentlich zu fixieren. Unsere "Therapie" bestand eigentlich nur in Abwechslung-bringen und Aufmerksamkeit-schenken. Mit "meiner" Patientin, Gisela, habe ich aber auch im Turnsaal einiges Gelerntes ausprobiert mit Unterstützung durch meine damalige Tutorin.
Niemand vom Personal konnte oder wollte mir die Krankheitsgeschichte der mir zugeteilten Patientin erzählen. Erst nach mehrmaligem Betteln durfte ich die Krankenakte unter Aufsicht lesen. Die Lehrkräfte meiner Schule rügten mich sogar dafür (außer meiner Tutorin).
In jener Akte fand sich der Hinweis, daß Gisela als Kleinkind eine schwere Meningoenzephalitis erlitten hatte, die aber zu spät erkannt und behandelt worden war. Angeblich sollte sie dadurch auch taubstumm geworden sein. Stumm war sie sicher nicht, wie auch das Personal mitbekommen haben muß, wenn sie laut "mamama" schrie, um ihren Willen kundzutun. Taub war sie sicherlich auch nicht, da sie im Musikzimmer irgendwann das Xylophon mit mir entdeckte. Sie schlug einen Ton an und lauschte ihm nach, bis er verklungen war, um dann erst den nächsten anzuschlagen. Wieso hat niemand so etwas vorher mit ihr ausprobiert??? Wieso konnte sie verstehen, was ich von ihr wollte, wenn ich ihr den Rücken zudrehend sprach? ...
Es war eine sehr frustrierende Zeit für mich, zumal sich auch der damalige Klinikleiter von uns KG-Schülern Kommentare zu unserem Einsatz an seinem Hause wünschte, sie aber geflissentlich überhörte.
Umso erfreulicher ist es, daß ich einige der abgebildeten Patienten, vor allem aber ihre Geschichten, wiedererkannt zu haben glaube und es ihnen nun besser geht!
Mit freundlichen Grüßen

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Sehr geehrte Damen und Herren,
zu obiger Ausgabe erlaube ich mir Ihnen mitzuteilen, daß das Kloster Blankenburg, welches früher eine psychiatrische Einrichtung war und heute Asylsuchende betreut, ca. einen Kilometer vor den Toren Oldenburgs liegt und somit bestimmt nicht zum Einzugskreis Bremens gehört. Mit freundlichem Gruß Ralph Broch

Sehr geehrter Ralph Broch,
Vielen Dank für Ihren Hinweis. Kloster Blankenburg liegt in der Tat am Rande Oldenburgs, weit ausserhalb der Tore Bremens. Die damalige Psychiatrische Langzeitklinik war Aussenstelle des "Zentralkrankenhaus Bremen Ost" und dem Land Bremen zugeordnet, die ehemaligen Patient*innen sind im Zuge der Auslösung zurück nach Bremen gezogen.