"Frei will ich sein", schreibt PIa Kollbach in ihren Gedichten
Snezhana von Büdingen-Dyba
Autismus
Muss mich doch spüren. Bin ich noch da?
Autismus ist immer anders. Für Pia Kollbach heißt das: Einserabitur und Schriftstellerei. Aber sie kann sich kein Brot schmieren, sich nicht allein waschen. Nun möchte sie in ihre eigene Wohnung ziehen
Tim Wegner
Aktualisiert am 17.05.2024
13Min

Bei Familie Kollbach hängt mitten im Wohnzimmer eine Hängematte von der Decke. Sie ist rechts und links an einem Holzstab befestigt und formt ein riesiges U. Wann immer Tochter Pia nach Hause kommt und die Tür ins Schloss gefallen ist, geht sie schnurstracks zur Hängematte und setzt sich hinein. Sie beginnt zu schwingen. Nach hinten, nach vorn. Erst langsam, dann schneller und ­höher. Das Parkett darunter glänzt vom vielen Abstoßen.

"Can you feel it", singen die Jacksons aus den Boxen. Pia Kollbachs Lieblingsmusik. Sie schaukelt und jauchzt und lacht kurz auf. ­Mutter und Vater stehen daneben und lachen mit. Heute geht’s ihr gut. Heute.
Die Kollbachs wohnen in Leverkusen-­Opladen im eigenen Haus mit großem Garten, unten die 88-jährige Oma, darüber auf zwei Etagen Eltern und Pia. Die beiden Söhne sind längst ausgezogen.

Pia, die Älteste, ist 31, eine zarte, drahtige Frau mit feinen Gesichtszügen und schulterlangen dunkelblonden Haaren. Sie studiert Kulturwissenschaften an der Fernuni Hagen und hat ein Stipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes, die nur die Besten aufnimmt. Sie schreibt Gedichte, ab und zu wird sie zu Lesungen eingeladen und ist deshalb in Leverkusen ein bisschen bekannt. Sie träumt davon, später vom ­Schreiben leben zu können.

Sie kann nicht sprechen, nicht allein lesen

Die junge Frau versucht seit zwei Jahren, sich von zu Hause abzunabeln. "Frei will ich sein", schreibt sie in ihren Gedichten. Auch die ­Eltern finden, dass es Zeit ist, dass die Tochter selbstständiger wird. Eine eigene Wohnung steht schon bereit, aber der Übergang muss sanft sein. Sehr sanft.

Pia Kollbach ist Autistin. "Mein hirn hier ist häufig geflutet mit permanenten impres­sionen, die pressieren. Die sich wie besessen ins hirn pressen wollen. Völlig überfordert übe ich sagenhaften selbstschutz und versuche ­verzweifelt, einige eindrücke zu eliminieren." So hat sie es beschrieben. Schaukeln beruhigt die Nerven.

Pia Kollbach kann nicht sprechen und auch vieles andere nicht, was zu einem selbstbestimmten Leben dazugehört. Ihr Zugang zur Welt ist die Tastatur ihres kleinen Sprachcomputers, auf die sie mit dem rechten Zeigefinger tippt – auch das ist nur möglich, wenn ihre Mutter oder eine geschulte Begleiterin dabei Arm oder Hand stützen oder ihr die Hand auf die Schulter legen.

Sie hat das Abi mit 1,0 gemacht, aber kann sich nicht allein waschen oder anziehen, auch kein Wasser in ein Glas gießen und erst recht keine Knöpfe knöpfen. Bei Tagungen der Studienstiftung diskutiert sie über Medizinethik. Würde man sie allein lassen, würde sie die Schränke ausräumen, vielleicht Papier essen oder auf die Straße ­rennen und Gras in den Mund stecken. Pia Kollbach ist klug und hochbegabt – und verhält sich manchmal wie ein dreijähriges Kind.

Sie bremst jetzt abrupt ab, springt in der Wohnung der Eltern aus der Schaukel und läuft in die Diele. Sie kommt mit einem ­schwarzen Turnschuh zurück und hält ihn der Besucherin hin: Sie will raus. Ihre Deutschlehrerin vom Gymnasium hatte chrismon geschrieben, sie kenne da eine außer­gewöhnliche junge Frau, ob die vielleicht eine Geschichte wert wäre? Die Journalistin und Pia Kollbach kennen sich jetzt seit zwei Jahren, lange Zeit lief der Kontakt über Mail. Am Anfang stand das Du. Also: Pia, raus geht’s.

Sagenhaft der duft, der beseelt die luft
Verführerisch, beschwingt und frisch
so duften nur rosen, sie kommen nicht aus dosen.

Die farben sind ganz prächtig,
manchmal gar gesprächig
Erzählt das rot von liebe dir
Das gelb von sachter zuneigung hier
Weiß spricht leise, rosa ganz zart
Orange plappert, wo’s überall war.
So sprechen nur rosen, sie kommen nicht aus dosen.

Pia zieht die Besucherin an der Hand und mit staksigen Schritten energisch durchs Grüne vor dem Haus, zu hohen Kastanien, Rosen, Flieder, Glockenblumen, Rhododendron, Himbeeren, Erdbeeren, Kräutern, Gemüse. Weiter geht’s in die Nachbarschaft, vorbei an anderen Einfamilienhäusern, ­kleinen Wohnblocks und der freiwilligen Feuerwehr. Zwischendurch stoppt Pia immer wieder, zieht die Begleiterin an sich, vergräbt ihr Gesicht in ihren Haaren und atmet kräftig ein und aus.

"Lerne ich im leben leute neu kennen, schnuppere ich – oft genug irritationen hervorrufend – gerne an köstlichem kopfhaar. Sie dürfen dabei duftige duftmarke hinterlassen. Zu bedauern ist der umstand, dass einige menschen für mich zu groß gewachsen sind. Übrigens meine nase vergisst nie! Schnupper und erspüre ernsthaft sensibel sympathie und, ach, antipathie. Viele mitmenschen täuschen sympathie auch vor", hat Pia in einem Text 2011 notiert.

Als sie ein Baby war und auch mit eineinhalb Jahren nicht krabbelte und nicht plapperte, hatten Ärzte den Verdacht, dass eine schwere geistige Behinderung vorliegt. Die Eltern Brigitta und Georg Kollbach waren schockiert und doch fast froh, dass sie nicht mehr vertröstet wurden. Das Kind war so oft vermessen und gewogen worden, und keiner konnte oder wollte sagen, was los ist.

Eine Diagnose wie ein hartes Urteil. ­Schwere geistige Behinderung. Warum Pia? Warum? Schwangerschaft und Geburt waren doch gut verlaufen.

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Leseempfehlung
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Hallo Chrismon-Team!
Pia Kollbach hat ein Einserabi und sie schreibt gerne, aber den Alltag mit all seinen Haken und Ösen und all den ganzen Klein-Klein-Kram, den kann sie ohne (Fremd-)Hilfe einfach nicht bewältigen, aber irgendwie spürt sie, dass das Leben so auf Dauer auch nicht funktionieren und weitergehen kann.
Bisher wohnt sie bei ihren "alten" Eltern, die alles für sie machen; da leidet auch ihre Selbstständigkeit.
Ihre Lyrik ist dennoch eine wuchtige Wucht, und das in ihrer knappster Form auf den Punkt gebracht, das kann ich eigentlich nur vor Bewunderung riesig bewundern; einfach enorm!
Ihre Riggi Schwarz, Büchenbach

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Sehr geehrte Damen und Herren,
der Artikel über Pia Kollbach ist wunderbar geschrieben. Schade, dass Sie unter einem Bild den Ausdruck "angefixt" benutzen.
Das stößt ab. Man könnte genauso gut "begeistert " schreiben.
Das hat, entgegen Ihrer Meinung im gleichen Heft, nichts mit dem Alter, wohl aber mit Sprachgefühl zu tun.
Mit freundlichen Grüßen
R. Grimm
München

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Sehr geehrte Frau Keller,
Ihr Artikel über die Autistin Pia Kollbach hat mich sehr berührt und ich bin tief beeindruckt von dem Aufwand, den die Eltern treiben, um ihrer Tochter ein bestmögliches Leben zu ermöglichen. Respekt vor dieser Lebensleistung !
Ich frage mich allerdings, was es bedeuten soll, dass Pia ein Einser-Abitur hingelegt hat, wo sie nicht sprechen kann und Schreiben nur im Ein-Fingersystem mit externer Hilfe.
MfG
Oliver Vornberger

Ja, es ist wirklich schade, dass im Text nicht darauf eingegangen wird, dass die Kommunikation scheinbar nur über die wissenschaftlich widerlegte Methode der Gestützten Kommunikation (faciliated communication) funktioniert (so lese ich das aus dem Text), d.h. mit Berührung durch die Kommunikationshelfer. Studien haben gezeigt, dass tatsächlich der Kommunikationshelfer (unbewusst?) Autor der getippten Nachrichten ist. Bei den Studien wurde u.a. der non-verbalen Person ein Bild gezeigt, dem Kommunikationshelfer aber nicht. Über die Tippmethode konnte die non-verbale Person dann nicht mitteilen, was auf dem Bild zu sehen war. Gerade aus den USA gibt es viel Literatur dazu.
Inwiefern unterscheidet sich die hier im Artikel beschriebene Kommunikation davon? Ich hätte mir gewünscht, dass die Autorin dies problematisiert/beantwortet.
Der Familie wünsche ich alles Gute.

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Hallo liebes Chrismon-Team, hallo Frau Keller,
durch Ihren wunderbaren Artikel bin ich auf Pia Kollbach aufmerksam geworden: Sie ist eine ganz tolle Person und Lyrikerin! Ich kann nur jedem empfehlen, auf Pias Webseite vorbeizuschauen und weitere wunderschöne Stücke von ihr zu erkunden: http://www.simonkollbach.wixsite.com/piakollbach Und über die Webseite von Pia kann man auch ihre Lyrik-Büchlein erwerben.
Danke für diesen Artikel!
Mit besten Grüßen
M. Wochner

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Sehr geehrte Damen und Herren,

vielen herzlichen Dank für diesen hervorragenden Text, der zugleich mitfühlend und aufklärend ist ohne in die Nähe des Kitsches zu geraten. Respekt hierfür.

Respekt auch vor den Leistungen der Familie Koller, die ihr Kind annehmen und fördern und zugleich das Wagnis des Loslassens eingehen.

Respekt für Pia, die eine innere Zerrissenheit, die sich ein Dritter wohl kaum vorstellen kann, aushält und reflektiert.

Respekt aber auch für eine Gesellschaft, die Pia und ihre Familie nicht alleine lässt, sondern sie finanziell in vielfacher Weise unterstützt und nicht nach "lebenswert" oder "lohnend" fragt.

Kein Respekt jedoch für einen Staat, der seit 2020 nicht die Menschenwürde für unantastbar hält, sondern den "Gesundheitsschutz" und in dessen Namen Pias Leben rücksichtslos in den Grundfesten erschüttert wurde.

In der Tat: wir werden uns viel zu verzeihen müssen

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Sehr geehrte Frau Keller,
ich danke Ihnen ganz herzlich für den Artikel über Pia, der mir zufällig in die Hände gefallen ist. Ich bin Lehrerin für Sonderpädagogik und arbeite in einer Förderschule mit dem Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung. In meiner Klasse ist ein nicht sprechendes autistisches Mädchen, das ich hier Caro nennen möchte, bei dem das meiste zutrifft, was Sie über Pia geschrieben haben. Die ersten sechs Schulbesuchsjahre haben wir auch gedacht, dass es sich bei Caro um ein schwerstgeistigbehindertes Mädchen handeln würde. Erst vor ca. einem Jahr bekamen wir von ihrem neuen Therapeuten aus der örtlichen Autistenambulanz den Hinweis, dass Caro mithilfe der gestützten Kommunikation auf einem Talker schreiben und sich mitteilen könnte. Wir konnten es zunächst nicht glauben, waren skeptisch. Aber Caro hatte sich entschieden, auch in der Schule ihre neu erworbene Fähigkeit zu zeigen und anzuwenden. Zunächst schrieb Caro mit uns Lehrerinnen, die beantragte Assistenz arbeitet seit einem halben Jahr auf diese Weise mit ihr. Dass diese Art der Kommunikation funktioniert und nicht die Gedanken der Assistenz wiedergegeben werden, zeigen uns Caros besondere Ausdrucksweise und ihre Leistungen speziell in Mathe. Caro rechnet in Sekundenschnelle Aufgaben im Kopf aus. So teilt sie z. B. 6-stellige durch 3-stellige Zahlen und tippt das Ergebnis mit 2 Stellen hinter dem Komma in ihren Talker. Da wir zu dieser mathematischen Leistung nicht in der Lage sind, kontrollieren wir das Ergebnis mit dem Taschenrechner. Caro rechnet immer richtig.
Wir versuchen nun seit einigen Monaten eine Schulsituation für Caro zu finden, in der sie ihren Fähigkeiten entsprechend gefördert werden kann, denn ein Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung liegt definit nicht bei ihr vor. Da sie sehr geräuschempfindlich und in neuen Situationen so aufgeregt ist, dass sie nicht in der Lage ist zu kommunizieren, zusätzlich ihren Körper überwiegend nicht kontrollieren und für die meisten Alltagshandlungen Hilfe benötigt, stellen wir uns eine inklusive Beschulung unter den üblichen Rahmenbedingungen sehr schwierig vor. Könnten Sie mir evtl. Tipps geben, an wen wir uns wenden könnten, um Hilfe bei der Suche nach einer passenden Beschulung von Caro zu bekommen?
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.